Renten- und Krankenversicherungen haben Probleme, wenn kein Geld da ist – und noch größere, wenn die Kasse überquillt. Warum bloß?
Es hat wie so vieles mit Konrad Adenauer angefangen: Er gilt als Vater der dynamischen Rente von 1957; sie gilt als Musterbeispiel einer gelungenen Sozialreform. Es waren die Jahre des Wirtschaftswunders; Adenauer beteiligte die Rentner an den Erfolgen. Aber von Anfang an war der Wurm drin. Entgegen den Plänen des Wirtschaftswissenschaftlers Wilfrid Schreiber, der das Umlageverfahren konzipiert hatte, wurden die Renten weit höher als ursprünglich geplant gesteigert. Der weitsichtig eingebaute Demographiefaktor des Schreiber-Plans wurde abgeschafft und höhere Beitragssätze für Kinderlose, die Schreiber als Teil des Generationenvertrags gefordert hatte, gestrichen. Es war Wahlkampf, und Adenauer wollte die SPD ausstechen, die noch höhere Leistungen gefordert hatte.
Man muss die alte Geschichte so lang erzählen, weil sie so neu ist – sie zeigt das beständige Muster der Sozialpolitik: Wenn die Kasse voll ist, wird sie leer gemacht, auch wenn alle mit Sinn und Verstand davor warnen. Ist sie ratzeputz leer, wird etwas gespart; aber sobald auch nur ein Bodensatz in der Kasse liegt, werden neue Benachteiligte erfunden, die unbedingt beglückt werden müssen, auch wenn absehbar ist, dass es morgen schon wieder vorn und hinten nicht reichen wird und übermorgen gekürzt werden muss – was dazu führt, dass für die, die wirklich Hilfe bräuchten, leider, leider nichts mehr da ist. So wird ausgeteilt, umverteilt, zurückgenommen, gesteigert und gekürzt, bis am Ende alle ärmer sind.
Die letzte wirklich große Rentnerbeglückung gab es 1972; im Bundestagswahlkampf wurden gleichermaßen die Ausgabenwünsche von CDU und SPD erfüllt – Wahlkampfneutralität in der Rentenversicherung. Seither folgt ein Sparprogramm dem anderen. Erholt sich die Kasse, wird sie sofort ausgekehrt. Norbert Blüm erfand 1997 zum Einsparen Schreibers Demografiefaktor neu; Gerhard Schröder schaffte ihn im Zwischenhoch 1998 wieder ab, um ihn schon 2004 wieder neu zu erfinden; gerade war die Kasse wieder knapp geworden. In diesen Tagen ist unsere famose Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen in die großen Latschen von Norbert Blüm und Konrad Adenauer geschlüpft und hat die „Zuschussrente“ erfunden; zufällig liegt gerade Geld in der Rentenkasse und im kommenden Jahr sind wichtige Wahlen.
Wegen des Rückgangs der berufstätigen Bevölkerung und der Zunahme der Rentnerzahlen müssten für diesen Plan jene zahlen, die zukünftig selbst viel niedrigere Renten erhalten werden. Die einzige Spezies neben den Lemmingen, die aus Fehlern nichts lernen, sind die Sozialpolitiker, könnte man meinen. Aber das wäre verharmlosend – längst ist die Sozialpolitik zum systemischen Risiko für unsere Gesellschaft geworden, weil Sozialbeiträge zu Wahlkampfzwecken eingesetzt werden.
Dabei gibt es klare Alternativen: Die beste wäre sicherlich, die angesammelten Mittel in Renten- wie auch Krankenversicherung gut anzulegen für den Tag, an dem die Konjunktur schlecht, das Beitragsaufkommen niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch ist. Dagegen spricht: Die Sozialkassen dürfen ihre Mittel nur als mündelsicher und damit extrem niedrig verzinst anlegen – seit der Euro-Krise ein Verlustgeschäft, weil die Inflation mehr wegfrisst, als die Mickerzinsen hergeben.
Unsere Beispielrechnungen zeigen, wie Lebensversicherte, Riester-Rentner und Sparer buchstäblich enteignet werden, wenn die Euro-Rettungs-Niedrigzinspolitik anhält. Frei von Not und Sorge sind nur Pensionäre und Politiker; für jeden Normalbürger wird die Geldanlage zur großen Kunst und Notwendigkeit.
Also ist es wohl die beste Lösung, das Geld an die Versicherten auf dem Wege niedriger Beitragssätze oder Prämienrückerstattung zurückzugeben. Denn Politikern volle Kassen anzuvertrauen ist mindestens so leichtsinnig, wie einen Mops mit der Verteidigung eines Wurstvorrats zu betrauen, wusste schon der große Nationalökonom Joseph Schumpeter.
(Erschienen auf Wiwo.de am 08.09.2012)