Mit ihrer in Buchform veröffentlichten Kritik an parteipolitischen Postenbesetzungen und Reform-Blockaden im österreichischen Schulwesen hat Susanne Wiesinger in ein Wespennest gestochen. Gleichzeitig überlagert die Kontroverse darüber und über ihre Abberufung durch den parteilosen Bildungsminister Heinz Faßmann das Kernanliegen von Wiesinger, die bis vor wenigen Tagen „Ombudsfrau für Wertefragen und Kulturkonflikte“ in Österreichs Bildungsministerium war.
Spannender als ihre Kritik am Einfluss der Parteien ist der Spot, den sie auf die Zustände in Österreichs Schulen richtet. Sie besuchte Schulen, sprach mit Lehrern, Schülern, Eltern, Schulbetreibern. Ihr aktueller „Tätigkeitsbericht der Ombudsstelle für Wertefragen und Kulturkonflikte“ enthält Sprengstoff. Da heißt es: „Die durch Migrationsbewegungen ausgelöste zunehmende Heterogenität Österreichs stellt auch Bildungseinrichtungen vor neue Herausforderungen. Durch das Zusammentreffen von Menschen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen, Erwartungen, kulturellen Identitäten und Lebensstilen kann es im Schulalltag zu Spannungen und Konflikten kommen.“
Rassismus an Schulen alltäglich
Es habe sich gezeigt, „dass Rassismus an Schulen alltäglich ist“. 2018 seien 260 Diskriminierungsfälle an Schulen und Universitäten in Österreich gemeldet worden, wobei in 48 Prozent der Fälle Religion und Weltanschauung als Gründe genannt wurden, in 45 Prozent der ethnische Hintergrund oder die Hautfarbe. Der Anteil der Schüler mit ausländischer Staatsbürgerschaft liegt heute in Österreich bei 16 Prozent, in der Stadt Wien bei 30 und in den Neuen Mittelschulen der Hauptstadt sogar bei 41 Prozent. Laut Statistik Austria sprechen 52 Prozent der Wiener Schüler im Alltag eine andere Sprache als in der Schule. An manchen Wiener Brennpunktschulen haben 90 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund.
Innerhalb der Klassen herrsche großer Druck, gewisse Kleidervorschriften einzuhalten, heißt es im Bericht. Mädchen würden bedrängt, den Hijab zu tragen. Andererseits würden Lehrkräfte „Kinder mit Migrationshintergrund bei gleicher Leistung benachteiligen und niedrigere Erwartungshaltungen an diese haben“. Lehrer widersprechen: Nicht der Migrationshintergrund sei die Ursache dafür, sondern familiäre Umstände. Während Lehrer bei anderen Kindern „stark auf die familiäre Unterstützung zuhause bauen“, hätten Eltern von Migrantenkindern oft einen geringeren Bildungsabschluss und Berufsstatus.
Eine Wiener Lehrerin, von türkischen Eltern der Diskriminierung beschuldigt, sagt: „Oft wird man als Lehrerin sofort als Rassistin abgestempelt, auch wenn man die Noten ganz objektiv vergibt.“ Umgekehrt werde die Diskriminierung von Lehrerinnen durch Schüler oft aus Scham nicht besprochen, so die Studie. Lehrerinnen würden von männlichen Jugendlichen nicht ernst genommen oder wegen ihrer Kleidung gedemütigt. Eine aus Syrien stammende Lehrerin wurde an einer Wiener Mittelschule gefragt, warum sie keinen Hijab trage. „Als sie entgegnete, dass sie keine Muslima und nicht religiös sei, ist sie auf große Ablehnung gestoßen. Insbesondere die Mädchen wollten nicht mehr mitturnen.“
Werte wie Gleichberechtigung, Respekt, Religionsfreiheit sollen gelten
Der Bericht empfiehlt schulinterne anonyme Befragungen von Schülern und Mitarbeitern zu Diskriminierungserfahrungen. „Erst wenn wirklich bekannt ist, wie sehr dieses Thema bereits den Schulalltag bestimmt, kann man zielgerichtet dagegen vorgehen.“ Werte und Haltungen der Schulleitung sollten bereits im Erstgespräch mit den Eltern deutlich gemacht werden. Es müsse von Beginn an allen bewusst sein, „dass diskriminierendes und gewalttätiges Verhalten keinen Platz an der Schule hat und Werte wie Gleichberechtigung, Respekt, Religionsfreiheit gelten“. In der Pubertät seien rassistische Aussagen oft ein „Versuch Aufmerksamkeit zu erregen oder Selbstzweifel, Wut oder Machtkämpfe auszudrücken“. Der Bericht nennt viele Integrationsmaßnahmen, vom Einsatz interkultureller Mitarbeiter und Integrationsbotschafter über Verhaltensvereinbarungen bis zur Vermittlung von Wissen über fremde Kulturen, Religionen und Traditionen.
