Wer heute aus welchen Gründen auch immer touristisch oder geschäftlich nach Nigeria reisen will, bekommt eine Reihe von Reisewarnungen und Empfehlungen des Auswärtigen Amtes mit auf den Weg. So heißt es da beispielsweise, Menschenansammlungen insbesondere um Moscheen und Einrichtungen der USA seien zu meiden und den Anweisungen der Sicherheitsbehörden an Ort und Stelle sei Folge zu leisten. Grund dafür, so das Auswärtige Amt, seien u.a. die „Tötung des iranischen Generals Soleimani“, indessen Folge es auch im mit über zweihundert Millionen Einwohnern mit Abstand bevölkerungsreichsten Landes Afrikas zu antiamerikanischen Demonstrationen gekommen ist.
In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich die Bevölkerungszahl Nigerias verdoppelt. Städte wie Lagos haben heute über 18 Millionen Einwohner. Spannungen zwischen dem muslimischen Norden und eines mehrheitlich christlich-animistischen Süden sind Ursache für anhaltende bzw. immer wieder aufflammende Konflikte.
Wirtschaftlich wird Nigeria als größte Volkswirtschaft Afrikas (noch vor Südafrika) mittlerweile von der Weltbank als „Schwellenland“ angesehen. So könnt man wohl auch diese verbesserungswürdige Demokratie als eine Art Schwellendemokratie bezeichnen.
Leider sind die Lebensverhältnisse für viele Nigerianer nach wie vor von Elend geprägt, es gibt nach wie vor viel Kinderarbeit und Verfolgung von Minderheiten, wenn beispielsweise Homosexuelle in einem dutzend Bundesstaaten des Landes die Todesstrafe durch Steinigung droht oder eine lebenslange Haftstrafe, die Terrororganisation Boko Haram ist in den vergangenen zehn Jahren für bis zu 30.000 Terroropfer verantwortlich und der UNHCR der Vereinten Nationen spricht von 1,8 Millionen Binnenvertriebenen und etwa 200.000 Flüchtlingen in den unmittelbaren Nachbarländern.
Vergleichweise wenige dieser Geflüchteten und Vertriebenen haben es bisher – Betonung auf „bisher“ – in die EU geschafft bzw. nach Deutschland. Und die noch viel größere Zahl jener Nigerianer, die in stabileren Landesteilen wohnen und womöglich erwägen, aus wirtschaftlichen Gründen illegal in die EU einzuwandern mittels Schlepperhilfe usw., sind hier noch nicht einmal mitgezählt.
Auch Nigerianer haben ebenso, wie die allermeisten Asylantragssteller in Deutschland kaum eine Chance auf Asyl. Ihnen bleibt überwiegend nur die Möglichkeit, einen der über fünfzig weiteren Aufenthaltstitel zu erlangen bzw. für sich zu beanspruchen – notfalls mit Hilfe deutscher Anwälte, wenn es am Ende nicht die vergehende Zeit an sich löst, wenn schon die Dauer des Aufenthaltes der finale Grund wird für eine Daueraufenthaltserteilung.
In der Drucksache 19/14703 des Deutschen Bundestages, einer Antwort der Bundesregierung auf Fragen der Abgeordneten Ulla Jelpke werden konkrete Zahlen genannt: Demnach waren mit Stichtag 31.August 2019 12.229 Nigerianer ausreisepflichtig. Im Vergleichszeitraum für 2016 lag diese Zahl noch unter 3.000. Und die Zahl wird sich noch eklatant erhöhen, wenn anhängende Asylverfahren erst einmal von den Behörden bzw. den Gerichten bearbeitet wurden. In Zahlen sind das 23.000 anhängende Verfahren, von denen aller Voraussicht nach, angesichts einer Gesamtschutzquote von nur 6,5 Prozent, die wenigsten positiv beschieden werden.
Es ist also laut Auskunft der Bundesregierung „innerhalb der nächsten zwei Jahre mit einer starken Zunahme der Zahl nigerianischer Staatsangehöriger zu rechnen, deren Asylverfahren bestands- oder rechtskräftig abgelehnt worden ist.“ Die Bundesregierung folgert daraus: „Bund und Länder haben daher das gemeinsame Ziel, die Zahl der Rückführungen nach Nigeria deutlich zu erhöhen.“
Einmal abgesehen vom Kampf der Regierung gegen Abschiebungsgegner in den eigenen Reihen bis hoch hinauf ins Kanzleramt, stehen diesen Abschiebungen eine Reihe von staatlich teils hoch subventionierter (z.B.: Projekt „Demokratie leben!“) Nichtregierungsorganisationen gegenüber, die ebenfalls alles daran setzen, solche Abschiebungen zu verhindern. Wer sich nur stark genug wehrt gegen so eine Abschiebung, kann sich Chancen ausrechnen, dass die in so einem Fall zu ergreifenden polizeilichen Maßnahmen als Polizeigewalt oder gar Folter ausgelegt werden.
Die Abgeordnete Ulla Jelpke beispielsweise spricht von „brutalen Abschiebungen“, so wie sie schon vorsorglich behauptet, ebenfalls von der Bundesregierung bzw. der EU finanzierte in Nigeria ansässige „Migrationsberatungszentren“ hätten nur eine Alibifunktion, um die „brutale“ Abschiebepraxis von Bund und Ländern zu legitimieren.
