Tichys Einblick
Merkels und der EU Mitverantwortung für Fehlentwicklungen in der Türkei

Erdogan-Türkei: Merkels Mitschuld!

Zwei schwere Niederlagen der Erdogan-Türkei in Straßburg, der Anstoß, eine islamische Verfassung in der Türkei zu implementieren, und massive Angriffe gegen die kurdische Minderheit - handgreifliche Tumulte im Parlament. Merkel und EU fördern mit ihrem Schweigen und immer wieder großen Bahnhöfen für Erdogan seine massiv antidemokratischen und antirechtstaatlichen Vorstöße.

Der europäische Menschenrechtsgerichtshof hat diese Woche gleich zwei Mal gegen die Türkei entschieden: Die Türkei behindert ihre Oppositionsparteien essentiell und verstößt gegenüber der alevitischen Minderheit im Land massiv gegen deren religiöse und sonstigen Rechte. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und die Religionsfreiheit schwinden und die ethnische Minderheit der Kurden wird in der Türkei drangsaliert. Und was ist denn nun mit der Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes an den Islamischen Staat, von der die Zeitung Cumhuryiet berichtete, deren Chefredakteur seither in einem türkischen Gefängnis sitzt und zu lebenslänglicher Haft verurteilt werden kann?

Die Strassburger Richter über die Türkei:

  1. Die Behandlung der früher einmal selbstverständlichen Regierungspartei der Türkei, der kemalistisch-sozialdemokratisch-republikanischen Partei, der Cumhuriyet Halk Partisi, die heute die wichtigste Oppositionspartei ist, durch den Erdogan-Apparat verstößt fundamental gegen Vorschriften der europäischen Menschenrechtscharta.
  2. Der türkische Staat verletzt dem Strassburger Gericht zufolge die Vorschriften der Menschenrechtscharta zu Lasten der alevitischen Minderheit in der Türkei.

Dicker kann es für ein Land, das den Anspruch hat, als zivilisiertes Mitglied der Völkergemeinschaft wahrgenommen zu werden, nicht kommen. Die politischen Parteien sind in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten der EU, in die Erdogans Türkei sich hineindrängt, Essentials der Demokratie und des Verfassungssystems. Pluralismus wird vermittels freier Meinungsäußerung außerhalb und innerhalb von Parteien gelebt. Die Parteien müssen nach deutschen Verfassungsgrundsätzen  – und so verhält es sich  im Prinzip in allen westlichen Demokratien – ihrerseits im Inneren demokratisch organisiert sein.

Die Urteile des Strassburger Gerichtes haben wie jedes Urteil eine Doppelwirkung. Sie schreiben im Prinzip einen Lebenssachverhalt, der mühselig sorgfältig eruiert wurde, fest und sie liefern die rechtliche Beurteilung. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Erdogan-Partei behindert durch Maßnahmen des von ihr beherrschten Staatsapparates die Atatürk-Partei, die Cumhuriyet Halk Partisi, in ihrer gleichberechtigten politischen Arbeit und sie hindert diese Partei daran, ihre Oppositionsarbeit ungestört auszuüben.

Prima facie darf man wohl als gegeben ansehen, dass die strikt laizistisch unislamisch ausgerichtete Cumhuriyet Halk Partisi das Erdogansystem vor allem ganz aktuell besonders stört, weil sie der von Erdogan intendierten Implementierung einer grundsätzlich neuen Verfassung rein von der Zahl ihrer Mandate her gemeinsam mit anderen Oppositionsparteien, einem Verfassungsdurchmarsch im Wege steht. Und auch, weil sie argumentativ die türkische Öffentlichkeit an ein Hinüberdämmern in ein Erdogan-System hindern könnte. Doch beide Strassburger Urteile machen erneut deutlich: Die Erdoganisierung der Türkei ist relativ weit fortgeschritten.

Will Erdogan in Wahrheit doch eine islamische Verfassung?

