»Das ist gemein, Papa!« – »Ja, stimmt, aber wer ist es, der gemein ist?« – »Du, natürlich!« – »Ich? Nein, nicht wirklich. Es ist die große Zeit, mein Kind. Es ist unser aller Zeit, die begrenzt ist, und ich bin es nicht, der die Zeit endlich machte, der allen und jedem dieselbe Zahl an Minuten pro Tag gab.« – Von solcher Art in etwa, vielleicht ein wenig weniger poetisch, ist mancher Dialog, den ich in diesen Jahren mit unseren entzückenden Kindern führe.
Ach, wie viele Möglichkeiten und Gelegenheiten bieten sich doch einem Kind, wenn es heute (in den von Konsum und Lebensfreude geprägten Teilen der Welt) aufwächst!
All die Optionen eines Kindes aufzuzählen, würde schnell den Rahmen des Sinnvollen sprengen, ob es nun um Sportarten, Instrumente, Schulprojekte, nachmittägliches »Abhängen mit Freunden«, Veranstaltungsbesuche oder elektronische Ablenkung geht; allein die Zahl der möglichen Rollsportarten (aus dem Gedächtnis: Inline-Skates, Rollschuhe, Skateboard, Waveboard, Hoverboard, Scooter) ist mehr als ein einzelner Mensch sinnvoll regelmäßig treiben kann.
Die Aufzucht von Menschenjungen teilt mit der Philosophie, dass beide uns zwingen, vermeintlich Selbstverständliches zu begründen, und darin ganz konkret dem stets jungen Auftrag der ganz alten Griechen zu folgen: Γνῶθι σεαυτόν! – »Erkenne dich selbst!«, und sich zu entscheiden, für Skaten oder Judo, für Klavier oder Geige, das ist ein ganz vorzügliches Mittel, etwas über sich selbst zu lernen.
»Entscheide dich!«, so sage ich meinen Kindern. Natürlich darf und soll man vieles probieren, gerade wenn man noch in den Lehrlingsjahren seiner Karriere als Lebender steht, doch dass wer drei Tauben zugleich jagt, keine einzige davon fangen wird, das gilt ja auch für Menschenwelpen.
Kleid ohne Taille
Wer je in konservativ muslimischen Gegenden unterwegs war, etwa in Saudi Arabien, Afghanistan oder Neukölln, der hat sie schon gesehen: die Ganzkörperverhüllung von Frauen, zum Beispiel als Burka (bekannt ist etwa die afghanische Variante mit Gitter vorm Gesicht), oder als Kombination von Niqab, dem Gesichtsschleier, und Abaya, dem hochgeschlossenen, langärmligen Kleid ohne Taille.
Eine Voraussetzung menschlichen Miteinanders ist die Kommunikation der Bürger untereinander, und das gilt in besonderem Maße für das Gelingen der demokratischen Gesellschaft, die ja auf den Prinzipien Debatte und (mehr oder weniger freiwilliger) Rücksichtnahme fußt, und ohne diese nicht bestehen kann und wird. Es ist eine banale Einsicht, dass menschliche Kommunikation zum guten Teil nonverbal abläuft. Warum sitzen denn jeden Morgen Tausende von Geschäftsleuten im Business-Flieger, und verbringen einen ganzen Tag unterwegs, um an einem einstündigen Meeting teilzunehmen, statt ein paar E-Mails auszutauschen? Weil Kommunikation zum guten Teil nonverbal geschieht! Was das Gegenüber wirklich meint, das finden wir am ehesten heraus, wenn wir ihm in die Augen sehen, sein Gesicht beobachten während er spricht, all die kleinen Indikatoren wahrnehmen, die zu lesen und zu bewerten uns die Evolution beigebracht hat.
In allen modernen westlichen Gesellschaften gilt es als Konsens, dass Menschen ihr Gesicht zeigen, um und wenn sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. In manchen Demokratien wurden sogar Gesetze zu diesem Zweck erlassen (wenn sie auch nur selten konsequent durchgesetzt werden). Gesicht zu zeigen ist eigentlich Konsens, doch unter denen, die sich aus dem Konsens herausnehmen (oder: herausgenommen werden?), sind zwei Gruppen besonders bekannt: Die Schlägertrupps der sogenannten »Antifa« und vollverschleierte Frauen muslimischen Glaubens.
