Das zweite Feld, auf dem sich Deutschlands Zukunft entscheidet, ist der Rechtsstaat. Über Jahrzehnte zog die Partei ihre Energie aus einem inneren Widerspruch, und sie lebte ganz gut damit: Wirtschaftsliberale und Bürgerrechtsliberale bildeten die beiden Flügel, die nur zusammen das Fliegen ermöglichten. Doch nachdem die FDP schon länger keine Wirtschaft mehr macht, macht sie nun auch keine Bürgerrechte mehr.
Die FDP und die Gesetze
Nehmen wir das Internet und die immer weniger verhohlenen Ansätze zu dessen (Achtung, jetzt kommen böse Wörter) Überwachung und Zensur:
- 2007 beschlossen Innenminister Wolfgang Schäuble und Justizministerin Brigitte Zypries die Vorratsdatenspeicherung – vorgeblich, um Terrorismus zu bekämpfen.
- 2009 dann wollte Familienministerin „Zensursula“ von der Leyen ungeachtet aller ihr in der Sache fehlenden Zuständigkeiten Internetsperren durchsetzen – vorgeblich, um Kinderpornografie zu bekämpfen.
- 2018 ersann Justizminister Heiko Maas das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ (NetzDG) – vorgeblich, um Hass im Internet zu bekämpfen.
2019 nun will Christine Lambrecht, wieder eine Justizministerin, alle Internet-Dienstanbieter dazu verpflichten, die Passwörter der Bürger herauszugeben, wenn die Benutzer verdächtigt werden, Dinge zu sagen, die der Regierung nicht gefallen – vorgeblich wieder, um Hass und Hetze im Internet zu bekämpfen.
Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.
Wir reden hier nicht über Nordkorea oder China oder Russland, wir reden über Deutschland. Seit der Wende erlaubt sich unser Staat Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger sowie in die Meinungs- und Redefreiheit, die davor, in der alten Bundesrepublik, undenkbar gewesen wären.
Die Generaloffensive gegen die Bürgerrechte kommt keineswegs nur vom Staat. Die großen Internetkonzerne mit ihrer unbändigen – und ungebändigten – Datensammelwut sind ja im Prinzip noch schlimmer als die Späher und Zensoren der Regierung. Und die Meinungs- und Redefreiheit wird von (linken) sogenannten Aktivisten, die Veranstaltungen stürmen und Vorträge verhindern, mindestens genauso bedroht wie von maßlosen Ministern.
Hach, das wäre doch ein weites Betätigungsfeld für eine Bürgerrechtspartei.
Aber die FDP will diese Partei nicht sein.
Wie nennt man das, wenn jemandem etwas nur dann wichtig ist, wenn es ihn selbst betrifft?
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Nicht nur Freiheitsrechte leben davon, dass sie durchgesetzt werden: Das Recht insgesamt hat nur Bestand, wenn es angewendet wird – und zwar gerade auch dann, wenn das unangenehm ist.
Aber Menschen kommen zu Hunderttausenden erst illegal ins Land und bleiben dann illegal im Land. Die FDP sagt – nichts.
Eine fehlgeleitete Politik verheizt skandalös unterbezahlte Polizisten und fordert von ihnen „Deeskalation“, obwohl die Aufgabe der Polizei doch die Durchsetzung der Gesetze wäre. Die FDP sagt – nichts.
In der sogenannten Hauptstadt Berlin müssen die Eltern von Kindern, die für „Fridays for Future“ wieder und wieder die Schule geschwänzt haben, kein Bußgeld bezahlen, womit faktisch die Schulpflicht ausgesetzt wird – das aber natürlich nur selektiv: Denn wer während der Schulzeit gegen die Schulpolitik des Senats oder gar gegen die Migrationspolitik der Bundeskanzlerin demonstriert hat, muss zahlen. Die FDP sagt – nichts.
Nein, die Bürgerrechts- und Rechtsstaatspartei FDP gibt es nicht mehr.
Die FDP und die Freiheit
Bei der dritten entscheidenden Säule für Deutschlands Zukunft sieht es in der Partei besonders düster aus: bei der Demokratie selbst.
Im August 2019 war der 100. Todestag von Friedrich Naumann. Das ist der Mann, nach dem die FDP ihre parteinahe politische Stiftung benannt hat. Der Festakt (wenn man ihn denn so bezeichnen will), der zu diesem Anlass ausgerichtet wurde, geriet zu einer Selbstdistanzierung der Partei und der Stiftung von Naumann und dessen Ideen.
