Zu Beginn eines neuen Jahres, gar eines neuen Jahrzehnts, wird gern spekuliert, ob’s besser oder schlechter wird. Mangels Glaskugel und beschränkter seherischer Fähigkeiten bemühe ich einfach die Lieblingsphilosophin von Winfried Kretschmann, nämlich Hannah Arendt: „Ich bereite mich auf das Schlimmste vor, ich hoffe das Beste, und ich nehme es, wie’s kommt.“
Wie schnell sich Neuwahl-Spekulationen auf Bundesebene erledigen und wie rasch GroKo-Raus-Kandidaten zu fast schon regierungsloyalen SPD-Parteivorsitzenden mutieren können, das hat man innerhalb des letzten Monats erleben dürfen. Deshalb steht für mich bereits jetzt fest, dass Angela Merkel Ende 2020 noch Kanzlerin ist, auch wenn Hape Kerkeling kürzlich völlig zu Recht formulierte: „So wenig Kanzler wie heut war noch nie.“
Weil sich der Veränderungsdruck durch schlechte Wahlergebnisse in einem wahlarmen Jahr in engen Grenzen hält, ist ein „Weiter so“ die zwangsläufige Konsequenz. Denn selbst wenn es in Hamburg die Grüne Katharina Fegebank am 23. Februar bei der Bürgerschaftswahl tatsächlich zur Ersten Bürgermeisterin schaffte und damit die SPD in diesem Amt ablösen könnte: Die bundespolitische Mitregentschaft der Grünen über ihre insgesamt 11 Landesregierungsbeteiligungen würde im Bundesrat gleich bleiben.
Im kleinen Österreich lässt sich der junge konservative Liebling Sebastian Kurz auf eine dort bis vor kurzem unwahrscheinliche schwarz-grüne Liaison ein. Warum sollte Deutschland dann nicht in aller Ruhe bis zum regulären Wahltermin im September 2021 zuwarten, bis es auch in Berlin zu einem solchen bundespolitischen Zweier-Bündnis kommt? Da die Sozialdemokraten mit ihrer neuen Führungstruppe kaum aus dem Keller aufsteigen dürften und auch die Union die Wähler fürchten muss, steht man eben in Treue fest zur kleinsten GroKo aller Zeiten – bis zum bitteren Ende der Legislaturperiode. Abgeordnete, die für vier Jahre gewählt sind, wollen doch nicht vorzeitig auf Amt und Würden verzichten. Wer sich in den politischen Zirkeln in Berlin umhört, stellt erstaunt fest, dass eigentlich niemand wirklich Lust auf Neuwahlen hat – nicht einmal die Grünen, obwohl sie fast als einzige Partei nach heutigem Stand deutlich davon profitierten. Von der FDP hört und sieht man wenig, weil sie seit ihrer Jamaika-Absage irgendwie von der Rolle ist. Denn mit dieser Absage hat sie sich in den Augen vieler ihrer Wähler ihrer angestammten Korrektivrolle beraubt. Die Linke? Sie wird sich darauf einstellen müssen, dass auf mittlere Sicht eine Fusion mit der SPD auf der parteistrategischen Agenda steht, von der nicht nur der SPD-Linke Ralf Stegner fabuliert. Und die AfD? Sie dürfte sich auf absehbare Zeit auf solidem zweistelligen Niveau halten, weil die kollektive Konkurrenz sie ständig nährt. Scheitern wird die Protestwähler-Partei nur, wenn ihr Selbstzerstörungsbazillus weiter in ihren Fraktionen und Parteigremien grassiert.
Ach ja, in der Politik soll es auch um inhaltliche Gestaltung gehen. Doch da sehe ich wenig Bereitschaft, politische Remedur zu machen. Für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft bräuchte es dringend eine Unternehmenssteuerreform? Doch fällt Ihnen in der Bundesregierung jemand ein, der dieses Thema wirklich pushen will? Angesichts der Alterung der Gesellschaft, die uns im kommenden Jahrzehnt eine strukturelle Belastung in den Sozialversicherungen und bei der Beamtenversorgung beschert, sollte sozialpolitische Großzügigkeit mit der Gießkanne ad acta gelegt werden. Doch wer in der Regierung will hier wirklich bremsen? Lieber wird die grundgesetzliche Schuldenbremse in Frage gestellt, weil das Schuldenmachen in Zeiten der Negativzinsen doch so verführerisch ist. Obwohl der klimapolitische Hype des Jahres 2019 abklingen wird, weil sich ein so komplexes globales Thema nicht zum innenpolitischen Dauerbrenner eignet, wird sich die widersprüchliche Regelungswut der Politik gerade auf diesem Feld weiter austoben. Dabei hat der Druck der hochgejazzten „Friday for Future“-Kämpfer bereits deutlich nachgelassen. Der Hype hat seinen Zenit überschritten. Doch Grün wählen bleibt bis auf weiteres schick, weshalb ökologische Themen auch 2020 noch Konjunktur haben.
Und die Kanzlerin: Sie wird die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte zelebrieren – nicht nur als dienstälteste europäische Regierungschefin, sondern auch als Kanzlerin der größten Volkswirtschaft der EU, von der viele Partner viel Geld als Kompensation für den britischen Zahlungsausfall erwarten. Sie wird außerdem in Leipzig Gastgeberin des EU-China-Gipfels werden, zu dem sich vom 13. bis 15. September 28 Staats- und Regierungschefs in der ostdeutschen Messestadt versammeln werden – mehr als bei ohnehin schon gigantischen G20-Gipfeln. Mit außenpolitischer Performance vor allem will Angela Merkel am Ende ihrer langen Amtszeit punkten. Und die CDU hofft inständig, dass davon auch die Partei profitiert.