Beide Gruppen, Antifa-Schläger und vollverschleierte Frauen muslimischen Glaubens, finden interessanterweise politischen Rückhalt in ein und demselben Lager.
Eine aktuelle Meldung: In Schleswig-Holstein sollte ein Verbot der Vollverschleierung im Hochschulgesetz verankert werden. Man stelle sich das einmal vor: Sie sitzen in einem Seminar, wollen Theorien und Fakten diskutieren, wollen auch mal Ideen ausprobieren, und auf einem Stuhl sitzt jemand, der vollständig in ein formloses Stück Tuch eingewickelt ist, das Gesicht unsichtbar, und man weiß gar nicht, was bedrohlicher ist: Wenn der Stoff lautlos bleibt oder wenn die Stimme des Menschen darin etwas sagt. (Wie wird eigentlich die Identität und Anwesenheit von Studenten kontrolliert, wenn der Mensch nur als umherwandelnde, gesichtslose Stoffhülle auftritt? Wenn wir eine Minute darüber nachdenken, stellen wir fest, dass es philosophisch auf eine vollständige Aufhebung des Indiviuums herausläuft – wie kann man das als Demokrat als »Religionsfreiheit« abnicken?! Und: Wofür will überhaupt jemand, der aus Überzeugung vollverschleiert ist, am Uni-Betrieb teilnehmen, statt dieselben Inhalte etwa an einer Fernuni ganz ohne Menschenkontakt abzugreifen? Will man sehen, aber nicht gesehen werden?
Das Verbot der Vollverschleierung an der Uni Kiel ist an den Grünen gescheitert (siehe ndr.de, 31.1.2020) – wenig überraschend.
Die Grünen bringen als Argument vor, es sei ein Zeichen von »Religionsfreiheit« und »Weltoffenheit«, Vollverschleierung zu gestatten. Es wäre müßig, hier in Wortexegese oder Argumentation einsteigen zu wollen. Du kannst nicht (wirklich sinnvoll) gegen jemanden argumentieren, der Worte und Begriffe als emotionale Farbkleckse nutzt, nicht als Träger von Bedeutung, Wirkung und Konsequenz, der überhaupt keinen Anspruch stellt an die logische Kohärenz seiner Aussagen, dem die praktische Konsequenz seiner Forderungen und Handlungen reichlich egal ist, der überhaupt leugnet, dass eine mit angenehmem Bauchgefühl und ideologischem Feuer ausgeführte Handlung negative, ethisch böse Konsequenzen haben könnte.
Nein, die Frage ist nicht, welche innere Logik oder gar ethische Verantwortung die Forderung der Grünen hat. Die Frage ist, wie eine Gesellschaft so orientierungslos sein kann, Grünes Nichtdenken auch nur halb ernst zu nehmen, die Grünen sogar gewähren zu lassen.
Derweil, von den Nachbarn der Deutschen, im Land wo Polizei und Feuerwehr einander mit dem Knüppel »bonne nuit« sagen (dailymail.co.uk, 29.1.2020), hören wir eine weitere Meldung: Eine 16-jährige Schülerin namens Mila hat in einem Social-Media-Video den Islam kritisiert, und sie tat es in sehr derber Sprache (als »Scheiße« befand sie jene Religion etwa, so die Zeitung). Nun fürchtet sie um ihr Leben, wird als »gottlose Schlampe« beschimpft und die Polizei riet ihr, zu ihrer Sicherheit unterzutauchen (siehe auch faz.net, 30.1.2020).
Wie auch bei manchen Grünen erübrigt sich bei ihren ideologischen Wutbrüdern, gewaltbereiten Islamisten, der Versuch rationaler Debatte. Wenn du einer Geisteshaltung vorwirfst, sie sei einen Hauch zu aggressiv (»voller Hass«), und deren Anhänger dir als Reaktion mit dem Tod drohen, wie argumentiert man ab dem Punkt weiter?
Immerhin muss man Frankreich zugestehen, diesen Fall überhaupt zu diskutieren – in Deutschland würde das Mädchen wahrscheinlich fertiggemacht werden, und wir ahnen auch, von wem.