Ob der türkische Parlamentspräsident und Parteifreund von Erdogan, Ismail Kahraman, nun einen geplanten abgesprochenen Versuchsballon losgelassen hat, wie der Tagesspiegel vermutet, damit Erdogan ihn gleich wieder einfangen kann, wird man vielleicht nie erfahren.

Tatsache ist, dass just in diesem Moment der türkische Parlamentspräsident den Gedanken, dass die geplante neue Verfassung, für die es eigentlich keinen Anlass oder Grund gibt, eine islamische Verfassung sein sollte, öffentlich lanciert hat.

Was immer eine islamische Verfassung sein könnte, Erdogan hat den Gedanken des Parlamentspräsidenten sofort verworfen, ebenso haben sich andere Parteimitglieder geäußert.

Erdogan hat allerdings nicht gesagt, dass es auch in der neuen Verfassung bei der strikten Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften bleibt, sondern er hat gesagt, dass der Laizismus auch in der neuen Verfassung steht, allerdings kein „militanter Säkularismus“, wie ihn Staatsgründer Kemal Atatürk verordnete oder wie er in Westeuropa üblich sei, sondern ein „libertärer Säkularismus“ die neue Verfassung prägen sollte. „Libertär“ für sich klingt gut. Ein Laizismus, der auch noch, außer, dass er existiert und Basta, zusätzlich libertär ist, ist zwar verdächtig, aber klingt trotzdem gut.

Wenn das Wort „libertär“ allerdings in Abgrenzung zu einem „militanten“ Laizismus kommt und das Wort „militant“ seinerseits so pervertiert wird, dass es als die richtige Zustandsbeschreibung etwa des deutschen Grundgesetzes erscheint, dann allerdings ist die „Liberalisierung“ des Laizismus a la Erdogan das Gegenteil dessen, was die Worte vorgeben. Wenn das Erdogansystem so „liberal“ ist, dass es ganz „liberal“, frank und frei nach eigenem Gutdünken und Eigennutz über Existenz und Nicht-Existenz des Laizismus oder der Säkularität des Staates entscheidet, dann macht es keinen Sinn mehr von einem profanen Staat daher zu reden. Sondern dann handelt es sich längst um eine etatistisch religiöse Kombi-Autokratie.

In der Türkei gibt es einen großen weithin verdeckten, wachsenden wechselseitigen Einfluss der Staatsreligion Islam und des Staates aufeinander. Die Türkei bezahlt die Imame der sunnitischen Mehrheitsreligion und fördert die sunnistisch orientierte Ausbildung in den Schulen. Ein alevitisches Pendant gibt es in den Schulen nicht. Entsprechende Gelder gibt es für Aleviten nicht, um nur ein kleines Beispiel der Ungleichheit der beiden Religionen zu nennen.

Der staatliche türkische Einfluss auf die Religion reicht bis tief in die Bundesrepublik hinein. Man kann sagen, Erdogan unterhält ein intensives Verhältnis zu den Deutschen mit türkischer Abstammung und zu deren religiösen Einrichtungen und nutzt diesen Einfluss. Merkels fataler politischer Fehler: Sie verwechselt Türkei-Politik mit der von ihr tatsächlich betriebenen Erdogan-Politik. Sie lässt sich von Erdogan über den Tisch ziehen. Merkel und die EU unterlassen es sträflich leichtfertig, Erdogan an die europäischen Spielregeln zu binden und notfalls auch Sanktionen durchzusetzen.

Ob sich Erdogan unter solchen Umständen von den Straßburger Entscheidungen groß bekümmert fühlt, muss wohl eher bezweifelt werden. Der europäische Menschenrechtsgerichtshof sollte jedoch nicht zu einem bloßen Laber-und Debattierclub denaturieren. Das tut er aber, wenn ein Land wie die Türkei, das bei der europäischen Menschenrechtskonvention mitmacht, den Menschenrechtsgerichtshof als Alibi vor sich herträgt und auch erwartet, dass er die anderen Länder kontrolliert, selber aber willkürlich herumholzt und sich um die Menschenrechte und konkret um Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes nicht schert.

