Während man hierzulande bis in das konservative Lager hinein mit angestrengter Besorgnis in die 2020er Jahre blickt, können britische Kommentatoren durchaus Hoffnungsvolles erkennen. Wenn der Vergleich mit den 1920er Jahren dort ziemlich bald die Erinnerung an die »Roaring Twenties« – die Goldenen Zwanziger – hervorbringt, so erinnern deutsche Zeitungsschreiber lieber an die problematischen Aspekte der zunehmenden politischen Spaltung, die ihrerseits aus der Nachkriegskrise folgte, die im Deutschen Reich erst um die Mitte des Jahrzehnts überwunden war. Da es derzeit noch keine Wirtschaftskrise in Deutschland gibt, scheint sich eigentlich jeder Vergleich zu verbieten.
Doch in der FAZ meint Reinhard Müller – neuerdings offenbar Mitglied im Verein für raunende Aussprache –, dass wieder einmal Abgeordnete in deutschen Parlamenten säßen, die »offenbar eine andere Ordnung wollen«. Denen hält er mahnend entgegen: Wenn die demokratischen Institutionen nicht geachtet würden, sei kein Staat zu machen. Zu befürchten ist allerdings vorerst nur eines: dass praktisch alle deutschen Parlamentarier dieser Aussage zustimmen. (Etwas positiver blickt übrigens Dirk Schümer in der Welt auf ein Jahrzehnt zurück, in dem viel Fortschritt war.)
Keine guten Hoffnungen nährt nach Müller zudem die Art, in der der Brexit »vor allem von britischer Seite gespielt wurde«, nämlich mit »verfälschendem Populismus« und »neuem Nationalismus«. Die Fehler der anderen sind bekanntlich immer die größten. Doch das ist nur Müllers Einerseits. Dass auch an der Spitze der EU Leute standen und stehen, denen die Geltung der »Verträge« nicht gerade das Allerheiligste ist, bildet das Andererseits. So geht es weiter: Einerseits steht der etwas zu junge »deutsche Rechtsstaat« nicht über der EU, andererseits sei auch die Union nicht für alles zuständig. Ein Schelm, wer schlau aus dieser Haltung wird.
An der Themse stellen sich praktische Fragen
Nick Timothy vom »Telegraph« glaubt an einen grundlegenden Wandel der politischen Koordinaten im Inselreich. Wenn die britische Politik bisher um die Begriffe Modernisierung, Individualismus und Internationalismus gekreist sei, dann soll es nun stärker um den Erhalt von Traditionen, um die Interessen der Gemeinschaft, um die nationale Identität und Staatsbürgerschaft gehen.
Wirtschaftliche Belebung, Devolution, schlanker Staat
Daneben will Timothy auch das Gleichgewicht von Marktkräften und politischen Institutionen neu justieren. Letztlich fordert er die Ablösung der »liberalen Technokraten« von den Schalthebeln der Macht. Er weist darauf hin, dass eine utilitaristische, am vermeintlich größten Nutzen für eine möglichst große Zahl an Bürgern orientierte Politik nicht nur verschiedene Landstriche verwüstet zurückgelassen habe, sondern langfristig auch dem gesamten System schaden müsse, da sich der Zentralstaat bemüßigt fühlt, die derart benachteiligten Regionen durch Sozialleistungen zu entschädigen – was das Leben der Betroffenen vielleicht sogar noch mehr beschädigt. Timothys Gedanke erinnert zumal an die Brexit-Diskussion – genauer an die Behauptung, ein EU-Austritt mache das Land insgesamt ärmer und sei deshalb zu vermeiden. Das individuelle Potential der Regionen, Unternehmen und Bürger kam so gar nicht erst in den Blick.
Cummings will »kognitive Diversität« für Downing Street
Steht also eine grundsätzliche Neuausrichtung der britischen Politik an? In der Sache könnte das so kommen. Einige Antworten lassen sich vielleicht auch aus dem Prozedere des Regierungsteams ableiten. Aufhorchen ließ jetzt eine Stellenanzeige, die Dominic Cummings, wichtigster Berater des Premiers und führender Brexit-Stratege, in seinem privaten Blog veröffentlicht hat. Unter der Überschrift »Two hands are a lot« (»Zwei Hände sind eine Menge wert«) sucht Cummings neben den handelsüblichen Politik-Experten, Projektmanagern und Werbefachleuten nach »außergewöhnlichen« Mathematikern, Physikern, IT-Spezialisten und Ökonomen für sein Team. Die Konzentration auf die harten MINT-Qualifikationen ist die erste Besonderheit seiner Stellenanzeige und dürfte direkt mit Cummings’ Vorstellungen vom effizienten Regieren zusammenhängen.
