Tichys Einblick
Fünf Jahre nach 2015

Recht bleibt Recht und Unrecht bleibt Unrecht

»Mitgefühl ersetzt kein Recht«, sagt Ex-Bundesverfassungsrichter Papier. Er meint Asylpolitik unter Merkel. Dushan Wegner fürchtet die Erosion des Rechts, und noch mehr fürchtet er den Moment, wenn es uns nicht mehr wütend macht.

Getty Images

Die Lehrer, die mich das Denken lehrten, waren oft solche, denen ich täglich und mit Verve widersprach. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch, und gewiss kein klügerer. Doch, nicht alle und alles, was mich lehrte und mich zum Widerspruch drängte, war ein Lehrer – ja, nicht einmal ein Mensch!

Im Essay »Warum ist der Turm von Pisa schief?« schreibe ich:

»Wenn der in Gefangenschaft aufgewachsene Panther die Freiheit fürchtet, könnt ihr ihn noch so oft freilassen, er wird doch immer wieder aus dem Dschungel zurück in den Käfig kriechen. (Warum sollte der Panther auch nach draußen wollen, wenn er doch meint, dass hinter tausend Stäben keine Welt liegt?)«

Der zu Heiligabend letzten Jahres veröffentlichte Text nennt die Quelle dieses Sprachbilds nicht – Sie kennen die Quelle ja – es ist »Der Panther« von Rainer Maria Rilke. Damals rieb ich mich daran, und es ärgert mich immer noch. Dieses Gedicht lehrt mich, indem ich ihm widerspreche!

Lasst uns »Der Panther« gemeinsam lesen, auf dass wir widersprechen dürfen:

Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

(via de.wikisource.org)

Der Jardin des Plantes ist einer jener berühmten Gärten, die einst dazu beitrugen, dass Paris als Stadt von geradezu schmerzhafter Schönheit galt (wenn Sie selbst noch nicht dort waren, finden Sie auf jardindesplantesdeparis.fr/en ein paar wunderschöne Fotos).

Um die letzten Jahrhundertwende, vor hundertzwanzig Jahren also (»Ist es wirklich schon so lange her?!« »Ja, ist es.«), und damit in den Jahren 1902 oder 1903, als Rilke dieses Gedicht schrieb, wurden im Jardin des Plantes wilde Tiere in kleinen Käfigen ausgestellt, zur Belustigung und Bildung der Bewohner (und manchmal als Zeichenvorlage, siehe Zeichnung von Zeichnenden bei wikimedia.org).

Rilke beschreibt eine Szene, die er wahrscheinlich genau so gesehen hat. Rilke beschreibt nicht nur die Szene, wie sie sich von außen darstellt, er schreibt auch dem Tier gewisse innere Zustände zu (»so müd geworden«), und er deutet (»betäubt ein großer Wille«).

Ich widerspreche diesem Gedicht, doch dazu kommen wir gleich – zuerst ein Blick auf die Nachrichten!

Höchster Richter a.D.

Einst war Hans-Jürgen Papier der Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Letztens veröffentlichte er ein Buch mit dem knappen Titel »Die Warnung« und dem ausgiebigen Untertitel »Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Deutschlands höchster Richter a.D. klagt an«.

Papier stellt fest, dass »politische Willkür das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie und ihre Funktionsfähigkeit erschüttert hat«. Merkels Entscheidung, 2015 die Grenzen offen zu halten, nennt er einen »Rechtsbruch«. Ausführliche Rezensionen finden sich etwa bei der Legal Tribune Online, lto.de, 2.12.2020, und aktuell bei focus.de, 22.1.2020.

Wir kennen die Kritik und die Argumente. Wer seine Ohren offen und sein Gehirn in Betrieb hält, der ahnte und sagte schon 2015, dass das alles doch nicht Recht sein kann, und seit 2015 wurde man fürs Aussprechen dessen, was für Augen und Verstand offensichtlich ist, übelst beschimpft.

Rilke sieht das Verhalten des Tieres im Käfig, und er überlegt, was in Kopf und Seele des Tieres vorgehen könnte. Merkel sah das Verhalten der Deutschen, und sie erstellte Thesen davon, was in den Deutschen vorging – oder nicht-vorging.

Wenn Merkel die These aufgestellt hätte, dass die Deutschen sich wie der Panther in Rilkes Pariser Käfig mit ihrem Schicksal abfinden würden, wie falsch läge sie?

Natürlich weiß auch Rilke nicht, was wirklich in Kopf und Seele eines Panthers passiert. Natürlich schreibt Rilke über uns, über die Menschen.

Wer ist es, den dieser in Prag geborene Österreicher (damals war Prag ein Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wie ganz Böhmen) für den wahren Panther hielt?

In »Razzien, Deiche und der Bau der Chinesischen Mauer« (einem Essay, der sich auf einen anderen berühmten in Prag geborenen Deutschsprachigen beruft – Kafka), notiere ich ein Zitat von John Donne, das durch den Wahl-Pariser Hemingway berühmt wurde, und zwar: »never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee« – in etwa: »frage nicht, für wen die Glocke schlägt; sie schlägt für dich«.

