Weil die Linkspartei per kleiner Anfrage an die Bundesregierung in Erfahrung brachte, dass im bisher letzten statistisch ausgewerteten Steuerveranlagungsjahr 2015 nicht weniger als 1,7 Millionen Menschen mit monatlichen Einkünften zwischen 5.000 und 7.000 Euro bereits den Spitzensteuersatz von 42 Prozent bezahlen müssen, plädierte ihr Fraktionschef Dietmar Bartsch Anfang der Woche für Steuersenkungen: „Es kann nicht sein, dass Facharbeiter in Deutschland zu Spitzenverdienern erklärt werden. Eine große Steuerreform muss natürlich kleine und mittlere Einkommen entlasten.“
Dass FDP-Chef Christian Lindner diese alte urliberale Forderung nach einer Entlastung der leistungsfähigen Mittelschicht aufgriff, versteht sich von selbst. Linke und Liberale Arm in Arm für Steuersenkungen? Zu schön, um wahr zu sein. Denn die Gemeinsamkeit hat natürlich sofort ein Ende, wenn man sich den Wünsch-Dir-Was-Katalog zum „Sozialstaat der Zukunft“ der Linkspartei anschaut, den deren Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger vorletzten Sonntag vorstellten. Beispiele gefällig: Mindestrente und solidarische Mindestsicherung von 1.200 Euro monatlich; Mindestlohn von 13 Euro pro Stunde; kostenfreier öffentlicher Nahverkehr und so weiter und so fort. 120 Milliarden Euro will die Partei nach eigener Rechnung jährlich in den Ausbau von sozialen Dienstleistungen und in Infrastruktur stecken. Das Geld will man bei den Reichen holen – mit deutlich höheren Steuersätzen von 60 bis zu 75 Prozent bei monatlichen Einkommen von mehr als 7.100 Euro. In diesem programmatischen Kontext liest sich die Steuersenkungsforderung von Dietmar Bartsch für die kleinen und mittleren Einkommen doch eher wie ein liberales Feigenblatt.
Trotzdem hat Bartsch den Fokus auf ein Kernproblem unseres Fiskalstaats gerichtet. Es ist aberwitzig, wie der Fiskus die gut situierten Mittelschichten der Gesellschaft immer stärker schröpft. Dass die Linkspartei vernehmbar und zu Recht auf die hohe Steuer- und Abgabenquote dieser Einkommensgruppe aufmerksam macht, kontrastiert erfreulich mit den jüngsten Äußerungen der neuen SPD-Vorsitzenden Saskia Esken, die Steuersenkungen fast apodiktisch als „gefährlich“ einstufte. Sie will das Geld beim Staat, statt es den Bürgern zu belassen. Erfreulich wenigstens, dass inzwischen Sozialdemokraten wie Thomas Oppermann und Johannes Kahrs ihrer Vorsitzenden in die Parade fahren und ebenfalls Entlastungen für die Mittelschicht anmahnen. Ansonsten verstärkte sich der Eindruck, dass die SPD die Linkspartei links zu überholen versucht. Schon in der Migrationsdebatte waren damals von Sarah Wagenknecht realistischere Töne zu vernehmen als aus der SPD. Während sich die Linkspartei in Teilen um die Betrachtung der Wirklichkeit müht, scheinen sich die Sozialdemokraten auf den Refundamentalisierungs-Trip zu begeben.
Wer heute als Alleinstehender Jahreseinkünfte von mehr als 57.052 Euro erzielt, bezahlt für seinen letztverdienten Euro bereits den Spitzensteuersatz von 42 Prozent. Für Verheiratete greift dieser Spitzensteuersatz ab der doppelten Summe. Dazu kommt auch in diesem Jahr noch der Solidaritätszuschlag von 5,5 Prozent auf die jeweils individuell veranlagte Einkommensteuer. Weil in den Einkommensklassen von 5.000 bis 7.000 Euro pro Monat auch fast das gesamte Einkommen der Beitragspflicht in den Sozialversicherungen unterliegt, schlagen auch die Sozialabgaben mit rund 20 Prozent vom gesamten Einkommen voll durch. Was die betroffenen Steuerzahler seit vielen Jahren leidvoll erfahren, wird auch durch die jährlich wiederkehrenden Studien der OECD statistisch belegt. Kein anderer Industriestaat – mit Ausnahme von Belgien – schröpft seine Singles stärker als Deutschland. Mit 40 Prozent Steuer- und Abgabenquote ist der Steuerpflichtige dabei. Wenn man dann noch die vielen anderen Verbrauchssteuern und kommunalen Gebühren dazu addiert, braucht sich doch niemand zu wundern, warum sich die leistungsbereite Mittelschicht um die Früchte ihrer Arbeit betrogen fühlt. Trotz wachsender Einkommen verbleibt den Menschen immer weniger netto vom brutto.
Der politische Frust ist allenthalben spürbar. Leute reduzieren ihre Arbeitszeit, weil sich Mehrarbeit nicht mehr lohnt. Selbständige bleiben lieber klein mit ihren Unternehmen oder reduzieren sie sogar, als sich für den Staat in höhere Risiken zu stürzen. Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft florieren. Man braucht sich nur den großen Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen anzuschauen oder die Gastronomie. Dort wird cash auf die Kralle bezahlt, auch wenn die Leute pro forma mit geringen Beträgen angemeldet sind. Sonst bekommt man keine Leute. Nicht Steuersenkungen sind „gefährlich“. Wohlstandsgefährdend ist der nimmersatte Fiskus, der den Leuten die Lust auf Leistung abgewöhnt. Denn ein Staat, der die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft seiner Bürger systematisch aushöhlt, wird am Ende scheitern.