Daneben zeigt er sich offen für »Exzentriker und Außenseiter mit ungewöhnlichen Fähigkeiten«. Auf diese vorgeblichen »Spinner« hat sich die deutsche Presse, angeführt von einer dpa-Meldung, natürlich sogleich gestürzt. Tatsächlich dürfte »Querdenker« den Sinn weit besser treffen. Cummings erklärt die von ihm kreierte Mitarbeiterkategorie als »Menschen, die nie eine Universität besucht haben und sich aus entsetzlichen Höllennestern herausgekämpft haben«. Insgesamt brauche man weniger Identitäts- und Diversitätsgerede von Abgängern der britischen Elite-Unis Cambridge und Oxford, dafür mehr »echte Diversität im Denken«. So soll also das reale Leben in die britische Regierung einziehen: »Ich weiß per definitionem nicht, was ich suche, aber ich möchte, dass man in Downing Street Ausschau nach solchen Leuten hält.«
Ein konservativer Robespierre?
Als unkonventioneller Kopf galt Cummings schon zu Studienzeiten – als ein »Robespierre«, der grundsätzlich alles in Frage stellte und dabei, was immer nicht funktioniert, hinwegfegen wollte. Erste politische Erfahrungen konnte er unter Michael Gove im Bildungsministerium sammeln. Aus jener Zeit scheint auch seine Überzeugung zu stammen, dass das Land schlecht regiert wird – eine Überzeugung, die sich auch in einem ausgedehnten Essay über den Zusammenhang zwischen Bildung, Ausbildung und Regierungskunst niederschlug. Die Suche nach »ungewöhnlichen« Talenten hängt offenbar direkt mit diesen Überlegungen zusammen:
»Wenn man herausfinden will, was gewisse Personen in Putins Umfeld als nächstes tun werden, oder wie kriminelle Banden Lücken in unserer Grenzsicherung ausnutzen könnten, braucht man nicht noch mehr Oxbridge-Anglisten, die sich beim Abendessen mit Fernsehproduzenten über [den französischen Psychoanalytiker Jacques] Lacan unterhalten und Fake News über Fake News verbreiten.«
Das Ziel des Beraters ist es nach eigenem Bekunden, Ideen mit großer Hebelwirkung zu finden. Diese großen Ideen erscheinen zunächst oft als schlechte Ideen – sonst hätte sie schon jemand umgesetzt. Beim guten Regieren geht es daher – frei nach Charlie Munger, dem Partner von Warren Buffett – nicht um eigentlich neue Gedanken, sondern um das Ausnutzen »unerkannter Simplizitäten«. Interessanterweise spricht Cummings von »Billionen-Dollar-Noten«, die auf der Straße herumlägen und nur aufgesammelt werden müssten. Damit meint er aber nicht – wie die hiesige SPD – billige Staatskredite.
Vielmehr geht es ihm um die Effizienz der Regierung, die sich durch die Auswahl und Ausbildung von Personal, durch Data Science und verschiedene »kognitive Technologien« steigern lasse. Die Hervorhebung geradezu unermesslicher Chancen, die in einem klugen und ökonomischen Vorgehen verborgen liegen, erinnert durchaus an Boris Johnson, der die 2020er Jahre laut seiner Neujahrsrede zu einem »Jahrzehnt des Wohlstands und der Möglichkeiten« machen will.
In diesen Tagen muss Johnson noch einige Brexit-Gesetze durchs Unterhaus bringen. Doch dann wird es ohne Zweifel wieder (in Anlehnung an Margaret Thatcher) heißen: »Advisers advise and ministers decide.« Berater beraten, Premierminister entscheiden. Nur um keine bösen Verschwörungstheorien von übermächtigen Beratern aufkommen zu lassen. Aber am Ende sind die beiden vielleicht mehr eines Sinns, als man bisher weiß.