Hybris hat schon häufig sich selbst überschätzende Menschen in den Ruin getrieben. Und dabei unermesslich viel Schaden angerichtet.
Wer über eine in besonderem Maße ausgeprägte Hybris verfügt, ist der türkische Präsident Erdogan. In seinen Phantasien von einer Neuauflage des Großosmanischen Reichs meinte er, im Syrien-Krieg als einer der Gewinner herausgehen zu können. Nun aber deutet vieles darauf hin, dass er vor seinem persönlichen Waterloo steht.
Erdogans privater Syrienkrieg
Recep Tayyib Erdogan, Präsidialdiktator der Türkei mit der Hybris, von Allah berufen worden zu sein, das sunnitische Kalifat zu restaurieren und Anatolien hundert Jahre nach dem Zusammenbruch wieder zur nahöstlichen Führungsmacht machen zu können, pfiff auf seine angeblichen Freunde und Verbündeten in NATO und EU, als er seine völkerrechtswidrigen Angriffskriege gegen Kurden und Syrer im Nachbarland startete. Sich als allmächtiger Sultan fühlend, meinte er, in Astana und Sotchi mit Russen und Persern private Lösungen für das vom Krieg geplagte Syrien auskungeln zu können, gab sich als Schutzmacht der radikalislamischen Terrorverbände und erwartete, nicht nur im arabisch geprägten Teil Syriens dauerhaft seine Präsenz zu sichern, sondern auch gleich noch die Gefahr eines unabhängigen Kurdistans an der Südgrenze zur Türkei durch Einmarsch zu bannen. Doch er sollte die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben.
Die mit den Russen als Schutzmacht seines Hassfeindes Assad angesprochene Waffenruhe sollte nicht von Dauer sein. Ein Schelm, der etwas anderes erwartet hätte. Assad, Präsident Syriens, wartete so lange, bis seine Kräfte die nicht kurdischen Gebiete seines Staates von den Islamkämpfern befreit hatten und gleichzeitig eine Stillhaltevereinbarung mit der kurdischen YPG und den arabischen SDF die gemeinsame Front gegen den Türken sicherte. Dann schlug er zu.
Assads Vormarsch auf Idlib
Seit gut vierzehn Tagen rücken Assads Kräfte in der sogenannten „Rebellenprovinz“ Idlib – gehalten von einer AlQaida-nahen, terroristischen Islammiliz – erfolgreich vor. Erdogans Verbündete gerieten ins Hintertreffen, und innerhalb weniger Tage verloren die Türkei und ihre Verbündeten gut ein Drittel „ihrer“ Provinz. Erdogan setzte auf Präsenz schwerer Kampfverbände, verlegte hunderte von Militärfahrzeugen nebst Mannschaften in das von ihm widerrechtlich besetzte Gebiet, hoffend, allein schon durch diese Präsenz den Vormarsch Assads zum Stoppen zu bringen. Doch Assad dachte nicht daran, seinen Erfolgszug zu beenden. Mit den Russen im Rücken rücken seine Kämpfer vor, haben seit Dienstag nun auch die strategisch wichtige Schnellstraße M5 zwischen Aleppo und Damaskus vollständig unter ihre Kontrolle gebracht.
Die unmittelbare Konfrontation zwischen türkischen und syrischen Einheit wurde unvermeidbar. 14 tote und 45 verwundete türkische Soldaten musste Erdogan nun bereits eingestehen, während angeblich über 100 Syrer „neutralisiert“ worden seien. Faktisch herrscht Krieg zwischen der Türkei und Syrien – und noch denkt keine Seite daran nachzugeben. So erreicht nun auch die übliche Kriegspropaganda neue Höhepunkte, werfen sich die Akteure gegenseitig den gezielten Massenmord von Zivilisten vor.
