Erinnern wir uns an den Brexit. Beim Volksentscheid am 23.6. 2016 stimmten 51,9 Prozent für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Es war ein überraschendes Ergebnis, aufsehenerregend, umstritten. Aber die Wahl wurde nicht wiederholt. Es folgten drei Jahre, in denen im Parlament und auf der Straße in Großbritannien erbittert gestritten wurde, Regierungskrisen lösten sich ab, eine Premierministerin stürzte, man verfolgte fassungslos den Streit im Unterhaus über die Frage, was raus jetzt bedeutet und wie es funktioniert. Die Wahl wurde nicht wiederholt. Vor acht Tagen ist Großbritannien aus der EU ausgeschieden. Das nennt man Demokratie. Großbritannien hat diese Form der Westminster-Demokratie der Welt geschenkt. Die erste und eiserne Regel lautet: Das Ergebnis einer Wahl ist zu respektieren. Die Wahl wird nicht wiederholt. Wer einem Machthaber das Recht einräumt, Wahlen zu wiederholen, zerstört die Demokratie.
Das Elend von Thüringen
Schauen wir uns nüchtern die Vorgänge in Thüringen an. Tomas Spahn hat sie Schritt für Schritt analysiert. In einer schwierigen Konstellation wurde ein Ministerpräsident gewählt. Wie es sich gehört, mit einer Mehrheit der Stimmen. Er ist damit der rechtmäßige oberste politische Repräsentant dieses Landes. Thomas Kemmerich hat noch am selben Tag den Amtseid geleistet. Nur Stunden später wird er gezwungen, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Die Bundeskanzlerin erklärt aus dem fernen Afrika, das Ergebnis der Wahl sei rückgangig zu machen. Es wird pariert. Der FDP-Parteichef fährt nach Erfurt und zwingt seinen Parteifreund dazu, diese Wahl rückgängig zu machen. Wenn Parteien Sinn haben, dann den, wegen gemeinsamer Überzeugungen die Parteifreunde zu unterstützen. Lindner hätte sich hinter Kemmerich stellen können. Er ist ihm in den Rücken gefallen.
Kemmerich und die AfD
Als Argument wird angeführt, die AfD habe Kemmerich gewählt. Richtig ist, dass Kemmerich in einer geheimen Wahl die Mehrheit erhielt; naheliegenderweise auch von Abgeordneten der AfD. Die Abgeordneten der AfD-Fraktion haben das volle Recht eines Parlamentariers. Sie sind ihrem Gewissen verantwortlich; nicht ihrem Fraktionsvorsitzenden, nicht ihrem Parteiprogramm. Sie haben gewählt und ihre Stimmen sind nicht anders zu behandeln als die irgendeines anderen Parlamentariers. Wer dies versucht, zerstört die Regeln der Demokratie. Was wäre gewesen, wenn die AfD Bodo Ramelow gewählt hätte? Vermutlich hätten die vereinigten Medien des Landes das bejubelt, als Schritt auf dem Weg zur Demokratie. Weil sie einen FDP-Mann gewählt haben, wird dieser verdammt. Kemmerich hat mit der AfD keinen Koalitionsvertrag geschlossen, so weit man bisher weiß keine Verabredung getroffen, keine Zusagen auf Gesetze und Ämter gemacht. Kemmerich ist frei in seinen künftigen Entscheidungen. Er ist nicht der Ministerpräsident der AfD, auch nicht der FDP oder CDU, sondern des Landes Thüringen und aller seiner Bürger, auch wenn ihn viele nicht mögen. Er ist zu respektieren, er ist vom Souverän rechtmäßig gewählt. Wer diese Wahl in Zweifel zieht, bedarf der Nachhilfe in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Könnte Kemmerich regieren?
Kemmerich kann nicht einfach zurücktreten. Es gibt außer ihm keinen Regierenden in Thüringen. Er ist allein. Hätte er bereits ein Kabinett und damit einen Stellvertreter, dann könnte er abtreten. So nicht. Die Kontinuität der Regierung ist eine eherne Notwendigkeit jeder Staatlichkeit. Für die Anfänger in den Politikstuben dieses Landes empfehle ich ein unterhaltsame US-Serie, in der Hauptrolle Kiefer Sutherland: „Designated Survivor“: Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ebenso der Vizepräsident, das gesamte Kabinett fällt einem Anschlag zum Opfer. Ein schwacher Bauminister, der eigentlich entlassen werden sollte und deshalb zu Hause blieb, ist der einzige Überlebende. Er wird Präsident. Er ist überfordert, verzweifelt, hilflos. Aber er ist der Repräsentant des Volkes der Vereinigten Staaten von Amerika und im Besitz der gesamten Regierungsgewalt. Es ist ein pathetischer Hollywood-Schinken, ja. Aber vielleicht versteht Frau Merkel endlich, worum es hier geht: Der Ministerpräsident auch eines kleinen Landes wie Thüringen ist der Ministerpräsident und nicht ein Schuljunge, den sie herumschubsen kann auf dem Schulhof, dem ihr Berliner Kabinett immer mehr ähnelt: grob, dumm, hilflos.
