Das Thema Böhmermann scheint allgegenwärtig, so dass über Facebook bereits Witze über dessen Allgegenwärtigkeit gepostet werden – ein deutliches Zeichen für Überdruss an diesem Thema. Insofern ist der Titel mutig und spricht für das weiterhin starke Selbstbewusstsein der Hamburger. Für den SPIEGEL ist ein Thema erst dann als Thema durch, wenn sie selber darüber berichtet haben.
Ich kommentiere jetzt seit zehn Monaten an dieser Stelle Woche für Woche den Spiegel; für mich ist dies die seither stärkste Ausgabe mit wichtigen, gelungenen und interessanten Beiträgen.
Gelungen ist bereits der Einstieg mit dem Leitartikel „Bist du noch da, SPD?“ von Elke Schmitter. Ihre These: Die Sozialdemokratie lebt, ihr fehlt nur die Partei – eine kluge Analyse von Strukturen, alten und neuen Zielgruppen.
Aber immer noch ruft keiner aus der Führungsriege: „hier!“, wenn es um eine neue Führungspersönlichkeit an der Spitze geht. Der Beitrag „Ich bin kein Putschist“ von Sven Böll, Horand Knaup und Michael Sauga seziert die Lähmung.
Oskar Lafontaine demontiert in dem Interview „Schlechter Stil“ mit Wolf Wiedmann-Schmidt und Marc Hujer genüsslich seinen Ex-Kumpel Gregor Gysi, arbeitet sich immer noch an der SPD ab und wehrt sich vehement dagegen, dass Journalisten durchaus Parallelen zwischen der Linken und der AfD sehen. Populismus ist halt nur dann ein gutes Mittel, wenn man es selbst einsetzt, dann darf er allerdings nicht Populismus genannt werden.
Die Titelgeschichte „Der Zertrümmerer“ zu Böhmermann überrascht dadurch, dass sich die SPIEGEL-Redaktion die gerne mal allgegenwärtigen Beißreflexe untersagt und sehr unterschiedliche Blickwinkel auf den Fall wirft. Dadurch schaffen es die Autoren, dem All-schon-Gesagten durchaus neue Aspekte hinzuzufügen. Hilfreich für viele Details ist offenbar ein enger Kontakt zum Satiriker, was wiederum die Frage aufwirft, ob dadurch nicht auch die Einschätzung der Dimension leicht verschoben ist. Nichtsdestotrotz werden seine Fans die Informationen über den Menschen Böhmermann – als Satiriker befinde sich der „Schüler von Harald Schmidt“ angeblich noch in einem frühen Stadium seiner Entwicklung, also in der Pubertät, heißt es – lieben. Ein Muss ist das ergänzende Interview von Georg Diez „Frech, deutsch, kalt“ mit dem jüdischen Comedian Oliver Polak über harte und weiche Ziele der Satire.
Beeindruckend ist das Gespräch „Danke und tschüs“ von Takis Würger mit einem sogenannten Rückführer, der bisher mehr als 8.000 Flüchtlinge abgeschoben hat und mit Würde dazu steht.
Dietmar Hawranek, einer der großen Heroen des SPIEGELS, zieht sich nach Medienberichten bald aus der Redaktion zurück. Im aktuellen Heft analysiert er mit feiner Feder und kundigem Blick die derzeitige Malaise von VW. Lesenswert: „Im Niemandsland“.
Ein überraschendes Highlight ist der Moskau-Report „Gold und Freiheit“ von Christian Neef und Matthias Schepp über den Aufstieg der russischen Metropole zur coolsten Stadt Europas. Selbst Moskaus Friedhöfe sind in der Internetgegenwart angekommen. Dort gibt es kostenloses WLAN. Wer sich mit iPhone zur letzten Ruhe betten lassen will, sollte entsprechend disponieren.
Einen interessanten Blickwinkel liefert Peter Wensierski mit dem Beitrag „Ein Geschenk des Herrn“ über Taufkurse für Muslime und Missionare der freikirchlichen Gemeinden in Asylheimen. Die Repräsentanten der evangelischen und der katholischen Kirche verordneten stattdessen Zurückhaltung.
Grandios zu lesen ist „Easy“, das Udo-Lindenberg-Portrait von Thomas Hüetlin. Der Beitrag könnte ein Signal dafür sein, dass Udo eines der nächsten Biografie-Hefte ziert. Er hätte die Hommage verdient.
Dank Guido Mingels „Jo du-du-duu“ weiß ich, dass Emil Steinberger vor allem ein deutsches Phänomen ist. Die Schweizer nehmen ihm übel, dass er den Deutschen mit seinen Sketchen ein phonetisch schreckliches Schweizerisch beibrachte.
Ein Lesemuss in dieser Woche und eine Herausforderung gleichermaßen ist der Zeitgeist-Beitrag „Das Reich der Lüge“ über Arnold Gehlen. Autor Romain Leick beschreibt, wie der Philosoph, der sich selbst als „Reaktionär“ bezeichnete, in seinen Schriften „das grundsätzliche Unbehagen an den Zeitläuften und an deren politischer Bewältigung, das auch dem diffusen Protest von Pegida und AfD zugrunde liegt“ formulierte. „Es ist schlicht die Angst vor dem Untergang, die befürchtete Auflösung der Staatlichkeit, die heute in der Erregung über die Flüchtlinge zum Ausdruck kommt“, so Leick.
Zum Schluss: Alle Welt redet von Panama. Da spürt SPIEGEL-Redakteurin Anna Clauß im Ebersberger Forst unweit von München mitten im Wald ein Holzhaus mit überdachten Briefkästen auf. Dort haben acht Fondsgesellschaften eines Investmentmanagers ihren Geschäftssitz und zahlen nur halb so viel Steuern wie in München. Die Einnahmen des Landkreises mehrten sie in den vergangenen zwölf Jahren um 15 Millionen Euro.
P.S: Dass ein gewisser Herbert Wendler als Erfinder der Dominosteine gilt, war mir neu. Dem am 10. April in Dresden verstorbenen Hartmut Quendt ist es zu verdanken, dass Wendlers Schokoladenfabrik bis heute erhalten blieb.