In dem Kreyss haben sie ihre Kleyder abgelegt, den Leib mit einem Schurz gegürt und mit sonderm Gesang und Ceremonien sich über Rücken mit den Geißeln blutrünstig geschlagen. Seynd darnach uffs Angesicht plötzlich niedergefallen, haben mit weinenden Augen ihr Gebet verricht, männiglich zur Buße vermahnt, und da sie wieder auffgestanden, obberührten Brieff öffentlich verlesen und jedermann eingebildet, derselbe sey vom Himmel kommen.
So war das damals, im Mittelalter mit den Geißlern – hier in einem Bericht aus Speyer. Geißler, das waren jene Flagellanten, die sich öffentlich selbst quälten, auf dass ihre Sünden vergeben würden und sie das ewige Leben erreichen sollten. Der moderne Geißler von heute sitzt im gemütlichen TV-Studio und sinniert: Ja, das Leben ist so schlecht fürs Klima! Er schlägt vor, dass andere sich quälen, damit alle das Himmelreich erreichen, das heute Klimaneutralität heißt und ebenso unerreichbar bleibt.
Waren in früheren Zeiten die Leute froh, mit dem Ausbau des Stromnetzes eine preiswerte und allzeit verfügbare Energiequelle zu haben, kann es heute den Allzusatten nicht schnell genug gehen, sie wieder abzuschalten. »Wer schafft es schneller?« Nur darum gehe es, sagt Marie-Luise Wolff. Die hat Anglistik und Musikwissenschaft studiert und ist Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), dazu noch Vorstandsvorsitzende der ENTEGA AG in Darmstadt. Beide Institutionen sind von grünem Geißlertum beseelt.
In Darmstadt hat einst als große Errungenschaft gegolten, dass Bürger die Energieversorgung der Stadt aus eigenem Antrieb aufgebaut haben. Heute soll sie so schnell wie möglich in Wind- und Solarenergie umgebaut werden, wobei Gaskraftwerke die Arbeit übernehmen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Man kann es auch als geniale Geschäftsidee sehen: Der Umbau lohnt für die Energieversorger, weil der Kunde gezwungen wird, dafür zu zahlen, was er sonst preiswert haben könnte. Die Geißlerei der Anderen als Geschäftsmodell – man könnte es einen neuen Höhepunkt des Kapitalismus nennen.
Wer schafft es noch schneller als Deutschland, seine Kraftwerke abzuschalten und damit die Lieferanten von billiger und immer verfügbarer elektrischer Energie zu kippen?
Das war die Frage bei Plasbergs »Hart aber fair«: »So klimaschädlich ist unser Alltag«. Wie weit diese Sendung uns dem Weltuntergang näher gebracht, wurde nicht erörtert. Der Stromverbrauch allein des Studios war enorm, die CO2-Rechnung Deutschlands aufgrund der Anreise aller Gäste, von denen keiner mit dem Fahrrad gekommen ist, warf »uns« noch weiter im internationalen Ranking zurück. Die Geißlerei gilt für Andere. Das macht es bequem. Aber nicht schöner. Das Miserere, Gloria Patri, das De profundis und Requiem aeternam, der Introitus der Requiem-Liturgie werden heute durch verordnete Scham für Fleischkonsum, Flugreisen und CO2-Ausstoß ersetzt.
Die neue Verbotskultur ist ästhetisch ein Rückschritt. Denn statt dreier meditativer Bittgebete für die Mitglieder des jeweiligen Ordens werden die CO2-Ausstoßraten von Kühen, Schweinen und Menschen heruntergebetet. »Unser Leben ist schlecht fürs Klima!« Der Klimagott beginnt seine Kinder zu richten. Ökologischer Fußabdruck, persönliche Klimabilanz – das sind die Leidensworte der heutigen Treibhausgas-Jünger und die Frage, »wieviel CO2 stosse ich heute aus, o Herr« ist die Tageslosung.
Während im Mittelalter wenigstens der Prior die Geißelung zum gegebenen Zeitpunkt durch Händeklatschen beendete, setzte in Plasbergs Studio der Klima-Abt Mojib Latif, Kieler Klimaforscher, noch eins drauf: »Sieben Prozent des Treibhausgases macht die Landwirtschaft.« Lasset ab, esst die Hälfte und tuet Buße. Auch grundlegende Lebenserscheinungen werden verdammt. Und es ist wahrlich keiner da, der wenigstens den Hauch von Einhalt gebietet und den Versuch einer Erdung wagt.
Stattdessen plagen Tübingens grünen Oberbürgermeister Boris Palmer praktische Sorgen: »Wo soll ich ein neues Windrad bestellen?« Die deutschen Windradhersteller seien nämlich aufgrund der desaströsen Klimapolitik pleite. Aber es geht nichts ums herstellen – es gut ums hinstellen. Denn die Bevölkerung macht nicht mit, die grünen letzten Hügel mit Windrädern zubauen. Erste Zweifel wachsen: Geht das gut mit der Geißelei?
Alexander Lambsdorff, stellvertretender FDP-Fraktionsvorsitzender im Bundestag und sichtbar froh darüber, überhaupt eingeladen zu sein, weswegen er sich chamäleonartig anpasst an die Farbe der Studio-Deko meint: »Wir brauchen mehr Leitungen von Nord nach Süd!« Erklären kann er nicht, welcher Strom durch die Leitungen fließen soll, wenn an Nordsee und Waterkant Flaute herrscht.
