Ist Erziehung und Bildung ein Themenfeld, um das man sich sorgen muss, wenn man die Zustände in zahlreichen Kindergärten, Schulen und Elternhäuser genauer beleuchtet? Michael Winterhoff, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie, schlägt in seinen Vorträgen und Buchveröffentlichungen jedenfalls Alarm. In seinem Fazit heißt es: „Ändert sich nicht grundlegend etwas am heutigen Bildungssystem, wird das schleichende Gift der fehlenden psychischen Entwicklung unsere Gesellschaft unrettbar und binnen kurzer Zeit aushöhlen.“ (Winterhoff 2019, 211, Literaturhinweise unten)
Gibt es Gründe zu behaupten, bei einem erheblichen Teil von Kindern und Jugendlichen sei die Entwicklung der Psyche nicht altersgerecht ausgeprägt und das habe erhebliche negative Folgen für die Gesellschaft? Hier stehen nicht die organisatorischen Aspekte von Kitas, Kindergärten und Schulen im Mittelpunkt der Analyse, sondern das „innere Erleben“, das wissenschaftlich „Psyche“ genannt wird. In jedem menschlichen Individuum entwickelt sich Psyche. Das fängt schon im Mutterleib an und ist zunächst emotional bestimmt. Die kognitiven Aspekte der Psyche können sich darauf gestützt erst später aufbauen und entfalten. Diese individuelle Entwicklung vollzieht sich in einer Umwelt, die förderlich oder auch hinderlich sein kann, über einen Zeitraum von gut zwei Jahrzehnten. Dann sind stabile psychische Eigenschaften weitgehend gereift, so dass man von Persönlichkeitsstruktur sprechen kann. Was ist in immer komplexer werdenden Gesellschaften wichtiger als reife Persönlichkeiten?
Meine kritische These lautet: Zahlreiche Kinder werden von Eltern, Erzieherinnen, Lehrern nicht angemessen in ihrer jeweiligen Entwicklung der Psyche herausgefordert und unterstützt; sie bleiben auf einer frühkindlichen Entwicklungsstufe hängen, mit negativen Folgen für das Wohlbefinden, Sozialverhalten und kognitive Leistungsfähigkeit.
Kinder nur begleiten oder führen?
Worauf kommt es in frühen Lebensjahren an, wenn Kinder befähigt werden sollen, mit der immer komplexer werdenden Welt möglichst eigenständig zurechtzukommen? Die Antworten können sehr unterschiedlich ausfallen: Das sollen die Kids gefälligst selbst herausfinden, oder eine andere Position auf einem Kontinuum ist: Eltern, Erzieher und Lehrerschaft müssen die Kinder und Heranwachsenden zu gesellschaftlichen Wesen formen; ohne freilich auf drakonische Strafen oder gar Gewalt zurück zu greifen, wie es noch bis in die 60er Jahre an Schulen vorkam.
Auch gegenwärtig ist im deutschen Sprachraum in der Bildungspolitik nicht alles, doch aber vieles strittig, z. B. wie die Interaktionen im Unterricht angelegt werden sollten. Material- und technikorientiert mit den Lehrkräften nur als Begleiter, oder eher lehrkraftorientiert mit Lehrkräften, die eine soziale Beziehung und Bindung zu den Schülern und Schülerinnen aufbauen und pflegen? Wie weit soll, z. B. eine Autonomie der Schülerschaft hinsichtlich der Themen sowie der Lernmethoden eingeräumt werden? Welche Differenzierungen sind für Altersklassen vorzusehen? Für das Eine wie auch für das Andere gibt es Erfolge und auch Misserfolge. Eine Eindeutigkeit, was letztlich wissenschaftlich gesichert sei, ist nicht leicht zu erlangen.
Reformen nach Reformen
Längst ist unbestritten, dass die Erziehung von Kindern nicht mehr nur Aufgabe und Befugnis von Eltern ist, sondern der Staat ein entscheidendes „Wörtchen“ mitzureden hat. Wenn man sich die aktuellen Diskussionen über Kitas sowie Ganztagsschulen betrachtet, kann man allerdings den Eindruck gewinnen, staatliche und vom Staat geförderte Einrichtungen seien der Königsweg der Erziehung. Eltern, insbesondere Frauen würden von ihren Kindern entlastet und die Kinder erhielten die beste aller individuellen Förderungen. Wer dies anders sieht, wird im öffentlichen Raum schnell an den Pranger („ewig gestrig“) gestellt. Wie steht es denn tatsächlich um die angemessen beste Förderung der Kinder?
