Die Affäre um die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen, die nun im Rücktritt Annegret Kramp-Karrenbauers vom Parteivorsitz der CDU gipfelte, zeigt, wie schwer es für das Establishment geworden ist, mit den Wählern und ihrem Votum umzugehen oder klar zu kommen.
Das erste Problem ist die ungeschriebene Regel, dass es mit der AfD keinerlei Zusammenarbeit geben darf. Mit der Wahl Kemmerichs habe der „Cordon Sanitaire“, den die etablierten Parteien um die rechtslastige AfD gebildet hätten, Risse erhalten, erklärte Chris Reiter, der Deutschlandkorrespondent von Bloomberg. Für die Thüringer CDU, die viel stärker unter dem direkten Druck ihrer Wähler steht als die Parteispitze im fernen Berlin, wurde dieses ungeschriebene Gesetz zunehmend zu einem Problem. Sie fürchtete, die Unterstützung eines Kandidaten der Linkspartei, den ihre Anhänger bei der Wahl im Oktober abgelehnt hatten, könne sie teuer zu stehen kommen. Und weil die Frage, mit wem die CDU gemeinsame Sache machen soll – der Linkspartei oder der AfD – so ausweglos erscheint, schlug CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak vor, eine parteiübergreifende Lösung zu finden. Nur Stunden vor der Rücktrittsankündigung Kramp-Karrenbauers sagte er im ZDF Morgenmagazin: „Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, dass es einen überparteilichen Vorschlag geben muss, so wie wir das auch in Österreich erlebt haben“.
Diese Aussage zeigt, wie gefährlich die Tabus sind, die um gewählte Parteien aufgebaut werden. Zu den Grundprinzipien der Demokratie gehört es, dass Regierungen gewählt und den Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig sein müssen. Und um an ihrer Anti-AfD-Politik festzuhalten, ist die CDU-Führung bereit, dieses wichtige Prinzip, zumindest zeitweise, aufzugeben? Und das nur, weil die Situation nicht einfach ist? Es stimmt, dass die Thüringer AfD von einem der unausstehlichsten Charaktere dieser Partei geführt wird. Björn Höcke, der ehemaliger Geschichtslehrer aus dem ehemaligen Westen, ist bekannt für seinen hässlichen Revisionismus und seine romantische Verklärung der Vergangenheit und gewiss kein Hoffnungsträger für Deutschland. Dennoch ist der Ruf nach einer nichtgewählten Regierung, um die AfD oder die Linke auszubooten, weitaus gefährlicher für unsere Demokratie als dieser Mann.
Das AfD-Tabu und die Rufe nach einer technokratischen Übergangsregierung offenbaren eine mangelnde Bereitschaft zu einer ernsthaften und offenen Debatte. Formal wird die Anti-AfD-Haltung als Verteidigungsmaßnahme gegen eine rechte Partei dargestellt. Aber indirekt richtet sie sich auch gegen ihre Wähler. Es hat sich als eine verfehlte Strategie erwiesen, alles zu tun, um die AfD, die bei der letzten Landtagswahl in Thüringen fast ein Viertel der Stimmen erhielt, zu überlisten oder auszuschließen. Die Folge ist, dass immer mehr Menschen den Eindruck gewinnen, die etablierten Parteien seien nicht einmal mehr daran interessiert, um ihre Stimmen zu werben. Das gilt nicht nur für die CDU, sondern auch für die SPD, die mit ihrem Banner an der Parteizentrale („Keinen Fußbreit den Faschisten“) ganz bestimmt keinen einzigen AfD-Wähler zurückgewinnen wird (und wir dürfen davon ausgehen, dass einige AfD-Wähler früher SPD gewählt haben).
Doch auch die politische Taktik der AfD sollte nicht verteidigt werden. Der Versuch, den FDP-Politiker Thomas Kemmerich durchzusetzen, dessen Partei bei den Landtagswahlen im Herbst nur fünf Prozent erhielt, ist ebenso demokratieverachtend wie die Idee der CDU, einen technokratischen Führer zu ernennen. Das Richtige in einer Demokratie wäre, dass die Partei, die die meisten Stimmen gewonnen hat, den Ministerpräsidenten stellt. In diesem Fall stünde dies, auch wenn es vielen nicht passt, der Linkspartei zu. Sie erhielt im Herbst mit 31 Prozent der Stimmen mehr als jede andere Partei.
Leider sind in der deutschen Öffentlichkeit viel zu wenige – von denen, die die AfD hassen, bis hin zu den Anhängern der AfD – bereit, eine konsequent pro-demokratische Haltung einzunehmen. Ganz gewiss wäre es auch der Thüringer CDU leichter gefallen, ihren Wählern gegenüberzutreten, wenn sie ihre Entscheidung in diesem Sinne hätten begründen können.
Statt grundlegende Prinzipien wie das Recht auf Repräsentation und Mehrheitsentscheidung zu verteidigen, haben sich die Parteien in ein taktisches Gerangel verstiegen. Wer besorgt ist über die Ereignisse in Thüringen, sollte sich deshalb folgendes fragen: Geht es um die Demokratie oder einfach nur darum, eine Partei zu isolieren, mit der man nicht einverstanden ist?
Thüringen als ein Beispiel dafür zu nennen, welches Chaos die Demokratie hervorrufen kann, ist falsch. Das Chaos wurde dadurch verursacht, dass so viele Politiker nicht bereit sind, demokratische Ergebnisse, die ihnen nicht gefallen, zu akzeptieren.
Dieser Beitrag von Sabine Beppler-Spahl ist zuerst bei Novo erschienen.