Was ist passiert? Nach bisherigen Erkenntnissen tötete der Hanauer Tobias Rathjen in einer Sisha-Bar und in einem Imbiss in Hanau neun Menschen, und floh danach mit seinem Auto, einem schwarzen BMW, in seine Wohnung. Dort tötete er seine Mutter und sich selbst. Sein Vater konnte nach RTL-Informationen unverletzt zur polizeilichen Befragung abgeholt werden.
Wer ist der mutmaßliche Täter?
Tobias Rathjen, der 10 Menschen in Hanau und anschließend sich selbst tötete, wurde 1977 in Hanau geboren. Über seinen Vater heißt es bei RTL: „Anders als zuvor berichtet, ist der 72-Jährige kein Mitglied der Grünen, sondern stand vor ein paar Jahren als Kandidat auf der Liste der Grünen.“ Über Verbindungen Rathjens zum organisierten Rechtsextremismus ist bisher nichts bekannt. Offenbar zwei Tage vor der Tat nahm Rathjen ein (mittlerweile öffentlich nicht mehr zugängliches) Video auf, in dem er sich auf Englisch und mit einer im Klang manipulierten Stimme an „all Americans“ wendet. Darin spricht er von Morden an Kindern, die in unglaublicher Zahl und staatlich geduldet stattfinden würden. Er ruft sein Publikum auf, sich darüber zu „informieren“ und dann zu „handeln“. In dem Video benutzt er den Begriff „mainstream media“. Der Inhalt des Videos ist wirr und verschwörungstheoretisch. Bezüge zum Rechtsextremismus sind nicht vorhanden.
Es gibt offenbar neben dem erwähnten Video auch ein Bekennerschreiben, das Bild vorliegt. Der Terror-Experte Peter R. Neumann beurteilt dieses auf Twitter. Demnach sei es in gutem Deutsch verfasst, der Verfasser deutet an, an einer Universität studiert zu haben. Er hasse Ausländer und Nicht-Weiße. Er spreche nicht explizit vom Islam, fordere aber die Auslöschung von Ländern in Nordafrika, dem Nahen Osten und Zentralasien.
Er bekennt sich außerdem dazu, in 18 Jahren keine sexuelle Beziehung gehabt zu haben. Wichtig zum Verständnis seines Geisteszustandes sei, dass sich Rathjen sein ganzes Leben lang von einem Geheimdienst verfolgt fühlte. Außerdem hätten Prominente von Donald Trump bis Fußballtrainer Jürgen Klopp seine Ideen gestohlen.
Dies weise auf eine ernsthafte psychische Krankheit hin. Insgesamt mache der Autor des Schreibens den Eindruck den Eindruck eines Menschen, der seine Nächte mit Verschwörungsvideos auf YouTube verbracht habe.
Der Profiling-Experte Mark T. Hoffmann sagte gegenüber Bild: „Er scheint ein Einzelgänger gewesen zu sein, der sich im Internet seine eigene Ideologie zusammengebaut hat.“
Gibt es Ähnlichkeiten zu anderen Tätern und Taten?
Ja: zu Stephen Balliet, dem Attentäter, der am 9. Oktober 2019 versuchte, in die Synagoge von Halle/Saale einzudringen, um dort mit selbstgebauten Waffen ein Blutbad anzurichten. Als ihm das nicht gelang, erschoss er ein Zufallsopfer auf der Straße und eines in einem nahegelegenen Imbiss. Auch Balliet nahm ein Video auf Englisch auf, in dem er eine Ansprache an ein imaginäres Publikum richtete. Nach Erkenntnissen des Bundesamts für Verfassungsschutz unterhielt Balliet keine Verbindungen zu organisierten Rechtsextremisten, aber zu Chatgruppen, in denen verschwörungstheoretische Inhalte kursierten. Sein Hass richtete sich nach eigenen Bekenntnissen vor allem gegen Juden und Feministinnen.
Welche Reaktionen gibt es?
Bild schreibt – allerdings ohne Belege – von einer „rechtsradikalen Bluttat“. „Nach unseren jetzigen Erkenntnissen ist ein fremdenfeindliches Motiv durchaus gegeben“, wird der hessische Innenminister Peter Beuth im Spiegel zitiert. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof übernimmt nach dessen Informationen aufgrund der besonderen Bedeutung des Falls die Ermittlungen.
Die Polizei Südosthessen warnte vor Spekulationen über rechtsextremen Hintergrund oder zusammenhänge mit rechtsextremistischen Gruppen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in einer ersten Stellungnahme: „Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift.“ Dieses Gift sei „schuld an schon viel zu vielen Verbrechen“. Sie erwähnte die Morde der rechtsextremistischen Terrorvereinigung NSU, die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und den antisemitischen Anschlag von Halle.
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte, sie fühle sich in ihrer Haltung bestärkt, dass es keine Zusammenarbeit geben dürfe mit einer Partei, die „Rechtsextreme, ja, ich sage auch ganz bewusst Nazis, in ihren eigenen Reihen duldet und die eine Grundlage legt, auch in der politischen Diskussion, für genau dieses Gedankengut.“ Sie wies auf den CDU-Beschluss hin, nicht mit der AfD zu kooperieren: „Wie wichtig es ist, diese Brandmauer zu halten, das sieht man an einem Tag wie Hanau.“
Verbindungen des Täters Tobias Rathjen zur AfD sind bisher nicht bekannt.
Der Grünen-Politiker Cem Özdemir verrührte in seinem Statement den zehnfachen Mord von Hanau mit einem Angriff auf den früheren Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen: „Ich bin entsetzt und traurig. Allen Angehörigen der Opfer dieser schrecklichen Tat wünsche ich viel Kraft und danke allen Einsatzkräften und Menschen, die ihnen in dieser Zeit beistehen. Wir müssen über rechtsradikalen Terror reden und dann bitte auch darüber, dass an der Spitze des Verfassungsschutzes über Jahre ein Hans-Georg Maaßen saß. Wie ernst war der Kampf gegen rechte Netzwerke und Strukturen in diesem Land wirklich?“
Richtig ist, dass Maaßen in seiner Amtszeit als Verfassungsschutzpräsident eine eigene Abteilung Rechtsextremismus aufgebaut hatte, die vorher in dieser Eigenständigkeit nicht existiert hatte. Außerdem war Rathjen nach bisherigen Erkenntnissen noch nie polizeilich aufgefallen – ebenso wie übrigens der Halle-Attentäter Stephen Balliet. Özdemir verbreitet also Beschuldigungen ohne Substanz.
Auch die bayerische Grünen-Politikerin Katharina Schulze instrumentalisiert die Taten von Hanau für ihre Agenda. Schulze fordert mit Bezug auf die zehn Morde die Überwachung der gesamten AfD durch den Verfassungsschutz.
Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckart sagte über Twitter: „Der Täter von Hanau handelte offenbar aus rassistischen Motiven und wollte durch diese furchtbaren Morde gezielt Angst und Schrecken verbreiten. In meine Trauer mischen sich Entsetzen und Wut. Meine Solidarität gilt den Betroffenen.“ Nach dem Anschlag auf dem Breitscheidtplatz im Dezember 2016 hatte sie auf solche Spekulationen verzichtend getwittert: „Das ist eine furchtbare Nachricht. Trauer und Mitgefühl. Nichts sonst jetzt!“