Ratlose Gesichter läßt ein Professor zur Frage, was man persönlich tun könne, zurück. Michael Braungart ist Chemiker und Professor an der Leuphana Universität Lüneburg. Er ist ein in Ehren ergrauter Uralt-Grüner, die Gattin war einst Greenpeace-Vorsitzende und Umweltministerin in Niedersachsen; er hat seine Haut in jede Demo den Wasserwerfern zugewandt. Er hat sich nachweisbar selbst gegeißelt und ist kritisch – bis zuletzt, findet selbst Greta übertrieben und falsch. Deren Gejammer sei nach 1945 im Kriegschaos angemessen gewesen, aber nicht heute. Radikal denkt er daher einen Umbau der Wirtschaft, der nun wirklich alles auf den Kopf stellt.
»Es lohnt sich derzeit noch, billigere Materialien zu verwenden«, schimpft er auf die Hersteller jeglicher Produkte und die Kunden auf der Jagd nach dem Schnäppchen. Seine Lösung: Dienstleistungen zu kaufen statt Produkte, die Dienstleistungen erbringen. Waschmaschinen solle man nicht mehr kaufen, sondern nur die Dienstleistung »saubere Wäsche« erwerben. Der Hersteller stellt dann die Waschmaschine dem Kunden in den Keller und holt sie nach beispielsweise 3.000 mal Waschen wieder ab. Das sei vom Grundgedanken umweltfreundlicher, weil dann nicht mehr so viele gefährliche Stoffe in der Waschmaschine verbaut würden und ihre Haltbarkeit schon im Interesse der Hersteller verlängert. Von der Wiege bis zur Bahre würden dadurch geschlossene Stoffkreisläufe erzeugt, die Ressourcen sparen: Der Teppichboden wird nicht mehr gekauft, sondern geleast, und vom Hersteller ausgetauscht, wenn er abgetreten ist: Aus dem alten entsteht ein neuer.
Das war denn doch ein wenig viel auf einmal. »Sie haben uns Denkaufgaben mitgegeben!« stöhnt Plasberg. Denn Braungart geißelt sich sichtbar selbst.
Da ist es schon besser, wenn die Anderen weniger Fleisch essen. Das Rind produziere nun mal CO2 und sei somit schlecht fürs Klima. Dass allein das Rind mit seinem speziellen Verdauungssystem in der Lage ist, auch noch jene Landschaften abzuweiden, auf denen aus klimatischen und geologischen Gründen kein Getreide angebaut werden kann – das kommt niemandem in den Sinn. Auch Landwirtschaft ist das, was andere erledigen. Neuerdings.
Vor 120 Jahren hat ein Bauer nur vier Menschen ernähren können, heute 140 bis 150. Erst die technische Entwicklung der Landwirtschaft und die freie Verfügbarkeit preiswerter Energie befreite den Menschen von Nahrungsmangel, mühseliger Arbeit und schuf jene freie Zeit, in der heute in Studiorunden über Überfluss und eigene Überflüssigkeit geplaudert werden kann.
Angesichts solcher Geißler-Vorschläge für Andere aus dem warmen Studio fragte Plasberg erschrocken, ob denn nicht der gegenteilige Effekt eintreten und das Publikum antworten könnte: »Wisst ihr was: Ihr könnt mich mal! Ich geissle nicht!«
Worauf Palmer nur einfiel, man müsse »das System verändern!« Lambsdorff verfiel spontan auf den wagemutigen Satz: »Deutschland hat die erneuerbaren Energien bezahlbar gemacht. Deswegen funktioniert das weltweit.« Immerhin schob Plasberg daraufhin die unvermeidliche Frage nach dem höchsten Strompreis nach, den Deutschland hat: »Was kann daran vorbildlich sein?« Aber Lambsdorff gehört ja zu denen, bei denen das Gürtel-enger-Schnallen seit jeher zum Parteiprogramm gehört, solange es um Gürtel der Anderen geht. Oder heute: Ein Graf Lambsdorff geißelt nicht selbst, er läßt geißeln.
Frau Energie-Wolf versuchte zu entgegnen, dass die Bundesregierung im Frühjahr die Senkung des EEG-Satzes vorschlagen werde. Ohne dazu zu sagen, wie viele Windräder sich dann nicht mehr lohnen oder aus welchen Töpfen des Steuerzahlers dann die notwendigen Subventionen hergezaubert werden. Denn ohne eine deftige Mitgift, die heute EEG heißt, lohnt kein Windrad, keine Photovoltaikanlage. Ob überhaupt genügend Strom für all die vielen Elektroautos vorhanden sei, die dermaleinst auf unseren Straßen langsam dahinrollen sollen? »Den werden wir erzeugen können!« Niemand lacht im Studio. Sie glauben ihr; das Geschäftsmodell läuft.
Palmer fügte ehrlich an, dass wir uns »abschminken« müssten, unsere Autos so schnell mit Energie vollzutanken wie bisher. Die bisherige freie Mobilität ist dann halt nicht mehr. So viel Geißlertum muss sein, um die Welt vor dem Zorn des Klimagottes zu retten. Aber für einige wenige gibt es ja weiterhin Dienstautos.