Tichys Einblick
Liberale Selbstaufgabe - Teil 1 von 2

Adé, FDP

Keine andere politische Gruppe hat das alte Deutschland so lange mitgeprägt – und keine andere hat sich auf der Suche nach ihrem Platz im neuen Deutschland so sehr verlaufen wie die FDP: Grabrede auf eine überflüssige Partei, die so dringend benötigt wird.

„Wir wollen bei uns die Menschen sammeln, die nicht etwas werden wollen, sondern die etwas sein wollen: nämlich sie selbst – Menschen eigenen Muts und eigener Verantwortung.“ (Theodor Heuss, erster Vorsitzender der FDP)

Pro-Prolog

Dieser Text ist aus mehreren Gründen schmerzhaft.

Er ist schmerzhaft für den Autor, denn den größten Teil meines Lebens war die FDP meine Partei. Fast 25 Jahre lang war ich Mitglied und in dieser Zeit teilweise sehr aktiv. Ich hatte verschiedene Parteiämter und saß sogar mal in einem Landesvorstand, ich reiste als Delegierter zu Dutzenden Parteitagen und ließ mich dazu breitschlagen, als – natürlich völlig aussichtsloser – Direktkandidat für den Bundestag einen Wahlkreis zu übernehmen.

(Bei mir zuhause in Berlin hätte zwar eher Buddha den Marathon gewonnen als die FDP ein Direktmandat – aber bitte, irgendjemand musste es ja machen, und was tut man nicht alles für den eigenen Verein?)

Die Freie Demokratische Partei war also für knapp zweieinhalb Jahrzehnte meine politische Heimat. Es tut immer weh, seiner Heimat den Rücken zu kehren – auch wenn man sich das selbst nicht sofort eingestehen will.

Schmerzhaft ist dieser Text vermutlich auch für diejenigen, die immer noch in und bei der FDP sind: für die Regierungsmitglieder, Abgeordneten, Funktionäre, Mitarbeiter und Anhänger – denn sie werden hier lesen, dass sie falsch liegen, dass sie sich irren oder in die Irre geführt werden.

Natürlich werden die meisten von ihnen so tun, als würden sie diesen Text nicht kennen und schon gar nicht lesen. Aber ich weiß es besser, ich kenne den Laden: Sie werden ihn lesen, und er wird ihnen ähnlich weh tun wie mir.

Das tut mir ehrlich leid. Aber es ist, genauso ehrlich, nicht zu ändern.

Prolog

„Die Mitte lebt.“ Auf ihrem traditionellen Jahrespresseempfang kurz vor Weihnachten beansprucht die FDP nicht nur mit großen Plakaten das gesellschaftliche Zentrum für sich. Auch Generalsekretärin Linda Teuteberg, witzig und charmant wie immer, spricht gleich in ihrer Begrüßung die Beschwörungsformel: Man wolle Politik „aus der Mitte für die Mitte“ machen.

Was dieser Begriff aus der politischen Gesäßgeografie genau beschreibt, wie man dorthin kommen und wie man die Menschen dort erreichen will, wird an diesem Abend nicht gesagt. Klar ist nur: Die FDP hat die Mitte als strategisches Zielgebiet ausgerufen.

In Hamburg will sie das mit Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein erobern. Die 57-jährige Rechtsanwältin ist Spitzenkandidatin für die kommende Bürgerschaftswahl, sie tritt engagiert, kenntnisreich bis ins Detail und durchaus glaubwürdig auf. Aber die Frau aus der Hansestadt führt gleichzeitig Wohl und Wehe der real existierenden FDP vor: In keiner anderen Partei ist die Kluft zwischen dem Bund und den Ländern ähnlich riesig.

Hamburg ist für die FDP ungefähr das, was Baden-Württemberg für die Grünen ist: in gewisser Weise ideologische Diaspora. Während von Treuenfels redet und das restliche Publikum zuhört, tuscheln die vielen jungen Männer aus der Bundestagsfraktion in einer Lautstärke irgendwo zwischen kollegialer Unhöflichkeit und demonstrativer Respektlosigkeit. Man wird den Eindruck nicht los: Eine erwachsene Frau, die nicht selbstbezogen und karrieregeil wirkt und die auch erkennbar für den Wähler mehr übrig hat als zynische Herablassung – so eine ist den uniformierten Christian-Lindner-Klonen der Bundes-FDP unheimlich.

Christian Lindner selbst sagt dann auch noch etwas, da ist es plötzlich wieder ruhiger im Saal. Der Partei- und Fraktionschef freut sich vor allem über den Erfolg kürzlich bei den Landtagswahlen in Thüringen. Dort hatte die FDP den Wiedereinzug ins Parlament sozusagen im Foto-Finish geschafft: Die Fünf-Prozent-Hürde wurde gerade so genommen – mit ganzen 73 Stimmen Vorsprung (bei 1,1 Millionen abgegebenen Stimmen).