Die Lehre ist, und dies wird an diesem Wochenende deutlich: Kemmerich kann nicht zurücktreten, er muß sein Amt ausüben, auch wenn Herr Lindner mangels Wissen das Gegenteil glaubt. Und doch ist das Unmöglich erscheinende geschehen. Ämter sind nicht zum Schuhe putzen da. Hier wurde ein Grundprinzip beschädigt.
Wie lange hätte Kemmerich Ministerpräsident bleiben können?
Selbstverständlich steht es der derzeitigen Opposition im thüringischen Landtag frei, Herrn Kemmerich mit allen demokratischen Mitteln zu bekämpfen. Dann muss Herr Ramelow mit dem Antrag auf ein Konstruktives Misstrauen antreten. Wenn er mehr Stimmen erhält, ersetzt er Kemmerich, dann hat das jeder zu akzeptieren. Ohne konstruktives Misstrauen bleibt Kemmerich Ministerpräsident. Nach derzeitiger Lage hat er die Mehrheit des Parlaments hinter sich, und es gibt keine Abgeordneten erster und zweiter Klasse, sondern nur Mitglieder des Landtags in vollem Recht und nur ihrem Gewissen verantwortlich.
Diesen Schritt scheut Ramelow. Er will Garantien für seine Wahl. Wer soll die ihm geben? Frau Merkel? Sie hat im Landtag von Thüringen nichts zu suchen und nichts zu sagen. Herr Lindner? Er hat kein Amt in Thüringen. Kramp-Karrenbauer? Wer genau ist diese Dame – in Thüringen liegt der Verteidigungsfall nicht vor, sie hat als Verteidigungsministerin nichts zu sagen und als Parteivorsitzende hat sie den Abgeordneten der CDU keine Weisung zu geben.
Das ist Demokratie, und nicht Berliner Amigo-Politik. Und Kemmerich hat den Weg so frei gemacht, wie es den Amigos gefällt.
Was hätte Kemmerich tun können?
Kemmerich muss regieren, so ist das und nicht anders. So ist die Rechtslage. Er kann Minister und Staatssekretär und leitende Beamte ernennen und entlassen. Er kann jetzt genau jenes Kabinett der Mitte bilden, nach dem sich so viele sehnen wie Gesundheitsminister Jens Spahn. Es wäre ein Kabinett, das Ramelow mit seinen getreuen Linken eben nicht aufzustellen vermochte – bisher nicht und auch nicht in Zukunft. Warum er zurückweicht – das wird dieses Land erschüttern, denn er weicht vor der Gewalt. Aber was ist noch „Recht“?
Fachleute und Experten kann Kemmenich um sich scharen. Er kann Gesetze einbringen, und man wird sehen, wer für vernünftige Vorhaben stimmt und wer aus Ideologie, Rechthaberei oder blankem Hass sich verweigert. Dann weiß der Wähler, woran er ist: Geht es den Betreffenden um Thüringen, oder um ihr parteipolitisches Süppchen? Dass er zurücktritt ist eine Blamage für das demokratische und rechtsstaatliche Deutschland.
Was könnten kritische Bürger tun?
Nicht die CDU, nicht die FDP, nicht die Kanzlerin und auch nicht die Grünen oder Linken haben zu bestimmen, was jetzt geschieht. Es sind die demokratischen Institutionen und nur sie. Es darf nicht der Mob der Straße sein, der jetzt durch die Straßen zieht, nun auch FDP und CDU angreift, weil ihm das Ergebnis einer Wahl nicht passt. Wo kommen wir hin, wenn ein paar wirre Rechthaber meinen, mit Plakaten, Schmierereien und Gegröle einen rechtmäßig gewählten Repräsentanten unter Druck zu setzen? Warum beschützt die Polizei die Familie, und die Kinder Kemmerichs nicht ausreichend? Ist es schon so weit, dass nur derjenige gewählt werden darf, der den LINKEN gefällt und jeder Andere wird aus dem Amt gejagt?
Dann wäre die Demokratie am Ende. Sie hat heute schweren Schaden erlitten.
Eigentlich sollte es Unterstützung für den einsamen Mann in der Staatskanzlei Erfurt geben, gerade weil Merkel und die FDP ihn offen bekämpfen, die LINKE und SPD sowieso. Die demokratischen Institutionen dieses Landes vor dem Mob, vor Merkel und ihren Helfershelfern zu schützen, ist ein Ziel, das derzeit niemand formuliert. Warum?
Thüringen und der Brexit
Großbritannien scheint die Krise des Austritts-Referendum und die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Weil gestritten und gekämpft und debattiert und obwohl getrickst wurde ohne Ende und das alles schmerzhaft. Aber Großbritannien hat seine Demokratie und seine Institutionen bewahrt. Deutschland führt sich auf wie eine Bananenrepublik, in der ein Machthaber so regiert, wie er will und seine Helfershelfer willfährig mitmachen. Das ist beschämend. Roger Köppel schreibt in der Zürcher Weltwoche, dass die Demokratie in Deutschland noch sehr jung sei. Noch gilt das Grundgesetz. Diese Beobachtung ist so zutreffend wie beschämend. Deutschland macht sich lächerlich. Das Parteiensystem ist dabei, ganz zu versagen, weil es die rechtlichen Bedingungen und Ordnungen leichtfertig zu übertölpeln versucht.
Es ist ihnen gelungen.