Warum das? Weil über diese Zentren auch Rückgeführte Hilfe zur Reintegration bekommen. Die Zahl der Rückführungen lag in 2016 bei lediglich 192 Personen, in 2019 bei 282 Personen. Angesichts der anstehenden Aufgabe also deutlich im Promillebereich.
Das Vorhaben anstehender wie zukünftiger Abschiebungen von Nigerianern steht also aus vielerlei Richtungen unter Beschuss. Entsprechend aufwendig sind heute bereits die Durchführungen: Gigantische finanzielle Mittel müssen hier aufgewendet werden schon für Rückführungen weniger.
So soll alleine die Nutzung des „Fluggerätes“ einer Rückführung von gerade einmal 19 Personen laut Bundesregierung 298.000 Euro gekostet haben. Bezahlt wird diese Summe von der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache – unnötig zu erwähnen, das Deutschland hier als größter Nettoeinzahler der EU, also über Umweg, Hauptfinanzier dieser eine Viertelmillion Euro teuren Rückreise ist.
Von Januar bis Mitte September 2019 gab es mindestens 14 weitere Flüge nach Nigeria, die in Summe keine 300 Personen außer Landes brachte. Wer hier hochrechnet, der kann sich ausmalen, bei welchen Kosten solche Unternehmungen dann insgesamt liegen. Und wer sich dann noch erinnert, das zehntausende von Abgeschobenen oder freiwillig ausgereisten Menschen längst wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind, dann ist nicht einmal sicher, ob und wann wie viele dieser paar hundert Zurückgeführten ohnehin wieder in Deutschland auftauchen und dieses Mal sicherheitshalber gleich illegal untertauchen.
Bleiben wir noch kurz bei diesem Flug der 19 abzuschiebenden Nigerianer am 19. August 2019. Besagter Flug wurde von sage und schreibe 84 Bundespolizisten begleitet, von einem Arzt und einer Sanitäterin und von zwei Beobachtern und zwei beobachtenden Begleitern von Frontex – so genannte Monitoren und Observer.
Die Kosten dafür muss man noch zu den Flugkosten hinzu addieren.
Aber damit noch lange nicht genug, wenn die Bundesregierung bzw. die EU noch ein Netz von Nachsorgestationen für die zurückgeführten Menschen in Nigeria selbst betreibt, wo diese teils erzwungene Heimkehr weniger Personen in Form einer Art Reintegrationsmaßnahme unterstützt wird, was wie schon gesagt die Linkspartei abfällig als Legitimationsveranstaltung gebrandmarkt hat.
Ebenso können die Rückgeführten zusätzlich zu ihrem Handgeld direkt vor Ort finanzielle Unterstützung der EU über einen Seviceprovider des ERRIN erhalten.
Außerdem werden Beratungszentren für Jobs, Migration und Reintegration in Nigeria an drei Standorten in 2019 mit Finanzmitteln in Höhe von 1,9 Millionen Euro unterstützt.
Alleine in Lagos sind acht Mitarbeiter beschäftigt sowie weitere Experten mit unterschiedlichen Aufgabengebieten. Weitere Mitarbeiter sind in den beiden weiteren Beratungszentren tätig. Und das wie gesagt bei unter 300 aus Deutschland abgeschobenen Nigerianern in 2019. Immerhin ist man hier also für kommende höhere Zahlen eingerichtet, so denn diese Abschiebungen gegen so viele Widerstände am Ende überhaupt vollzogen werden können.
Angesichts der Kosten muss hier selbstredend die Sinnfrage gestellt werden, wenn theoretisch mit diesem Millionen-Euro-Aufwand für wenige eine Vielzahl mehr an Perspektiven und Versorgungen für Menschen direkt in Nigeria vorgenommen werden könnten.
Die naheliegende Erklärung kann hier nur die Abschreckung sein. Denn auch diese wenigen Ausgewiesenen werden zurück in ihrem Heimatland wiederum weiteren potentiell Ausreisewilligen von ihrem so missglückten Unterfangen berichten. Und dabei sprechen wir hier nur über Nigeria und nicht über dutzende weitere Herkunftsländer von hunderttausenden Ausreisepflichtigen. Alleine diese Erkenntnis muss doch für die wenigen aufrichtigen politischen Akteure ebenso, wie auch für die Exekutive eine überaus deprimierende Sisyphus-Erkenntnis sein.
Kurz noch zu den Zwangsmaßnahmen, die von Ulla Jelpke brutal genannt werden: Sicher ist das für den Betroffenen eine Katastrophe ebenso übrigens (verhältnismäßig) auch für die durchführenden Beamten, von denen nicht wenige anschließend eine psychologische Betreuung in Anspruch nehmen sollen.
Aber was soll das eigentlich für eine linke Botschaft sein, wenn es ausreichen soll, sich nur entsprechend intensiv gegen eine polizeiliche bzw. richterliche Anordnung zu wehren, also gegen den Rechtsstaat, anstatt dem Vollzug Folge zu leisten, um so dann die Maßnahme an sich zu verhindern wegen Unzumutbarkeit, Unmenschlichkeit usw.?
Könnte sich theoretisch so beispielsweise auch der zu einer Gefängnisstrafe verurteilte deutsche Straftäter einer Inhaftierung entziehen, wenn er sich beim Transport in die Haftanstalt nur intensiv genug wehrt und wenn er dann ohne „brutale“ Zwangsmaßnahmen nicht in diese Haftanstalt verbracht werden kann, also auf freiem Fuß bleiben kann bis zum Sankt Nimmerleinstag?
Deutschlands Grotesken werden deutsche Normalität.