Tichys Einblick
Das Fundament entscheidet

Warum ist der Turm von Pisa schief?

Nur die aktuellen Fehler zu korrigieren (selbst wenn man das gegen NGO-Propaganda und Staatsfunk ginge), würde wenig nutzen, wenn der »weiche Boden«, die vernunftfeindlichen (»linken«) Denkweisen darunter dieselben bleiben.

Davide Ragusa

Ich schreibe diesen Text am Morgen des 24.12.2019. Elli und die Kinder sind unterwegs um letzte Besorgungen zu erledigen. Die Kinder dürfen sich noch ein Geschenk aussuchen, das dann von ihren Großeltern kommt.

Die LED-Lampen am Kunststoff-Weihnachtsbaum leuchten so weihnachtlich wie sie können, die goldenen Plastik-Kugeln glitzern feierlich mit dem ökologisch abbaubaren Lametta-Ersatz um die Wette, und Ihr liebster Essayist hat sich einen Kaffee gemacht und etwas Plätzchen stibitzt, und er macht sich auf, eine der häufigsten (An-)Fragen zu beantworten.

Es gibt da diesen Aufruf, der an mich immer wieder herangetragen wird, mal als Frage, mal als Bitte, und ja, mal als Vorwurf, und er lautet etwa so: »Herr Wegner, Sie kämpfen ja gar nicht!«, oder: »Herr Wegner, sollten wir nicht kämpfen, damit es besser wird?«, »Der Meister sitzt auf seiner Terrasse und der Wegner schwärmt vom Innenhof, wo soll da die Veränderung herkommen?«, oder sogar: »Herr Wegner, Sie predigen ja die Passivität!«

Was und wofür?

Wie es sich gehört, fragte ich Kämpfer zurück: Was ist dein End-Szenario? Welchen Ausgang erhoffst du dir? Ich bin ja prinzipiell bei dir, doch sollten wir nicht wissen, wofür wir kämpfen?

Ich bin vorsichtig. Ich will nicht werden wie die, die ich kritisiere! Mein Vorwurf an Gutmenschen ist ja, dass sie es zum Kern ihres Prinzips gemacht haben, nicht darüber nachzudenken, was die Folgen ihres Handelns sind. Es ist dem Gutmenschen wesentlich, nicht zu Ende zu denken und also eine Handlung ausschließlich nach dem Bauchgefühl im Moment des Handelns zu bewerten. Ein Gutmensch hält sich für gut und bewirkt Böses – ich weiß, dass ich fehlbar bin, und ich versuche, Gutes zu bewirken – wie und wofür soll ich also kämpfen?

Eine gemeinsame und definierende Eigenschaft der neuen linken Aktivisten ist, dass sie Dinge fordern, deren Kontext sie nicht verstehen. Wohlstandsverwahrloste Dummbratzen twittern auf ihren iPhones ihre Forderungen nach Sozialismus ins Internet, auf der Rückbank von Mamas SUV ihren Starbucks-Kaffee schlürfend. Eine Generation, für die der Strom aus der Steckdose, das Essen aus dem Kühlschrank und das Taschengeld von Papis Lehrergehalt kommt, fordert die De-Industrialisierung Deutschlands, wegen der Umwelt (und zum Vorteil von China und anderen Wettbewerbern). Ich will nicht nur sagen dürfen, dass ich kämpfe, dass ich gegen Widerstände anlaufe, bis sie oder mein Wille zerbrechen, dass ich die Zeiten zwinge und die Wahrscheinlichkeit zu meinen Gunsten drehe, was für ein Drehmoment es auch braucht – ich will doch wissen, was all das Gesagte überhaupt bedeutet!