In einer trostlosen Berliner Kapelle mit dem Charme und der Beleuchtung einer Leichenhalle hatten nicht nur sämtliche Mitglieder der FDP-Führung es vorgezogen, nicht zu kommen; auch der Vorsitzende und der Geschäftsführer der Stiftung waren vorsichtshalber nicht erschienen. Der Festredner suchte dann vor allem Argumente dafür, weshalb Naumann eigentlich gar kein Liberaler gewesen sei.
Von den unzähligen Themen mit aktuellem Bezug, die die politische Gedankenwelt Naumanns anbietet, hatten sich die Organisatoren des schrägen Abends ausgerechnet das Verhältnis von Kirche und Staat zur näheren Erörterung ausgesucht. Wenn hier die Frage hatte aufgeworfen werden sollen, was Naumann für die heutige Zeit bedeutet, dann war die Antwort der Veranstaltung: nichts – jedenfalls nicht für die FDP und nicht für die Friedrich-Naumann-Stiftung.
Das Beste, was man von diesem Offenbarungseid berichten kann, ist, dass er quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand.
Bei näherer Betrachtung freilich ergibt dieses Desaster durchaus Sinn. Denn das eigentlich zentrale Thema von Friedrich Naumann war mitnichten das Verhältnis von Kirche und Staat, sondern der zwingende Zusammenhang von Nationalstaat und Demokratie sowie von Freiheit und Pflicht. Das nun wiederum ist etwas, mit dem die Kaste der Ichlinge in der aktuellen FDP nun so überhaupt nichts anfangen kann (und sehr vermutlich auch nichts anfangen will).
Für Naumann war der Nationalstaat die notwendige Bedingung für die Demokratie. Nur im Nationalstaat konnte es für diesen großen Denker Bürger mit entsprechenden Bürgerrechten geben. Nur im Nationalstaat in seiner räumlichen und kulturellen Begrenztheit konnte für Naumann ein System des Ausgleichs etabliert werden – also das, was wir heute „Sozialstaat“ nennen. Die Nation war für Naumann die unbedingte Voraussetzung für individuelle Freiheit.
Von nichts könnte die FDP im Jahr 2019 weiter entfernt sein als von dieser Idee.
Die Partei ist so unrettbar der EU-Ideologie verfallen, dass sie als ernstzunehmende Kraft für eine Stärkung Deutschlands (übrigens zum Wohle ganz Europas) nur als Totalausfall verbucht werden kann. Die Liberalen verteidigen im Ergebnis sämtliche Exzesse und Abartigkeiten der Brüsseler Kleptokratie. Demokratiedefizit in der EU? Egal. Verschwendung in der EU? Egal. Bürokratismus in der EU? Egal. Entfremdung vom Volk in der EU? Egal.
Während die Briten dank nationaler Selbstachtung immerhin dazu in der Lage waren, dem galoppierenden EU-Wahnsinn ein Stoppschild zumindest vor die eigene Haustür zu stellen, ist die Europäische Union für die deutsche FDP das, was das Klima für die deutschen Grünen ist: eine Quasi-Religion.
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In der kommt einer nicht vor: der Bürger – das zentrale Subjekt der liberalen Gesellschaft.
Er wird von der heutigen FDP – es tut weh, das zu sagen, aber es geht nicht anders – gründlich verraten. Der Bürger ist der politische Ausdruck des liberalen Menschenbilds, sozusagen die Grundeinheit eines selbstverfassten Gemeinwesens. Er unterscheidet sich vom Untertanen fundamental: durch seine Freiheit einerseits, durch sein Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwesen andererseits. Beides ist konstitutiv für das Bürgertum.
Aber Einsichtsfähigkeit und Wissen des Menschen sind begrenzt – genau wie auch Verantwortungsgefühl und Empathie. Deshalb ist „Weltbürgertum“ eine zutiefst illiberale Schimäre: weil sich in ihr jede bürgerliche Verantwortung verflüchtigt. Wenn die FDP sich von der historisch gewachsenen Gemeinschaft abwendet zugunsten einer Illusion – sei es eines europäischen Bundesstaats oder auch gleich eines Weltstaats – zerstört sie die Idee des Bürgers an sich. Wer kein Verhältnis zur Nation mehr hat, hat auch die Idee des Staatsbürgers aufgegeben. So wird Demokratie erstickt: Denn die Nation ist der größtmögliche Lebensraum einer funktionierenden Demokratie.