»Nur ein gewöhnliches weißes Mädchen«
Die tiefere Motivation von Burka & Co. scheint zunächst einfach erklärbar zu sein: Es wird die Scham der Frau verdeckt, auf Arabisch: ʿAura. – Auch wir im »ungläubigen« Westen kennen das Konzept der Scham (hoffentlich). Ein Mann oder eine Frau, die in Deutschland ohne Hose oder Unterhose auftreten, werden in Probleme geraten. Dort, wo Frauen eine vollständige Verhüllung nahegelegt wird, dort gilt der gesamte Körper der Frau als Schambereich betrachtet, den nur der Ehemann sehen darf (man vergleiche Hijab-Trägerinnen, die sich ohne ihr Kopftuch »nackt« fühlen).
Man könnte vermuten, dass es einen weiteren Grund geben könnte, gerade im Westen als Muslimin die entsprechenden Kopfbedeckungen zu tragen: Die bekannte amerikanische »Israelkritikerin« Linda Sarsour sagt von sich (meine Übersetzung): »In dem Moment, als ich ihn [den Hijab] anzog, fühlte ich meine Identität vollständig werden«, und dann weiter, mit spürbarem Ekel in der Stimme (bewerten Sie es selbst, via YouTube): »Als ich keinen Hijab trug, war ich nur ein gewöhnliches weißes Mädchen aus New York City. Den Hijab zu tragen sagt dir, dass ich Muslimin bin.« (wörtlich, »The minute I put it on, I felt like my identity became whole. When I wasn’t wearing Hijab, I was just some ordinary white girl from New York City, wearing Hijab made you know I was muslim«, siehe Vox/YouTube)
Jeder Mensch sehnt sich danach, Anerkennung zu erhalten, bewundert und respektiert zu werden – oder zumindest wahrgenommen. Man könnte versuchen, sich durch Fleiß und Leistung, durch Freundlichkeit oder geistige Brillanz hervorzutun. Man könnte seinen Mitmenschen dienen und nützlich sein wollen, um sich so etwas wie Respekt zu erarbeiten. Oder man kann ein Stück Tuch anziehen, und schon wird man beachtet. Das Kopftuch scheint zumindest Frau Sarsour gewissen Anlass und einen inneren Vorwand gegeben zu haben, auf andere Menschen hinabzuschauen.
In einer säkularen Gesellschaft einen Hijab zu tragen, provoziert und sollte provozieren, denn er kommuniziert sichtbar und ununterbrochen, so implizit wie unübersehbar: »Ich bin gläubig, du bist Kuffar.« Und, weiter implizit, aber doch logisch: »Ich habe meine Scham verdeckt, und die anderen Frauen haben es logischerweise nicht.«
Gemäß der mit Ekel vibrierenden Worten einer Linda Sarsour ist meine Tochter wohl nur »some ordinary white girl«. In der Perspektive des französischen Islamrates sind die Drohungen gegen Mila gerechtfertigt. Wer »Wind gesät« hat, der müsse »mit Sturm rechnen« (welt.de, 2.2.2020). Wenn die Werte des Demokratie etwas bedeuten, wie sollen sie mit jenen Werten vereinbar sein?
Eine Denkweise, die nicht-muslimische junge Frauen als »gewöhnliches weißes Mädchen« geringschätzt (um hier unhöflichere Ausdrücke außen vor zu lassen), eine Denkweise, die Hass und Drohungen als gerechtfertigt ansieht, weil jemand sie zutiefst ablehnt, wie bringen wir das mit unserer Idee von Demokratie zusammen?
Über und außerhalb
Meine Kinder müssen sich entscheiden, welche der vielen möglichen Hobbys sie auswählen. Irgendwann werden sie sich für einen Beruf entscheiden müssen. Sicherlich kann man eine Entscheidung später auch korrigieren (auch wenn die Zeit nicht wiederkommt). Skateboards sind super, Judo auch und Schwimmen ebenso, doch mit dem Skateboard im Schwimmbecken zum Judo anzutreten, das geht leider nicht, und entgegen dem spontanen Frustgefühl meiner lieben Kinder ist es nicht meine Schuld, dass es so ist.
