Mark Rothko (eigentlich Markus Rothkowitz) wird 1903 in Daugavpils (heute Lettland, damals russisches Kaiserreich) in eine Apothekerfamilie hineingeboren. Er besucht eine traditionelle jüdische Grundschule, spricht Jiddisch, Hebräisch, Russisch, ist ein begabtes Kind. 1910 wandert der Vater wegen der zunehmenden Pogrome in die USA aus, und die Familie zieht drei Jahre später hinterher. In Amerika macht Markus in der Schule steile Karriereschritte: Er überspringt Klassen und erhält ein Stipendium an der Eliteuniversität in Yale, wo er Geschichte und Volkswirtschaft studiert.
Beenden wird er sein Studium jedoch nicht. Nach zwei Jahren bricht er mit den elitären (rassistischen) Strukturen und geht nach New York, wo er Kunst studiert, Bücher illustriert und vor allem: sich für Kunsterziehung engagiert. Innerhalb der Künstlergruppe New York School entwickelt er mit seinen Mitstreitern großartige, richtungsweisende Konzepte, die alle von der Überzeugung ausgehen, dass Kunst eine soziale Notwendigkeit und die frühe kreative Ausdrucksweise gesundheitsfördernd sei.
Damals (in den 1930er-Jahren) verkaufen sich Rothkos Bilder noch nicht zu jenen Rekordpreisen, die sie heute erzielen. Erst in den Fünfzigern schafft der Maler, der sich seit 1940 kurz Rothko nennt, den Sprung in den Olymp. Seine berühmten Riesenformate mit den zwei bis drei horizontal gestapelten Farbwolken entstehen, als er sich mit biblischen und mythologischen Motiven, mit der Weite Amerikas und des menschlichen Geistes beschäftigt. Rothko, seit 1938 amerikanischer Staatsbürger, lehnt dennoch alles Figurativ-Amerikanische in der Kunst ab. Und plötzlich hat er Erfolg in den Vereinigten Staaten.
In Europa ehrt ihn zum 50. Jahrestag seines Todes kein einziges Museum. Kein Wunder: Die meisten seiner ikonischen Werke sind in Privatbesitz, und die Sammler verleihen ihre Trophys selten und nur gegen exorbitant hohe Versicherungssummen.
In Deutschland fanden in den letzten 50 Jahren wenige große Einzelausstellungen zu Ehren des Malers statt (1971 in Berlin, 1988 in Köln, 2008 in München und Hamburg). Die Entfernung zu den meist in den USA befindlichen Schlüsselwerken verhindert oft das Zustandekommen eines Vertrags zwischen Sammlern, Museen und Versicherern. Kurzum: Viele Museen lassen lieber die Finger von den Colour-Field-Paintings.
Immerhin befinden sich in Deutschland fünf Hauptwerke Rothkos in den ständigen Sammlungen staatlicher Institutionen, so beispielsweise in der Staatsgalerie Stuttgart. Hell und heimelig-warm strahlt dort das Werk „Ohne Titel“ (1962) – Rothko verzichtete für gewöhnlich auf Werkbezeichnungen.
Kein Werk, kein Jubiläum?
In dem fast zwei mal zwei Meter großen Gemälde scheinen sich die zwei Farbfelder über die Grenzen des Bildes ausdehnen zu wollen, wie sich aufblasende Wolken, die vor einem dunklen Grund schweben. „Diese Möglichkeit von Eigenbewegung und Verräumlichung der Farbe erzielte Rothko dadurch, dass er die Leinwand nacheinander mit dünnen Malschichten tränkte“, erfährt der Besucher im Ausstellungskatalog. Und weiter: „Die atmosphärische Schwerelosigkeit und wie von innerem Licht erhellte Transparenz der Farben bewirken eine religiös-meditative Gestimmtheit. Rothko wollte, dass der Betrachter sich ganz in diesen ‚kontemplativen Raum‘ hineinbegebe.“
Wer sich nach Stuttgart begibt, hat also die Chance auf eine Rothko-Kontemplation, bei der Sammler und Liebhaber seiner Kunst so ins Schwärmen geraten. Und im Grunde reicht dazu auch ein einziges Werk des Malers aus, Man braucht keine 20. Einzig: Rothko wollte nie mit Werken anderer ausgestellt werden. Am liebsten hätte er für jedes seiner Bilder einen eigenen Raum gehabt, in den man sich dann wie in eine Kapelle zurückzieht. Und noch etwas – das ganz gewiss – hätte dem Maler an den aktuellen Umständen in Museen nicht gefallen: dass heute Versicherungssummen darüber bestimmen, welche Ausstellung gemacht wird.