Fakt ist aber, dass physische und psychische Gewalt sowie Mobbing zum Schulalltag gehören. Für manche der Schüler sei Gewalt eine Normalität, weil sie „zu Hause gewaltbereite Vorbilder erleben“, für andere sei sie ein Mittel, „um ihrem Frust oder Ärger Luft zu machen“. Der Bericht zitiert eine Schulleiterin, die meint, Kinder mit Migrationshintergrund hätten oft „keine Vorbilder, die ihnen eine Perspektive geben oder richtiges Verhalten vorleben“. Sie wüssten gar nicht, dass man mit Bildung vieles erreichen kann.
„Wie hoch die Dunkelziffer an tatsächlichen
Gewaltdelikten an österreichischen Schulen
ist, kann niemand genau sagen“
Im Schuljahr 2017/18 gab es 847 Anzeigen und 857 Polizeieinsätze wegen schwerer Gewaltvorkommen an Österreichs Schulen, zumeist in Wien. Doch: „Wie hoch die Dunkelziffer an tatsächlichen Gewaltdelikten an österreichischen Schulen ist, kann niemand genau sagen.“ Aus diversen Gründen werde oft keine Anzeige erstattet. Der Bericht hält es für erwiesen, dass „Kinder und Jugendliche aus Migrationsfamilien oder mit anderen ethnischen Zugehörigkeiten besonderer Unterstützung im Zusammenhang mit Mobbing und Gewalt bedürfen“. Das entspricht der Analyse des österreichischen Integrationsberichts 2019: „Immer wieder werden eine Verbreitung von unzeitgemäßen Rollenbildern, kulturell bedingter Gewalt, religiöse Radikalisierung und ein verstärkter Ehrbegriff unter Jugendlichen dokumentiert.“
Und weiter: „Vor allem Jugendliche aus bestimmten Herkunftsgruppen muslimischer Prägung weisen vermehrt auf subjektive Diskriminierungserfahrungen hin, gehören jedoch gleichzeitig selbst zu jener Gruppe, die andere häufig abwertet.“ Cyber-Mobbing ist laut Wiesinger bisher seltener als „herkömmliches Mobbing in der Schule“, doch könnten die Folgen „deutlich weitreichender sein“. Durch die sozialen Medien habe die Dynamik in Konflikten „rasant zugenommen“. Da werden Nacktaufnahmen über das Internet verschickt, körperliche Angriffe gefilmt und ins Netz gestellt, pornografische Videos verbreitet. Gleichzeitig werde der Wortschatz und die sprachliche Ausdrucksweise vieler Kinder immer enger, so dass viele ihre Gefühle kaum noch ausdrücken können.
Mädchen haben Angst vor Zwangsheirat
Offenbar wird manchen Buben zuhause eingetrichtert, dass sie in der Schule „die Ehre“ ihrer Schwestern oder Cousinen zu verteidigen haben. Mitunter seien es die Mädchen selbst, die ihre Brüder auffordern, Konflikte für sie körperlich auszutragen. Auch Fälle von weiblicher Genitalverstümmelung „im Sommer im Rahmen eines Urlaubs im Herkunftsland“ werden im Bericht thematisiert. Immer wieder wenden sich Mädchen an Lehrpersonen, weil sie Angst vor einer Zwangsheirat haben. Falls diese Mädchen danach überhaupt zurück nach Österreich kommen, sei der Weg aus der Zwangsehe „schwierig, mitunter gefährlich und emotional stark belastend“.
Wiesingers Bericht fordert Null-Toleranz gegenüber Gewalt an Schulen, aber auch Workshops mit der Polizei, „um Jugendlichen die strafrechtliche Dimension ihres Handelns aufzuzeigen“. In Gesprächen mit der Ombudsstelle sei „der Einfluss radikaler Imame sowie islamischer Religionslehrer“ häufig erwähnt worden. Nach den Sommerferien in islamischen Schülerheimen seien manche Schüler „wie ausgewechselt“. Eltern mit Migrationshintergrund seien oft in der „emotionalen Zwickmühle“, weil sie den Kindern die besten Chancen in Österreich wünschen, aber zugleich fürchten, sie zu verlieren. Darum werde die Verbindung zur Herkunftskultur überbetont.
Kinder wird durch strafenden Gott Angst gemacht
Ausdrücklich kritisiert Wiesinger, die 25 Jahre Lehrerin in Wien und in der roten Lehrergewerkschaft aktiv war, das muslimische Religionsbuch „Islamstunde“, in dem „nur eine bestimmte Lebensweise und nur ein ganz bestimmtes Verständnis der Religion als richtig dargestellt“ werde. Kindern werde durch einen strafenden Gott Angst gemacht, abweichende Haltungen würden als Hochmut abgewertet.
Viele muslimische Mädchen dürften weder am Schwimmunterricht noch an Schulsportwochen teilnehmen. Wiesingers Resümee über Jugendliche mit Migrationshintergrund: „Viele von ihnen, die sich in Österreich nicht ausreichend zuhause fühlen, definieren sich verstärkt über ihre Religion und die Nationalität und Kultur des Herkunftslandes.“ Essentiell sei darum, betont Wiesinger, die Vermittlung eines gemeinsamen Wertekanons.
Dieser Beitrag von Stephan Baier ist zuerst bei Die Tagespost erschienen.