Mit Mühe die Schäden

Manche Leser wollen darum kämpfen, Merkel nach allen Regeln demokratischer Kunst aus dem Amt zu jagen (der Wegner hat »jagen« gesagt – jagt ihn!), und dann mit Mühe die Schäden rückgängig machen, welche die Zerstörerin in ihrer um bisher eineinhalb Jahrzehnte zu langen Amtszeit über das Land und seine Menschen brachte (was sie wohlgemerkt mit Hilfe ihrer Schemelhalter und den Einpeitschern in den Redaktionen tat – später werden sie alle schon immer »Merkel muss weg« gerufen haben). Manche wollen schlicht Deutschland davon abhalten, im Namen von Moral und Umwelt sich selbst zum Schwellenland zu machen (schon jetzt begibt sich Deutschland in Strom-Abhängigkeit von seinen Nachbarn, ohne echte Not außer hysterischer Moralpanik). Manche sehen in der Islamisierung Deutschlands und Europas ein Problem für die Werte der Aufklärung. Und einige wären schon froh, wenn die Regierung aufhören würde, mit orwellschen Gesetzen die Grundlagen des Rechtsstaats anzugreifen.

Ich stimme solchen Zielen ja prinzipiell zu, ich teile und unterstütze sie – doch ich erlaube mir eine Fußnote: Merkel aus dem Amt zu wählen oder etwa das verfassungswidrige »NetzDG« rückabzuwickeln wäre zweifellos richtig, aber allein wäre es wenig nachhaltig, wenn man nicht die Ursache behebt, wie es überhaupt dazu kommen konnte!

Was Deutschland sich und seinen Bürgern antut ist die Folge von Denkweisen. Das Bauchgefühl vor den Verstand zu setzen ist eine »mentale Verhaltensweise«. Selbst wenn wir den Energie-Irrsinn und den Welteinladungs-Irrsinn und den Deutschland-zahlt-Schulden-anderer-Länder-Irrsinn und den 1984-als-Anleitung-Irrsinn rückabwickeln könnten (und magischerweise die bereits verpassten Chancen aufholen würden), so würden die Deutschen bei gleicher Denkweise wieder neue und üblere Fehler machen!

Beim berühmten Schiefen Turm von Pisa sind die oberen vier Stockwerke in einem Winkel zum restlichen Turm gebaut. Der Turm begann sich schon während des Baus zu neigen, also »korrigierte« man es, indem man den Rest schief draufsetzte. Das Problem war aber der weiche Boden! Nur die aktuellen Fehler zu korrigieren (selbst wenn man das gegen NGO-Propaganda und Staatsfunk bewerkstelligen könnte), würde wenig nutzen, wenn der »weiche Boden«, die vernunftfeindlichen (»linken«) Denkweisen darunter dieselben bleiben.

Im Essay »Eine Falle für Idioten« las ich letztes Jahr gemeinsam mit Ihnen das Gedicht »If–« von Rudyard Kipling. Ich versuche noch immer, den Zeilen jenes Gedichtes gerecht zu werden. Ein Gedanke daraus bewegt mich bei der Frage, warum und wofür ich kämpfe: »… wenn du dir selbst vertraust, während alle an dir zweifeln, und wenn du dennoch ihren Zweifel zumindest bedenkst«. – Ich bin der tiefsten, lange durchdachten Überzeugung, dass das größte Problem (oder zumindest dasjenige, das ich selbst angehen möchte) die Frage ist, wie wir Menschen zu unseren ethischen Einschätzungen gelangen. Ich halte es für die dringlichste persönliche Aufgabe (ob man diese nun »philosophisch«, »humanistisch« oder gar »spirituell« nennt), uns dessen bewusst zu werden, was wir wichtig und beschützenswert finden und warum, und es aus diesem Bewusstsein heraus zu verteidigen. Ich könnte falsch liegen, und ich behalte das im Auge, und anders als Linke bin ich aktiv froh darüber, dass andere Menschen die Dinge anders sehen, denn nur so lernen wir voneinander, nur in fröhlicher Verschiedenheit werden wir klüger statt dümmer – und doch ist es dies, was ich für mich als wichtig und richtig erkannt habe. Das ist, wofür ich kämpfe.