Wer ist der Panther?

Wir selbst sind der Panther. Wir – Sie, ich, unsere Kinder, unsere Eltern – sind der Panther.

Seit 2015 erleben wir, wie das Recht oder zumindest die Werte der Demokratie verachtet werden. Maaßen wollte man fertigmachen, als und weil er die Wahrheit sagte. Gestalten wie Frau von der Leyen machen große und größte Karriere. Demokratie und Rechtsstaat sterben vor unseren Augen, stranguliert von Eliten ohne Anstand – und scheinbar ohne große Furcht, abgewählt zu werden. Unser Blick ist »müd geworden« vom »Vorübergehen der Stäbe«.

Selbst diejenigen von uns, die sich noch wehren, die alles prüfen, wenig glauben und selbst denken, wirken sogar in unseren stärksten Momenten immer auch ein wenig, als wären sie in einem »Tanz von Kraft um eine Mitte« gefangen, eine Mitte, »in der betäubt ein großer Wille steht«. – Ist es denn wahr? Haben wir noch Kraft, ist da noch ein Funke, ist da noch, betäubt oder nicht, ein »großer Wille«, der uns treibt?

Das Bild im Herzen

Der dritte und letzte Vers beginnt zunächst, als hätte der Panther doch noch Hoffnung: »manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf«, dann »geht ein Bild hinein«, in den Geist, in den Panther, »durch der Glieder angespannte Stille«, doch schließlich – hier erlischt der Hoffnungsfunke wieder, »hört [das Bild] im Herzen auf zu sein« – und das ist der Punkt, an dem ich widerspreche!

Ja, es ist ein Mensch, den Rilke als Panther beschreibt. Er selbst ist es (sein äußeres wie auch sein inneres Leben waren denkbar schwierig). Wir sind es. Der Mensch selbst ist es. Ich habe arme und reiche Menschen getroffen, junge und alte, kranke wie gesunde, doch ich habe noch keinen Menschen getroffen, der nicht auch ein wenig wie der Panther wäre, tausend Stäbe abschreitend, Tag für Tag. Und wieder: Hier ist der Punkt, an dem ich widerspreche!

Der Panther irrt darin, dass es keine Welt hinter den Stäben gebe. Und, anders als das arme Tier im zu kleinen Käfig, sind manche der Stäbe, hinter denen wir selbst gefangen sind, unser eigenes Werk.

Es ist fünf Jahre nach 2015. Seit fünf Jahren haben Millionen von uns das Gefühl, dass in Deutschland und Europa der Unterschied zwischen Recht und Unrecht verwischt wurde. Als »Recht« scheint zu gelten, wozu via Staatsfunk und Propaganda die Gefühle der wahlrelevanten Masse aufgepeitscht werden – und zugleich werden vollständig legale Handlungen von Regierung, Staatsfunk und Propaganda so lange verunglimpft (teils mit offenen Unwahrheiten, etwa »Hass ist keine Meinung«), bis Menschen glauben, es wäre verboten. Wen soll man fragen, was erlaubt ist und was verboten? Die Juristen und Rechtsgelehrten – oder die Stimmungsmacher in NGOs und Staatsfunk, oder gleich die Schläger der Antifa-Antidemokraten?

Ich bin noch immer wütend, wenn die Grenze zwischen Recht und Unrecht verschwimmt. Ich bin noch immer wütend, auch fünf Jahre später, wenn eiskalte Ideologen und leichtgläubige Mitläufer das zerstören und verscherbeln, wofür Generationen hart gearbeitet haben.

Ja, viele von uns sind noch immer wütend, und das ist gut so. Es ist gut und wichtig, wütend zu sein, wenn etwas geschah, das uns wie Unrecht erscheint.

Ja, wir könnten uns abfinden. Wir könnten verstummen. Wir könnten sogar vor uns selbst stumm werden, uns abzufinden suchen, und jede Hoffnung, jedes neue »Bild« »im Herzen« sterben lassen wie Rilkes trauriger Panther.

Rilkes Panther soll mir ein Lehrer sein, indem ich ihm widerspreche. Mein Blick mag an manchen Tagen »müd geworden« sein, doch das heißt nicht, dass mein Blick nicht immer wieder neu wach werden kann!

Wir könnten uns einreden, es habe schon seine Ordnung, dass die Wahrheit zu sagen oder dich mit der Opposition zu treffen dich den Job kosten kann – es ist nicht in Ordnung, es ist nicht richtig, und wenn es uns auch heute noch wütend macht, heißt das, dass unser Gewissen noch schlägt!

Was in Deutschland passiert, wirkt wie die Erosion des Rechts und des Rechtsstaats, das Zerbröseln der Fundamente, auf denen Demokratie und Gesellschaft stehen.

Ich fürchte die Erosion des Rechts – und noch mehr fürchte ich den Moment, wenn es uns nicht mehr wütend macht!


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

Die mobile Version verlassen