Etwas mehr Einfallsreichtum zum Jahrestag seines Todes hätte man von dem einen oder anderen Museumsmacher hierzulande also erwarten dürfen – gerade weil Rothko Zeit seines Lebens für die innovative Kunstvermittlung viel übrig hatte. Man hätte am 25. Februar ohne Weiteres mit Themenführungen oder Workshops seines Todes gedenken und seine Anliegen aufs Neue zur Sprache bringen können.
Allerdings gilt anscheinend: Wenn keine Werke zu bekommen sind, gibt es kein Jubiläum zu feiern. No picture, no story?
Aus der Staatsgalerie Stuttgart erhielten wir bis Redaktionsschluss (TE Magazin, Ausgabe 03-2020) keine Rückmeldung. Falls keine Antwort auch eine Antwort ist, dann, liebe Museen, müsst ihr nicht klagen über den bösen Kunstmarkt, der euch wegen der explodierenden Preise (Rothkos bisher teuerstes Kunstwerk kam für rund 80 Millionen Dollar unter den Hammer) von reichen Sammlern abhängig macht, der euch die Arbeit erschwert, gewiss! Aber der euch auch automatisch lähmt bis zur Handlungsunfähigkeit?
Weniger horten, mehr handeln
Museen, sollte man meinen, müssten Sammlern immer noch in einigen Aspekten überlegen sein. Was aber zeichnet ein Museum im 21. Jahrhundert aus? Im Monopol-Podcast zum Thema Zukunft der Kunst und der Museen waren sich im Januar die Experten überraschend einig: Wichtig würden für ein Museum künftig die Menschen und Mitmachprojekte. Weniger das Horten, mehr das Handeln. Gerade im Zuge steigender Preise am Kunstmarkt müssten sich Institutionen einem
Funktionswandel gegenüber öffnen: hin zu Communitycentern – oder schicker: zu Clubs, in denen man sich unterhält, bildet, seinen Horizont erweitert (und auch seinen Freundeskreis).
Rothko hätte dieser Hack gefallen. Er selbst war schließlich nicht nur durchgeistigt, sondern umtriebig und unaufhaltsam (in Yale gab er das Satiremagazin „The Yale Saturday Evening Pest“ heraus, das die bourgeoisen Beaux verhöhnte). Rothko war ein Philosoph mit Pfeil und Bogen. Ein Intellektueller, der sich für Frauen- und Arbeiterrechte engagierte.
Ins Museum statt ins Restaurant
Am Tag seines Freitods traf der Bildzyklus „Seagram Murals“ in der Tate in London ein. Rothko hatte die Werkserie dem Londoner Museum geschenkt, statt sie dem Luxusrestaurant Four Seasons im Seagram-Gebäude (benannt nach dem Spirituosenunternehmen) zu überlassen. Das Restaurant hatte die Arbeiten in Auftrag gegeben, doch konnte sich Rothko mit dem Bestimmungsort nicht anfreunden, als er die darin sitzenden Gäste („bourgeoise Fresser“) sah. In der Tate hängen die Werke noch heute. Und tatsächlich hat man ihnen einen eigenen Raum eingerichtet.
Neben der Tate, die diese Bilder permanent ausstellt, sei eine Schau in der Geburtsstadt des Künstlers empfohlen. Dort werden fünf Originale gezeigt: ein ikonisches „Multiform“ (aber das reicht, man muss wie gesagt nicht 20 davon be- trachten) und frühe figurative Arbeiten des unter anderem vom Surrealismus inspirierten Malers sowie rund 40 Reproduktionen. Letztere scheuen die Entscheider hierzulande wie der Teufel das Weihwasser. Aber wenn sie einer kunsterzieherischen Sache dienen, wenn der Kontext stimmt und der Besucher gleichzeitig in den Genuss von Originalen kommt, würde sich Mark Rothko deswegen bestimmt nicht im Grabe umdrehen.