Eine besondere Aufregung hat die Demokratie in Deutschland erfasst. Da ist in den Schlagzeilen von ,Schande‘, von ,Schock‘ die Rede. Das Geschehen wird als ,verheerend‘, als ,verantwortungslos‘ bezeichnet. Und dabei handelt es sich bei diesem Ereignis-Phänomen zunächst nur um die Folgen einer Landtagswahl in einem relativ kleinen Bundesland. Es handelt sich um Thüringen. Aber zugleich geht offenbar ein Beben durch das Grundgefüge der Demokratie. Die politisch-kulturellen Fundamente scheinen zu erodieren. Es handelt sich zweifellos um einen Weckruf, über Bedingungen und Möglichkeiten langfristigen demokratischen Erfolges und politischer Stabilität nachzudenken.
Das alte Machtkalkül verlor seine Stabilität
Das, was zweifellos als eine Selbstbeschädigung der Demokratie oder sogar dramatischer als Selbstvergiftung einzuordnen ist, begann zunächst mit einer ganz normalen Landtagswahl. Das Ergebnis war nicht in jeder Hinsicht sensationell. Es lag im Trend der vorhergehenden Wahlen. Aber man konnte nicht einfach zu einem „Weiter so“ durchwinken. Die traditionellen Volksparteien hatten an Stimmen verloren und die führende Regierungspartei – die Linke – hatte dazugewonnen. Aber die bisherige rot-rot-grüne Regierung hatte ihre Mehrheit eingebüßt. Nun galt es eine neue Machtarchitektur zu entwerfen.
Mit dieser elementaren Herausforderung begann nun das eigentliche Drama: Der Wahltag gab den Auftrag, eine neue strategische Perspektive einer zukunftsfähigen Demokratiekultur zu entwickeln. Die am Wahlabend scharf formulierten Ablehnungen mussten im Laufe der Zeit ihre Wirkung einbüßen.
Aber wie konnte es zu diesem Aufbruch kommen, bei dem das alte einfache Machtkalkül seine Stabilität verlor?
Den Beobachter schmerzte nun das Deutungs- und Erklärungsdefizit der Politik. Die Erosion der politisch-kulturellen Grundlagen öffnete den Markt für extremistische, populistische Slogans. Die Politik begegnet den großen Herausforderungen entweder mit situativem Krisenmanagement oder mit Ratlosigkeit. Die Sehnsucht der Bürger nach strategischen Zukunftsperspektiven bleibt unbeantwortet. Die Politik nimmt eben Abschied vom kulturellen Horizont der Orientierungsnotwendigkeit.
„Die politischen Wirren von Erfurt“
Zu den Vorgängen in Thüringen mit bundesweiter Ausstrahlung wurden starke Begriffe gefunden: ,Politik-Chaos‘, ,die politischen Wirren von Erfurt‘, ,mit dem Feuer gespielt‘. ,unverzeihliche Schock-Wellen‘, ,Blame Game‘. Den starken Worten folgten diverse Führungswechsel. Es wurde klar, welch ein massiver Schaden in kurzer Zeit zugefügt wurde. Es schien geradezu ein Wettkampf im Verhindern zu sein. Nichts erscheint bis heute als wirklich geklärt. Keine Lösung in mittel- und langfristiger Perspektive wird greifbar.
Demokratie lebt vom Vertrauen. Es muss uns alarmieren, dass das empirische Datenmaterial uns mehr und mehr das Bild der Misstrauensgesellschft liefert. Thüringen zeigt, wie Demokratie unter Selbstvergiftung leiden kann. Wir erleben eine Vertrauensvernichtung von Politik in einer Dimension, die über viele Jahre in Erinnerung bleiben wird: Tricksen, Hakenschlagen, Widerlegung der Festlegung von Gestern.
Die Komposition der Grundlagen ist klar: Die herkömmlichen, traditionell bekannten Koalitionen finden keine Mehrheit mehr. Die Demokratie rückt von der Mehrheitsdominanz in die Minderheitenarchitektur. Neue Farben für neue Koalitionsformationen sind zu erfinden. Inzwischen sehen in Deutschland 52 Prozent der Bürger die Demokratie in Gefahr. Und mehr als 70 Prozent sagen, dass sie das alles nicht mehr verstehen. Die Antwort auf dieses Misstrauensdilemma besteht in wachsender Aggression. Im Alltag wird gerempelt. Hasstiraden erfüllen die digitale Welt. Der Markt für aggressive Einfachformeln wird weit geöffnet.
Verunsicherung, Besorgnis, Frustration
Wo früher Zufriedenheit, Zuversicht, Selbstgewissheit dominierten, sind nun Verunsicherung, Besorgnis, Frustration festzustellen. Das politisch-kulturelle Unterfutter hat sich weit über Thüringen hinaus tiefgreifend verändert.
Das Bild von der Zukunftsgesellschaft, die Konzeption des künftigen Zusammenlebens, die Beschaffung von Legitimation, die Regelung der neuen weltpolitischen Risikostrukturen – alle diese Megathemen bleiben ohne präzise Behandlung. Stattdessen werden viele Details in einem situativen Krisenmagagement angegangen – vom Klima zur Migration, vom Wohnungsbau zur Landwirtschaft. Diese Sprunghaftigkeit wird begleitet von den üblichen Machtspielen. Wer wird wen wie aus der politischen Führung abräumen? Die Strategiekrise der Republik verbindet sich auf fatale Weise mit den Sinnkrisen der verschiedenen Parteien. Die diversen Rochaden der Parteien – mal dagegen, mal dafür – und die ungeklärten internen Konflikte – dies alles nagt am kulturellen Kern der Politik: Vertrauen wird angegriffen, verbraucht, ja zerstört. Und Vertrauen ist der Sauerstoff der modernen, höchst arbeitsteiligen Gesellschaft. Ohne Vertrauen finden wir nur noch eine vergiftete Gesellschaft vor – erkrankt, in schwerer Krise.
Ganz offensichtlich gilt es nun, die Kunst einer zivilisierten Auseinandersetzung wieder einzuüben. Auf dieser Grundlage ist dann gemeinsam neu eine strategische Kultur zu entwickeln. Nur auf einem solchen Weg kann aus der politischen Tragödie in Thüringen ein Lernprozess mit einer positiven Perspektive angestoßen werden.
Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg.
Dieser Beitrag ist zuerst bei Die Tagespost erschienen.