Schaut man zurück, fällt auf, dass seit Jahrzehnten eine politisch initiierte Reform die andere ablöst. Ob Kindergärten, Schulgliederung, Unterrichtsformen oder Unterrichtsinhalte etc., ihre jeweiligen Änderungen sollen die zuvor beklagten Schwächen beheben und natürlich die Qualität der Erziehung und Bildung verbessern. Niklas Luhmann formuliert hierzu etwas spitz: „Beobachtet man das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, daß das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist.“ (Luhmann, 2002, 166) Kinder, Eltern und Erzieher, Schüler und Lehrer sind nicht selten die Leidtragenden der „Reformwut“.
Wenige starke und viele schwächere Absolventen
Betrachtet man die gegenwärtigen Berichte über die Entwicklungsstände von Kindern und Jugendlichen, ob in Medien oder von Institutionen wie Kultusbürokratie oder OECD herausgegeben, erhält man zahlreiche Hinweise auf ein bipolares Bild. Einerseits gibt es junge Menschen, die als Personen stark beeindrucken, weil sie emotional, sozial und kognitiv Kompetenzen zeigen, die Ältere in der Qualität oftmals nicht vorweisen können. Andererseits gibt es negative Auffälligkeiten bei einem erheblichen Anteil von Kindern und Jugendlichen, die nachdenklich stimmen. Man denke z. B. an mangelnde Konzentrations- und Lernfähigkeit, unzureichende Resilienz und Leistungsbereitschaft, motorische Einschränkungen bei Vorschul- sowie Schulkindern, Respektlosigkeit gegenüber anderen, Gewalttätigkeiten einschließlich Messerattacken.
Die in ihrer Entwicklung Stärkeren sind deutlich in der Minderheit. Diesen Sachverhalt kann man verharmlosen: Das hat es immer schon gegeben. Ja,
prinzipiell stimmt das. Aber die Häufigkeiten und die intensiven Ausprägungen von Auffälligkeiten, die beschönigend auch „Besonderheiten“ genannt werden, nehmen tendenziell zu. Sie sind ein ernst zu nehmendes Problem für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt. Wenn etwa ein Fünftel bis ein Viertel eines Altersjahrgangs in Deutschland im Übergang von der Schule in eine Ausbildung oder in ein Studium dafür nicht angemessen vorbereitet und befähigt sind, dann ist das ein Hinweis auf basale Defizite im System, die letztlich eine leichtfertige Verschwendung von „Humankapital” zur Folge haben; obwohl seit Jahren der fehlende Fachkräftenachwuchs beklagt wird. Volkswirtschaftlich rational ist dies nicht.
Inadäquate Problemlösungen
Das politische System und auch die Wissenschaften nehmen die problematischen Auffälligkeiten zwar (meistens verzögert) zur Kenntnis, antworten aber nicht selten mit Verschlimmbesserungen, wenn sie z. B. Computer und Smartphones nicht nur für Heranwachsende, sondern auch für Kleinkinder empfehlen. Der Ulmer Professor für Psychiatrie, Manfred Spitzer, weist seit Jahren immer wieder darauf hin, wie falsch und für Kinder schädlich ein zu früher Gebrauch der technischen Geräte sein kann, (Spitzer 2017, 2018, 2019) ohne bei den Entscheidern durchschlagende Resonanz zu erzielen. Die Eigenart der kindlichen Psyche während ihrer Entwicklungsphasen, die kaskadenförmig modelliert werden kann (vgl. Winterhoff, 2019, 212 f.), wird ausgeblendet. Stattdessen wird suggeriert, Kinder könnten wie kleine Erwachsene behandelt werden, wenn man sie nur recht früh mit Anforderungen der Erwachsenen- und Arbeitswelt konfrontiere und (ähnlich wie Ratten im Experiment) konditioniere. Auch viele Eltern haben offenbar keine Ahnung, was sie ihren Kindern antun, wenn sie ihre Kinder den elektronischen Medien in Kleinkindphasen aussetzen. „Etwa die Hälfte der Eltern glauben nicht, dass elektronische Medien ihre Kinder in positiver oder negativer Hinsicht beeinflussen.“ (Spitzer, 2018, 470)
Was wird in psychologischen und psychiatrischen Sprechstunden sichtbar?