Und genau da liegt der dicke Hase begraben: Wenn eine Rechtsordnung Rechtsbruch duldet, dann ist regelmäßig nicht mehr der punktuelle Rechtsbruch das Problem, sondern dann wird die Rechtsordnung selber zum Problemfall. Wenn die Türkei per obiter dictum, unanfechtbar, vom höchsten zuständigen europäischen Gericht schwerer konstitutioneller Rechtsbrüche überführt und verurteilt wird und die anderen Konventionsstaaten fröhlich dazu schweigen, dann wird ihr Schweigen, ihr Unterlassen, da sie sich ja zur Verteidigung der Menschenrechte explizit zusammengeschlossen haben, zu einem aktiven Tun, dann werden sie durch Dulden und indirektem Fördern selber zu Rechtsbrechern.

Die Erdogan-Türkei hat nicht nur die Menschenrechte im eigenen Land angegriffen, sondern greift damit uno actu auch die Menschenrechte in ganz Europa an. Die 28 Regierungen der EU-Länder und die weiteren Länder, die den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof tragen, machen sich zum Büttel Erdogans und beschädigen mit ihrem Schweigen und Drüberwegsehen die europäische Rechtsordnung und zwar ganz massiv und dies nicht erst seit heute.

Im Juni 2013, als die Proteste in der Türkei gegen Erdogan losgingen, die Flüchtlingskrise war für die Meisten noch nicht in Sicht, war das Verhalten Erdogans gegenüber Europa auf demselben Dreistigkeitsniveau wie heute. Vor fast drei Jahren, als die Sorge der Türken in offenen Widerstand umschlug, habe ich, wie auch andere Kollegen, festgestellt: „ Je offener die Tore der EU Richtung Türkei aufgestoßen wurden, desto feindseliger und dynamischer gestaltet sich Erdoğans Politik gegen Europa. Oder umgekehrt: Je dreister Erdoğan Europa vorführt, desto freundlicher und unterwürfiger fallen die Einladungen Europas Richtung Türkei aus.“

Völkermord an den Armeniern
Erdoganopel: Knickt Europa vor Erdogan ein?
Die Merkelsche Erdogan-Politik (Dulden, Schönreden, Verschweigen, Nichtansprechen, Herunterspielen) ist damit de facto, auch wenn sicher nicht intendiert, ihrerseits ein eigener Angriff auf die europäische Menschenrechtskonvention. Es verhält sich hier nicht anders als in der Merkelschen Politik zum türkischen Genozid gegen die Armenier. Um die anerkannte historische Tatsache dieses Genozides eiern Merkel, Steinmeier, Obama und co. (anders als der Grünenpolitiker Cem Özdemir) in völliger Verkennung der Tatsache herum, dass der Vertragspartner Türkei heißt und nicht Erdogan. Auch die Merkelsche Politik im Fall Böhmermann, in dem sie sich bereits entschuldigen musste und ihre juristisch recht schwierige „Ermächtigung“ erteilt hat, ist ein Symptom für die schiefe Politik Europas gegenüber Erdogan.

Erdogans Einfluss beschränkt sich eben nicht nur auf die Verhältnisse in der Türkei. Dilek Dündar, Journalistin und Ehefrau des inhaftierten und gerade zu einer hohen Geldstrafe verurteilten Chefredakteurs der Zeitschrift Cumhuriyet, Can Dündar, dem in weiteren Prozessen eine lebenslange Haftstrafe droht, hob vor kurzem bei ihrem Besuch in Europa hervor: Europa müsse darauf achten, dass die Türkei unter Erdogan nicht die westlichen Werte komplett abschaffe.