Die untrennbare Verbindung von Nation und Freiheit blendet die Partei genauso aus wie die untrennbare Verbindung von Freiheit und Verantwortung. Den heutigen Liberalen sind bürgerliche Pflichten grundsätzlich suspekt. Das Konzept, dass alles im Leben einen Preis hat und dass der Preis für die bürgerlichen Freiheiten eben notwendigerweise die bürgerlichen Pflichten sind – dieses Konzept lehnt die FDP des Jahres 2019 geradezu militant ab. Die Wehrpflicht fand man schon schlimm, die Idee einer allgemeinen Dienstpflicht findet man folgerichtig unzumutbar.
Wie nennt man das, wenn jemand von der Freiheit profitieren, aber nichts für sie tun will?
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Und wie nennt man das, wenn eine angebliche Freiheitspartei sich beim alles überragenden Freiheitsthema unserer Zeit einfach nur wegduckt?
Welche Position vertritt die FDP eigentlich bei der Migration? Ist sie für oder gegen eine Begrenzung der Zuwanderung? Ist sie für oder gegen eine Verschärfung des Asylrechts? Ist sie für oder gegen größeren Integrationsdruck auf Migranten in Deutschland? Ist sie für oder gegen Angela Merkels Flüchtlingsdeal mit dem Despoten Erdogan?
Man weiß es nicht so genau. Die Partei bleibt hier beharrlich unscharf.
Ist die FDP für oder gegen die konsequente Abschiebung illegal hier lebender Ausländer? Und falls sie dafür ist: Warum sorgt sie in den Bundesländern, in denen sie mitregiert, dann nicht dafür, dass zumindest dort konsequent abgeschoben wird (wenn schon nicht im Rest der Republik)?
Es wird in einer für das Nachkriegsdeutschland beispiellosen Härte darüber gestritten, ob die Migration unsere Sicherheitsarchitektur überdehnt und unser Sozialsystem erschöpft. Mit Gewissheit kann man also sagen, dass die Migration Deutschland politisch spaltet. Allein schon deshalb ist sie eine zentrale Freiheitsfrage – bei der die Liberalen sich im Ungefähren verstecken.
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Und so können weder die Wirtschaft noch der Rechtsstaat noch die Freiheit auf die FDP als Verteidiger zählen.
Epilog
Journalisten neigen dazu, Ereignisse brutal zu personalisieren. So kann man schön emotionale Geschichten erzählen. Aber die Fixierung auf Einzelne, deren Fehler und Schwächen verstellt meist den Blick für viel tiefer liegende, von den handelnden Figuren unabhängige Zusammenhänge.
Klar, man kann die FDP-Führungsriege – vor allem im Bund – trefflich kritisieren. Aber diese Leute sind ja nicht durch einen Putsch dorthin gekommen, wo sie jetzt seltsame Dinge tun. Christian Lindner hat sich die Partei nicht unterworfen. Die Partei hat ihn gewählt.
Das Problem der FDP ist nicht Christian Lindner. Das Problem der FDP ist überhaupt keine bestimmte Person. Das Problem der FDP ist sie selbst.
Die Liberalen haben Angst – Angst davor, den Mainstream zu verpassen. Entsprechend setzen sie auf Opportunismus und darauf, die gerade angesagten Moden mitzumachen. Keine andere Partei hat sich aus dem Nichts in den Bundestag zurückgekämpft. Aber ihren vom Wähler verordneten Bildungsurlaub vom Parlament hat sie nicht genutzt. Das, was ihre Gegner (zu Unrecht) schon immer von ihr behauptet hatten, das ist sie jetzt tatsächlich geworden: beliebig.
Die FDP ist in der Mitte von Nirgendwo.
Wenn eine Partei während eines großen gesellschaftlichen Umbruchs – wie wir ihn gerade als tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft erleben – keine Stellung beziehen will; wenn sie sich gegen die Aushebelung der Demokratie und gegen die Abschaffung des Staatsbürgers nicht zur Wehr setzt; wenn sie stattdessen all das sogar mitmacht und beschleunigt, um trendig und zeitgeistig zu sein: Dann hat sie keine politische Botschaft und keine gesellschaftliche Funktion mehr.
Sie hat sich überflüssig gemacht. Ruhe in Frieden.