Der Historiker Heinrich August Winkler lehrte als Professor an der Humboldt-Universität Berlin. Der Bundesverdienstkreuzträger hielt am 08. Mai 2015 im Deutschen Bundestag die Rede zum 70-jährigen Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Man darf also annehmen, dass sein Renommee bei Hofe unbestritten ist.
Inwieweit das allerdings jetzt noch im gleichen Maße behauptet werden darf, nach dem der über 80-Jährige gebürtige Königsberger in der aktuellen Welt am Sonntag vor einem inflationären Gebrauch des Faschismusbegriffs warnte, wird die Rezeption seines Interviews in den kommenden Tagen zeigen.
Besagtes Interview ist in der Printausgabe der WamS angelegt rund um eine Porträtaufnahme von Winkler, in schwarzweiß aufgenommen in einer Art Hyperrealismus: jede Falte sichtbar, der Blick wissend in die Ferne gerichtet, irgendwo zwischen Bismarck, Willy Brandt oder Ernst Jünger.
Natürlich, es geht um die Wahl in Thüringen. Und Heinrich August Winkler startet mit voller Breitseite gegen die Warner und Mahner vor einem neuen Faschismus, wenn er sagt: „Es ist absurd, ständig den Untergang der Weimarer Republik zu beschwören.“ Mit falschen Analogien würde die gegenwärtige Demokratie in ein völlig falsches Licht gerückt.
Die Anwurfrichtung des Historikers richtet sich also anscheinend gegen Kommentare auch von Regierungspolitikern wie Außenminister Heiko Maas, der zur Wahlhilfe der AfD für den FDP-Ministerpräsidentenkandidaten twitterte, das sei komplett verantwortungslos: „Wer das nicht versteht, hat aus unserer Geschichte nichts gelernt.“
Für Winkler aber fehlt es jenen, die hier Vergleiche ziehen, „an Kenntnissen der Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg.“ Zum anderen hätten sich bestimmte Begriffe wie „faschistisch“ als Kampfbegriffe eingespielt. „Aber der inflationäre Gebrauch des Begriffs „Faschismus“ führt letztlich zu einer Verharmlosung des Faschismus.“
Darauf hatte der Historiker (seit 1962 SPD-Mitglied) bereits 2017 in einer öffentlich-rechtlichen Talkshow hingewiesen. Auch für ihn dreht sich also das Hamsterrad der Unbelehrbaren einfach nur weiter, wenn wieder einmal das Ende eines friedlichen, demokratischen Experiments Namens Bundesrepublik als Horrorszenario proklamiert wird.
Winkler erklärt den Lesern der Welt am Sonntag den Faschismus. Erzählt, dass Nationalsozialismus und Faschismus keine identische Begriffe seien usw. Für Winkler ist die AfD nicht faschistisch, viel eher sei die Alternative Widergänger einer ganz anderen Weimarer Partei: „Sie ist am ehesten mit den Deutschnationalen der Weimarer Zeit zu vergleichen. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) war eine antidemokratische, nationalistische und reaktionäre Rechtspartei mit einem starken völkisch-rassistischen Flügel.“
Leider ist das mindestens genauso unsinnig, wie der beklagte Faschismus-Vergleich, aber ein sozialdemokratischer Historiker trägt nun mal keine Siebenmeilenstiefel und kommt hier seiner Pflicht nach, die gewünschte Sortierung im Bösen vorzunehmen. Die DNVP war antisemitisch, kaiserlich-monarchistisch und republikfeindlich. Hier spielt also der Historiker mit dem von ihm zuvor angeprangertem fehlendem historischen Wissen der Faschismus-Schreier, wenn er vergleichbaren Unsinn verbreitet, darauf spekulierend, dass es keiner merkt, weil es keinen interessiert: Quasi der Faschismusvorwurf mit anderen Mitteln – „gelehrt, also seriöser” daherkommenden.
So interessant es jetzt für die Medien sein mag, hier einen gefunden zu haben, der Faschismus-Anwürfe gegen die AfD ankreidet, so hoch munitioniert mit Stinkbomben neuer Art ist also Winkler selbst, wenn er ausgerechnet im gleichen Interview den Begriff der „Machtübernahme“ einführt, wenn er den Einfluss des thüringischen AfD-Chefs Björn Höckes auf die Bundespartei erzählt.
Der Historiker Winkler macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, wenn er noch weiter geht und der Bundeskanzlerin ausdrücklich Recht gibt, darin, dass die Erfurter Entscheidung vom vergangenen Mittwoch „unverzeihlich“ war.
Der Sozialdemokrat Winkler mahnt die CDU-Bundespartei sogar an, sich jetzt „gegenüber einer in sich zerrissenen Landesparteiorganisation“ durchzusetzen. Warum? Weil es auch in der CDU in Sachsen-Anhalt viele Anhänger einer Zusammenarbeit mit der AfD gäbe. Was der Historiker hier allerdings wissentlich auslässt, ist die schon verzweifelte Suche einiger ostdeutscher Christdemokraten nach einer Möglichkeit, die Sorgen vieler Bürger einmal nicht nur der AfD überlassen zu müssen, weil stattdessen die Bundeskanzlerin die Welt retten will und sie damit die Wähler nicht nur in Ostdeutschland in Scharen zur AfD treibt. Die wählen sicher nicht die AfD, weil diese Partei angeblich Ähnlichkeiten mit einer monarchistischen Alternative der Weimarer Republik hat.
Wer die ostdeutschen Wähler für irgendwie couragierter hält, weil die sich noch um die Belange ihres Landes und der Menschen, die darin schon länger leben, scheren, der wird von Winkler eines Besseren belehrt. Wie man mit den Ostabweichlern, die ja gegenüber den BRD-Leuten in Sachen Demokratie so rückständig seien, umzugehen habe, drückt Winkler so aus: „Dies ist ein erschreckender Sachverhalt, der die demokratischen Parteien vor allem in den neuen Bundesländern dazu anhalten sollte, der politischen Bildungsarbeit eine verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen.“
Dem Historiker Heinrich August Winkler (SPD) scheint nicht bekannt oder nicht bewusst zu sein, dass das SPD-geführte Familienministerium bereits Hunderte von Millionen Euro investiert hat, um die politische Demokratiebildung zu privatisieren – auch mit Stiftungen, die auf eine Weise antidemokratisch agieren, dass sie ein interessantes Studienobjekt für die Historiker von morgen sein könnten.