Erfolglos in Moskau angeklopft
Erdogan, dem sein Abenteuer aus den Händen zu gleiten droht, versuchte es zuerst in Moskau. Vergangenen Sonnabend trafen sich Russen und Türken in Ankara. Ergebnislos, denn die Russen verweigerten sich Erdogans Forderung nach einer „Rückkehr“ zum Sotchi-Prozess, wonach die Idlib-Provinz vor syrischen Angriffen gefeit sei. Was auch hätten sie anderes tun sollen, denn angesichts des zwischen Russland und Syrien abgestimmten Vormarsches hätte Putin damit nicht nur seinen Verbündeten verraten – er hätte auch sein eigenes Kriegsziel der Sicherung langfristiger russischer Präsenz im östlichen Mittelmeer in Frage gestellt.
Auch wenn Erdogan bis heute nicht versteht, dass Putin nur mit ihm spielt: An dem Ziel, dem Türken keine Handbreit syrischen Boden zuzugestehen, hatte sich nie etwas geändert. Um dieses zu erreichen, wurden in dem von der Türkei besetzten Grenzstreifen zum kurdischen Rojava gemeinsame Patrouillen eingesetzt, die nur dem Ziel dienen, auch dort weitere Geländegewinne der Türken zu unterbinden. Und in Idlib wurde und wird mit massiver russischer Luftunterstützung der Vormarsch der Assad-Bodentruppen vorbereitet.
Erdogan bettelt bei der NATO
Erdogan scheint zu merken, dass er sich verkalkuliert hat. Zwar steht seine Armee mittlerweile auf syrischem Territorium, doch seine islamischen Verbündeten knicken militärisch ein. Sie zeigen sich außerstande, dem Vormarsch der russosyrischen Einheiten ernsthaften Widerstand entgegensetzen zu können. Wollte der Türke seine eigenen Kriegsziele durchsetzen, müsste er nicht nur Assads syrische Truppen niederringen, sonder käme auch an einer Konfrontation mit Russland nicht vorbei.
Und so schreit der selbsternannte Großtürke nun plötzlich nach der NATO, deren Verbindungen zur Türkei er seit Jahren zielgerichtet abgeschnitten und um deren Auffassung er sich bislang einen Teufel geschert hat. Während der Lautsprecher aus Ankara tönt, die Türkei werde nicht untätig zusehen, wie „Milizen mit russischer und iranischer Rückendeckung in Idlib die Zivilbevölkerung massakrieren“, und parallel dazu russische und syrische Stellen den Türkei-gestützten „Schützen“ vorwerfen, allein im vergangenen Monat mindestens 150 Zivilisten ermordet zu haben, forderte der türkische Verteidigungsminister Akcar nun die bisher geschmähten „Freunde“ in NATO und EU auf, „ernsthafte und konkrete Unterstützung zu leisten, um die Angriffe der Assad-Regierung in Idlib zu stoppen“. Was nur bedeuten kann: Setzt Assad seinen Vormarsch nicht freiwillig aus und zieht sich aus Idlib zurück, müsste das Militärbündnis in den Syrien-Konflikt eingreifen – eine Vorstellung, die nicht nur angesichts des bisherigen Alleingangs der Türkei mehr als absurd ist.
Es gibt keinen Grund, für Erdogan die Kastanien aus dem Feuer zu holen
NATO und EU täten angesichts der Entwicklung gut daran, sich daran zu erinnern, dass es erst wenige Tage her ist, als Erdogan mit dem libyschen Premier auf Abruf das östliche Mittelmeer unter sich aufteilte und dabei die Interessen der EU-Staaten Griechenland und Zypern vom Tisch wischte. Sie sollten sich auch daran erinnern, dass es zu Erdogans ständigen Rhetorik-Repertoire gehört, die Wiederinbesitznahme der griechischen Ägäisinseln und bulgarischer Territorien einzufordern.
NATO und EU schulden Erdogan weniger als nichts. Es gibt für sie nicht den geringsten Grund, für Erdogan dessen mutwillig ins Feuer geworfene Kastanien aus demselben zu holen. Sein Syrien-Abenteuer hat Erdogan ohne jegliche Rückendeckung mit den angeblichen Partnern im Westen begonnen. Insofern sollten NATO und EU sich gelassen zurücklehnen und den Muslimbruder nun die sich von ihm selbst eingebrockte Suppe selbst auslöffeln lassen.