Ich kämpfe nicht für eine politische Richtung oder gar Partei (aber für die Demokratie!), und es bereitet mir wenig Kopfzerbrechen, alle derartigen Anfragen und Aufrufe abzulehnen. Ich kämpfe nicht politisch gegen bestimmte Maßnahmen (weise aber gern und laut auf deren logische und ethische Mängel hin, weil es ja auch unser Denken schärft). Ich kämpfe und arbeite für das Wohl meiner Familie, doch das ist ja nicht Ziel und Gegenstand meiner Texte.

Ich kämpfe zuerst und zuletzt für das Recht des Einzelnen, selbst zu bestimmen und zu verteidigen, was ihm wichtig ist (ich nenne es die »relevanten Strukturen«). Ich tue alles in meiner Macht stehende, damit Menschen wieder darüber nachdenken, was die realistischen Konsequenzen ihrer Handlungen sind (also kluge und menschliche Verantwortungsethik statt die grausame und gefühlskalte Gesinnungsethik der Gutmenschen). Am Ende gewinnen weder Ideologie noch Gesinnung noch moralisches Bauchgefühl – am Ende gewinnt immer die Realität. Wenn man den Deutschen wieder genug Realitätssinn beibringen könnte, damit sie verstehen, dass man nach einem Beinschuss blutet, dann kann es vielleicht doch wieder gut werden, dann können wir vielleicht die Richtung wechseln.

Dass alle Türme gerade gebaut werden

Soll man kämpfen? Ja! – Wofür soll man arbeiten, worauf hoffen? Geld kommt immer wieder, aber jede Sekunde und jede Stunde, die wir für einen Zweck investieren, sei dieser Zweck edel oder müßig, ist für immer weg, das gilt für Knecht und König gleichermaßen – wofür sollen wir nun Geld und Lebenszeit investieren? Die Zeit ist weg, so oder so, also sollte man überlegen, wofür man sie aufgibt, und der Zwecke sollte es wert sein. – Selbstverständlich sollen wir für das kämpfen, was uns wichtig ist! Und dass die Menschen den Mut entwickeln, selbst zu bestimmen, was ihnen wichtig ist, das ist, wofür ich arbeite.

Ja, ich bin dafür, dass alle Türme gerade gebaut werden! Kämpft um die Winkelgerechtigkeit wie ihr um die Menschengerechtigkeit kämpft! Ich erlaube mir zugleich, daran zu arbeiten, dass das Fundament trägt. Wenn der Boden nachgibt, könnt ihr den Turm noch so oft korrigieren, er wird umso krummer werden, je häufiger ihr korrigiert. Oder, ein anderes Bild: Wenn der in Gefangenschaft aufgewachsene Panther die Freiheit fürchtet, könnt ihr ihn noch so oft freilassen, er wird doch immer wieder aus dem Dschungel zurück in den Käfig kriechen. (Warum sollte der Panther auch nach draußen wollen, wenn er doch meint, dass hinter tausend Stäben keine Welt liegt?)

Es ist, während ich diesen Text abschließe, kurz nach Mittag, wenige Stunden vorm Heiligen Abend. Inzwischen ist Elli mit den Kinder wieder da. Die Kinder haben sich als letztes Geschenk ein Whiteboard ausgesucht, auf dem sie gemeinsam Hausaufgaben lösen können, »wie in der Schule« (und ja, Papa Dushan und Mama Elli sind sehr stolz auf einen solchen Wunsch, auch wenn wir jetzt Schrauben in die Wand werden bohren müssen).

Was auch immer das Christkind uns bringt, wie friedlich die Weihnachtstage auch tatsächlich werden mögen – zu all den guten Wünschen ob einer besinnlichen Zeit und frohen Tagen auf dem Weg ins neue Jahr wünsche ich uns vor allem die Einsicht, zu wissen, was uns wirklich wichtig ist, den Mut, dafür zu kämpfen, und die Weisheit, zu erkennen, wo man kämpfen soll und wo man lieber abwartet und Kraft sammelt, ob mit einem Tee oder mit einem Rotwein, ob im Innenhof oder auf der Terrasse.

Lasst uns kämpfen. Lasst uns mutig sein. Vor allem aber: Lasst uns klug sein!


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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