Es ist nun seit Jahren überfällig, dass der Westen sich entscheidet, wie er zum Islam steht. – Wollen wir eine moderne säkulare, demokratische und freiheitliche Gesellschaft, wo alle Menschen »Gesicht zeigen« – oder wollen wir archaische Denkweisen tolerieren (und so fördern!), wo der Körper der Frau ein einziger großer Schambereich ist, der vollständig verhüllt werden soll? Wollen wir eine demokratische, freiheitliche Gesellschaft sein, wo die Gesetze der Demokratie über allen anderen Gesetzen stehen, oder wollen wir im Namen der Toleranz zulassen, dass de facto ein »Gottesstaat im Sozialstaat« entsteht, wo eine bestimmte Denkweise über den Gesetzen steht, über den Rechten und Freiheit des Individuums, über und außerhalb aller (kritischen) Debatte?
Es gibt, mindestens im Persönlichen, mehrere gute Gründe, warum wir uns immer wieder entscheiden müssen:
- Unsere Lebenszeit ist begrenzt – wer das eine tut, kann nicht das andere tun.
- Aufmerksamkeit kostet Kraft, und auch die ist begrenzt.
- Unsere finanziellen Ressourcen sind begrenzt, und selbst wenn wir Schulden aufnehmen, erreichen wir irgendwann Grenzen.
- Es ist logisch unmöglich, sich für zwei Dinge mit voller Ernsthaftigkeit zu entscheiden, wenn die Dinge einander schwächen und ausschließen.
Ein altes Sprichwort mahnt, dass man nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann. »Niemand kann zwei Herren dienen«, sagt Jesus (Matthäus 6:24a): »Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten.«
Wir können nicht glaubwürdig von der unantastbaren Würde des Menschen reden (Art. 1 GG), und zugleich zulassen, dass Frauen zu wandelnden Stoffhaufen reduziert werden. Wir können nicht glaubwürdig von Meinungsfreiheit reden (Art 5. GG), aber eine Denkweise aus der Kritik herausnehmen. Wir können uns nicht glaubwürdig Demokraten nennen, wenn wir akzeptieren, dass sich in und über der Demokratie ein überlagerndes Rechtssystem bildet. Die Freiheit des Glaubens ist unverletzlich und die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet, so sichert Artikel 4 des Grundgesetzes uns zu, doch erlauben Sie mir eine theoretische Frage: Was wenn eine Religion forderte, alle übrigen Artikel des Grundgesetzes außer Artikel 4 zu streichen? Wir würden es natürlich nicht zulassen, doch wo ziehen wir die Grenze? Nein, das ist keine (rein) rhetorische Frage und auch keine Einladung zur argumentativen Rutschbahn der schiefen Ebene (siehe Wikipedia), es ist eine der drängendsten Fragen der Gegenwart: Wir brauchen dringend eine definierte Grenze, an der wir zur Bewahrung der Demokratie sagen: »Sorry, liebe Religion, bis hierhin, und nicht weiter.«
Denkbar einfach
Ich bringe meinen Kindern bei, sich zu entscheiden – und dabei zu bedenken, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen haben werden. Es wäre dringend notwendig, dass auch Deutschland sich entscheidet, auch zum Thema Islam, und sich der Konsequenzen bewusst ist.
Die Frage ist denkbar einfach: »Ist Religionsfreiheit absolut?« – Und wer automatisch verneint, der sei zurückgefragt: Nach welchen Kriterien entscheiden wir, wo die Grenze verläuft? Nach der Lautstärke der Empörung? Nach finanziellen Interessen? Nach Umfragen? – Oder, anders: Würden wir Vollverschleierung und Drohungen auch dann hinnehmen, wenn die politischen, finanziellen und demoskopischen Verhältnisse andere wären?
Ich weiß, ich weiß: Es sind unangenehme Fragen, besonders wenn man zu der Art von Leuten gehört, die als Kinder beim Versteckenspielen die Augen schlossen, und dann meinten, sie seien unsichtbar.
Wer sich nicht selbst entscheidet, für den werden andere entscheiden. Meine Kinder beginnen, das zu begreifen. Ich hoffe, dass auch Deutschland das bald begreift. Entscheide und handle, oder andere werden für dich entscheiden – und du wirst ihr Handeln spüren.
Entscheidet euch – und wenn ihr euch für den Gottesstaat entscheidet – dann wäre es mir zwar denkbar unlieb, aber immerhin wäre da ehrliche Klarheit. Wenn ihr euch aber wieder und endlich für die Demokratie entscheidet, dann seid konsequent, denn sonst war es gar keine Entscheidung, sondern hohles Geschwätz!
Entscheidet euch, so klug und gewissenhaft wie ihr könnt, aber entscheidet euch!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.