Etwas ist faul im Staate Dänemark! – Mit diesen Worten auf den Lippen eilt Marcellus zusammen mit Horatio dem Prinzen Hamlet nach, der sich von seinen Begleitern losgerissen hat, um dem erschienenen Geist seines verstorbenen Vaters in die Nacht zu folgen. Zu diesem Zeitpunkt vermag Marcellus noch nicht zu fassen, was genau faul ist im Staate. Aber irgendetwas stimmt einfach nicht und das Trauerspiel nimmt seinen Lauf. Mit Blick auf die Europäische Union scheint es heute vielen ähnlich zu gehen wie dem Marcellus in William Shakespeares Trauerspiel. Irgendetwas stimmt einfach nicht. Und niemand scheint zur Zeit in der Lage zu sein, den Verlauf des Trauerspiels aufzuhalten.
- In der Finanz- und Eurokrise wurde die Anzahl möglicher Problemlösungs-Alternativen rhetorisch auf null reduziert und die Befürworter alternativer Problemlösungen wurden als EU- und Europa-Gegner stigmatisiert. Diese „Torheit der Regierenden“ (Barbara Tuchman) wendet sich nun mit voller Wucht gegen ihre Urheber.
- Ob es dem britischen Premierminister David Cameron gelingen wird, einen Austritt Großbritanniens aus der EU zu verhindern, ist offen und wird sich erst am 23. Juni 2016 zeigen. Aber was passiert eigentlich bei einem Brexit? Unterliegt Großbritannien dann nicht mehr der EU-Gesetzgebung?
- Ein Grexit oder Graccident würde die EU insgesamt erheblich weniger gefährden als ein Brexit. In Kombination mit einem Brexit wäre das Ende der EU sehr nah.
In den Niederlanden gerät ein Referendum über das an sich begrüßenswerte Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU zu einem eindeutigen Mißtrauensvotum gegen die EU. In der Bevölkerung ist der mimetische Furor gegen die EU-Politik aus Brüssel bereits so groß, daß selbst bei einzelnen Sachfragen differenzierende Betrachtungsweisen und sachliche Argumente nicht mehr entscheidend oder gar konsensstiftend sind. Es scheint in weiten Teilen der Bevölkerung nur noch ein „Für die EU“ oder „Gegen die EU“ zu geben. Diese gefährliche Freund-Feind-Konstellation wurde von den Regierenden in der EU seit Frühjahr 2010 im Zuge der sogenannten Euro-Rettungspolitik systematisch selbst gezüchtet. Die Anzahl möglicher Problemlösungsalternativen wurde rhetorisch auf null reduziert und die Befürworter alternativer Problemlösungen wurden als EU- und Europa-Gegner medienwirksam stigmatisiert. Diese „Torheit der Regierenden“ (Barbara Tuchman) wendet sich nun mit voller Wucht gegen ihre Urheber. Aber leider nicht nur gegen sie, sondern auch gegen all jene Pro-Europäer in West- und Osteuropa, die sich für ein zusammenwachsendes Europa auf einer gemeinsamen Wertegrundlage einsetzen, Zentralismus und Planwirtschaft monetärer oder sonstiger Art jedoch strikt ablehnen.
Was passiert eigentlich bei einem Brexit?
Unterliegt Großbritannien dann sofort nicht mehr der EU-Gesetzgebung? Nach Art. 50 EUV kann ein Mitgliedsstaat seinen Austritt aus der EU beschließen. Anschließend ist ein Abkommen auszuhandeln, in welchem die Details des Austritts geregelt werden. Die EU-Gesetzgebung wird erst dann nicht mehr auf das ausgetretene Mitgliedsland angewendet, wenn dieses Abkommen in Kraft gesetzt worden ist oder wenn zwei Jahre seit der Erklärung des Austritts vergangen sind. Im Einvernehmen mit dem ausgetretenen Land kann der Europäische Rat diese Frist verlängern, so daß die EU-Gesetzgebung auch weiterhin in dem ausgetretenen Land zur Anwendung kommt. Ein Austrittsabkommen ist mit einer qualifizierten Mehrheit des Europäischen Rates zu beschließen und sowohl das Europäische Parlament als auch die Parlamente der Mitgliedstaaten müssen zustimmen.
Dieser Ratifizierungsprozeß dürfte einzelnen EU-Mitgliedstaaten vielfältige Möglichkeit zum taktischen Agieren eröffnen. Nach einem Brexit könnte Großbritannien deshalb ohne schnelles Austrittsabkommen und ohne Freihandelsabkommen mit der EU dastehen. Das wird zwar vom konservativen Londoner Bürgermeister Boris Johnson in seiner Brexit-Kampagne bestritten. Johnson betont die schnelle Verhandelbarkeit und Ratifizierung von Freihandelsabkommen. Angesichts der Dynamik einer „Räuberbande“, welche bislang die meisten Verhandlungen auf europäischer Ebene dominiert, ist die Gefahr eines institutionell rechtlichen Chaos jedoch sehr real.
Dazu kommt, daß die Griechenlandkrise bis Juni und spätestens Juli 2016 auf einen neuen Höhepunkt zutreibt. Obwohl es sehr wahrscheinlich ist, daß weiter „durchgerettet“ werden soll, mit oder ohne offiziellen Schuldenschnitt und mit oder ohne IWF, so sind in einer polarisierten politischen Lage, die ganz Europa zur Zeit prägt, Verhandlungsunfälle gerade in Verhandlungen mit der griechischen Regierung nicht auszuschließen. Merkel und Schäuble haben nicht nur die AfD im Nacken, sondern auch Horst Seehofer, der bei einer Zustimmung der Bundesregierung zu einem Schuldenschnitt immer mehr in eine Situation geraten könnte, die CSU-Minister aus der Bundesregierung zurückzuziehen. In Frankreich ist Präsident Hollande alles andere als unangefochten und politisch schon längst gescheitert. Und die mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder würden die sogenannte Griechenlandrettung lieber heute als morgen beenden.
Grexit allein beherrschbar, zusammen mit Brexit nicht
Ein Grexit oder Graccident würde die EU insgesamt erheblich weniger gefährden als ein Brexit. In Kombination mit einem Brexit wäre das Ende der heutigen EU jedoch sehr nah. Deshalb stärkt die Gefahr eines Brexit zur Zeit die Verhandlungsposition der griechischen Regierung gegenüber einer EU-Kommission und anderen europäischen Regierungen, welche sich mit ihrem „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ verrannt und alternative Handlungsmöglichkeiten verbaut haben. Die griechische Regierung kann in Sachen Rettungspaket 3 zumindest bis zum 23. Juni 2016 sehr gelöst aufspielen. Problematischer ist für Griechenland ohnehin die Flüchtlingskrise.
Das Mißtrauensvotum in den Niederlanden gegen die EU in dieser Woche zeigt bereits, daß ein Brexit am 23. Juni 2016 weitere Polarisierungen in ganz Europa nach sich ziehen dürfte. Austrittsreferenden in anderen EU-Ländern dürften dann schnell folgen. Die Flüchtlingskrise erhöht den Druck zusätzlich. Aus der Finanz- und Euro-Krise, die 2010 durch konsequente Einhaltung der rechtlichen Regeln zu handhaben gewesen wäre, ist eine Krise der EU geworden, welche unsere Staats- und Regierungschefs mehr und mehr überfordert. Die EU-Krise spitzt sich zu.