Auch Can Dündar selbst hatte Merkel am letzten Wochenende kurz vor ihrem Besuch in der Türkei mit einem offenen Brief versucht, aus ihrem Schweigen herauszuholen : „In der Türkei herrscht ein Kampf zwischen Demokraten und Autokraten“(…) „In dieser historischen Schlacht stehen Sie und Ihr Land leider auf der falschen Seite.“(…)“Werden Sie erneut so tun, als gäbe es hier keine Repression?“

Dilek Dündar, die im April in Berlin vor Erdogans Durchmarsch warnte, sieht in Erdogan eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie in der Türkei. Ihr Mann und der Hauptstadtleiter der Cumhuriyet, Erdem Gül, sind deswegen inhaftiert worden, weil sie mit Fotos belegt, über mutmassliche „Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an Islamisten im syrischen Bürgerkrieg, getarnt als medizinische Güter“ berichtet hatten.

Was taugt Merkels Türkei-Deal?

Und das ist auch so ein Punkt, der von den deutschen Leitmedien genauso wie von der deutschen Politik wie irrelevant behandelt wird. Was ist eigentlich mit diesem Bericht der Cumhuriyet? Hat die Bundesregierung, haben die deutschen Medien, die sonst ihre Nase gern in alles reinstecken, diese Sache seriös verfolgt, nachrecherchiert, nachgefragt? Oder wird das Ganze als ein innenpolitisches Problem der Türkei behandelt?

Das ist eine Frage, die die Bundesregierung im Angesichte ihrer Erdogan-Politik als Bringschuld der deutschen Öffentlichkeit gegenüber zu beantworten hat: Geht es also „nur“ um einen Presseskandal der Türkei und die Inhaftierung des Chefredakteurs Can Dündar oder geht es Frau Merkel, Herr Steinmeier, auch um die Sache selbst?

Hat es Waffenlieferungen eines Nato-Partners an Terrororganisationen gegeben? Ja oder Nein. Und was bedeutet das? Was hängt von der Beantwortung dieser Frage ab?

Wie schwierig die Lage der kurdischen Minderheit in der Türkei ist zeigte sich gerade jetzt, als im türkischen Parlament, das gerade hastig die von Merkel zugesagte Visa-Freiheit auf türkischer Seite gesetzlich auf die Schnelle durchwinken sollte, die ethnischen Spannungen handgreiflich wurden. Auch diese Seite des Geschehens ignoriert Merkel eiskalt.

Die Satiriker des freien Westens legen jedenfalls nach. Wie de Telegraph in den Niederlanden, dessen Erdogantitel sogar von der Washington Post flugs vervielfältigt wurde oder ganz aktuell von Martin Sonneborn, der in Brüssel auf großer Bühne Erdogan des Völkermordes an den Kurden bezichtigte.

Merkel muss ihren politischen Verstand verloren haben. Sie checkt offenbar nicht, dass sie mit ihrer Erdogan-Politik, die eben gerade keine Türkei-Politik ist, weil sie zu allem Überfluss auch nicht die türkischen Interessen im Auge hat, wie ein Elefant im Porzellanladen herumtrampelt. Der Geist, den Böhmermann aus der Flasche gelassen hat, und das ist auch sein Verdienst, kriegt Merkel nicht wieder rein in die Flasche. Jedenfalls nicht so, wie sie es mit ihrer Aussitzerroutine anstellt.

Merkel wird von vielen Seiten übel genommen, dass sie Erdogan Wahlhilfe geleistet hat und auch damit einen Schub in die falsche politische Richtung erzeugt hat. Die Eskalationsspirale, die Erdogan losgedreht hat, zeugt von einem hohen Maß an Selbstüberschätzung. Das sehr stabil wirkende Erdogan-Kartenhaus kann durchaus zusammenbrechen. Jedenfalls wenn die europäischen Unterstützer wegbrechen.

Und was taugt Merkels Türkei-Deal angesichts der aktuellen Entwicklung? Er taugt noch weniger, als er beim Abschluss ohnehin schon nicht wert war.  Man weiß auch nicht, warum Merkel immer in die Türkei reist, statt Erdogan antanzen zu lassen.

Die mobile Version verlassen