Der basale Zusammenhang zwischen inadäquatem Umgang mit Kindern und auftretenden Auffälligkeiten und Störungen in der kindlichen Entwicklung wird leider oftmals nicht gesehen und/oder gar geleugnet. Im günstigen Fall wird die „Schadensbehebung“ von professioneller Hilfe erwartet. Am besten per Medikamenten oder eben Techniken. Die notwendige Thematisierung sozialer Interaktion mit Kindern wird oftmals nur widerwillig angenommen: „Was soll das schon bringen?“ Gleichzeitig wird aber zunehmend von Eltern, Erzieherinnen, Lehrerschaft, Hochschullehrern und Ausbildungsbetrieben trotz der verschiedenen technischen Interventionen Klage darüber geführt, dass man bei einem erheblichen Anteil von Kindern und Heranwachsenden keine normalen Anforderungen mehr stellen könne. Tenor: Es wird seit Jahren immer schlimmer. Es fehle an fast allem. Gemeint ist, dass jeweils altersgemäße Fähigkeiten bei einem erheblichen Anteil der Kinder und Jugendlichen nicht mehr erwartet werden können. Bei Nachfragen kommen dann nicht nur Wissens- und Könnens-Defizite zur Sprache, sondern auch Mängel im sozialen Umgang, bei der Akzeptanz von Regeln, Leistungsmotivation, Bedürfnisauf-schub etc. Gesellschaftlicher Rückzug und soziale Isolierung sind weitere kritische Phänomene.
In Praxen für Psychotherapie und Psychiatrie kommen in Sprech- und Therapiestunden die oben skizzierten Probleme „auf den Tisch“. Michael Winterhoff, hat in mehreren Büchern über seine Erfahrungen aus seiner beruflichen Praxis berichtet. In seinem Buch „Deutschland verdummt“ (2019) deckt er aus tiefenpsychologischer Sicht einen entscheidenden strukturalen Mangel im Erziehungssystem auf, der bei vielen Kindern und Jugendlichen zu den oben angesprochenen Auffälligkeiten führt, sowie letztlich „die Zukunft unserer Kinder verbaut“. Auf den ersten Blick eine zugespitzte These, die aber durch die vorgelegten Belege und die geführte Argumentation hohe Plausibilität erhält.
Emotionale Intelligenz
Eine Chance für Nachbesserung der Versäumnisse im Erziehungssystem sieht der Psychiater nicht im „Digitalisierungswahn“ (Winterhoff, 2019, 208), sondern in einer durch soziale Beziehungen sowie persönliche Bindung geprägte Entwicklung der Psyche bei Kindern. „… In der Breite kann die (nachträgliche) Entwicklung der kindlichen Psyche nur im Kindergarten und der Schule stattfinden.“ (Winterhoff, 2019, 211) Erwachsene sollten sich auf die jungen Menschen einlassen, Anforderungen stellen, Orientierungen und faire Rückmeldungen geben, damit eine reelle Chance zur Besserung gewahrt wird.
Hierbei wird man auf die Steuerung durch Politik wahrscheinlich nicht setzen können. Kinder und Jugendliche sollten nicht primär unter technischen und organisationalen Aspekten, sondern vielmehr unter psychosozialen Gesichtspunkten auch in der öffentlichen Betrachtung und Gestaltung gesehen werden. Obwohl in Sonntagsreden von der hervorragende Bedeutung hochkompetenter Menschen für die Innovationsfähigkeit und den Wohlstand moderner Gesellschaft geschwärmt wird, bleiben die erforderlichen Maßnahmen weitgehend Stückwerk, bleiben ganz aus oder werden gar durch unangemessene Reformen konterkariert. Eltern, Erzieherinnen, Lehrer müssen die Interessen ihrer Kinder selbst zu wahren versuchen, indem sie sich z. B. vernetzen, Einfluss auf die lokalen Einrichtungen nehmen und die Politik mit Forderungen nach fairen Entwicklungschancen für die nachwachsenden Generationen unter Druck setzen.
Prof. Dr. em. Guido Tolksdorf
Literatur
Goleman, Daniel, Emotionale Intelligenz, München-Wien 1996
Luhmann, Niklas, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt a. M 2002
Spitzer, Manfred, Die Smartphone-Denkstörung, in: Nervenheilkunde, H. 8 2017, 587 – 590
Ders., Eltern und Smartphones, in: s. o., H. 7-8 2018, 469 – 472
Ders., Smartphones – so ungefährlich wie Kartoffeln?, in: s. o., H. 3 2019, 90 – 96
Winterhoff, Michael, Deutschland verdummt, Gütersloh 2019