Was Lindner nicht sagt: Der Erfolg in Thüringen ist mehr trotz als wegen der Bundespartei zustande gekommen. Ähnlich wie die Hamburger sind auch die Erfurter Liberalen personell und politisch eher ein Gegenentwurf zur Berliner Zentrale als deren regionales Abbild. Thüringens Spitzenmann Thomas Kemmerich ist geradezu die Verkörperung einer FDP, wie es sie auf Bundesebene schlicht nicht gibt: verheiratet, Familienvater, abgeschlossene Lehre, fast sein ganzes Leben über selbstständig in der Wirtschaft tätig, erfolgreicher mittelständischer Unternehmer.

Hier zeigt sich alles, was die FDP sein könnte – und was sie nicht ist.

Die FDP und der Markt

„The economy, stupid.“
(James Carville, 1992)

Welche Zukunft Deutschland hat – wenn es, was noch nicht ausgemacht ist, überhaupt eine hat – wird sich vor allem auf drei Feldern entscheiden. Eines davon ist die Wirtschaft.

Heute gilt es als „liberal“, Vorschriften für den vermeintlich guten Zweck zu erlassen – die Grünen führen das andauernd vor. Wer marktwirtschaftliche Instrumente bevorzugt, gilt dagegen im neuen deutschen Mainstream als „konservativ“.

Aber die Soziale Marktwirtschaft hat Deutschland reich gemacht. Sicher, die Deutschen waren nach dem Zweiten Weltkrieg unfassbar fleißig und einfallsreich. Doch das waren und sind die Menschen in vielen anderen Ländern auch, ohne dass jene Länder einen ähnlichen Aufschwung genommen hätten. Es war dieses einzigartige, in Deutschland erfundene System, das aus dem Fleiß und dem Einfallsreichtum der Einzelnen tatsächlich auch Wohlstand für das ganze Land werden ließ.

Dieselben Widerstände, gegen die Ludwig Erhard seine Idee damals durchkämpfen musste, sind heute wieder da. Jenseits der kleinlichen tagespolitischen Geplänkel geht es in den größeren Zusammenhängen unserer Politik wieder darum, ob Deutschland sich zur Sozialen Marktwirtschaft hin- oder von ihr abwendet.

Die SPD bildet zusammen mit der „Linken“ und den Grünen einen neo-sozialistischen Block, der mehr oder weniger offen eine staatliche Planwirtschaft bevorzugt. Die Brüder und Schwestern im Geiste unterscheiden sich dabei in der Wortwahl, nicht aber im Prinzip.

Die Union befindet sich auf einer bizarren Zeitreise zu ihren giftigen geistesgeschichtlichen Wurzeln: zurück zum christlichen Sozialismus. In den Gründungsjahren der Bundesrepublik kamen die heftigsten Kritiker von Erhards Sozialer Marktwirtschaft aus der CDU. Nicht in öffentlichen Reden, aber in praktischer Politik ist das heute wieder so. (Das religiöse Element übernimmt dabei inzwischen der Klima-Kult.)

Die neue Kraft in der deutschen Politik, die AfD, ist auch hier ein unsicherer Kantonist. Der parteiinterne Ost-West-Konflikt hat nicht nur taktische und persönliche, sondern auch handfeste ideologische Gründe. Die östlichen Landesverbände, sowohl in Mitgliedschaft wie in Führung, können mit der Sozialen Marktwirtschaft des alten Westdeutschlands oft herzlich wenig anfangen. Eher früher als später wird es hier zu einer grundsätzlichen Richtungsentscheidung kommen – und absehbar werden sich dabei die Ost-Verbände durchsetzen. Es wird also eine Entscheidung gegen die Marktwirtschaft sein.

Nun mag es sein, dass die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland tatsächlich keine Mehrheit hat. Trotzdem hat sie viele, viele Anhänger, in allen Parteien. Überzeugte Marktwirtschafter aber sind, siehe oben, de facto schon jetzt politisch heimatlos – oder sie werden es bald sein. Es gibt also ein riesiges Potenzial für eine konsequent und überzeugt und engagiert marktwirtschaftliche Partei.

Was für eine Chance für die FDP.
Was für eine Chance, die sie nicht nutzt.

*****

Die FDP ist nicht konsequent marktwirtschaftlich. Eigentlich war sie das noch nie so richtig. Im Laufe der bundesrepublikanischen Geschichte haben die Liberalen Partei stets Großkonzerne bevorzugt (und deren Spenden eingesteckt: Horten, Mövenpick, …). Sie haben das Kartellamt vernachlässigt und geschwächt, Freiberufler und Selbstständige im Regen stehen lassen. Der Vorwurf der Zahnärzte-und-Makler-Partei war nie gerechtfertigt. Tatsächlich segelt die FDP seit Jahrzehnten unter falscher Flagge: Sie trägt das Wort „Mittelstand“ wie eine Monstranz vor sich her – und macht doch fast nur Politik für die Großindustrie, nicht für den Handwerksmeister.

Mit einer aufrichtigen Haltung pro Wettbewerb und gegen Oligopole bzw. Monopole, also mit echter marktwirtschaftlicher Standfestigkeit, hat das nichts zu tun. Der Mittelstand – der Deutschland maßgeblich trägt, der die eigentlich innovative Kraft unseres Landes ist und der obendrein auch noch den allergrößten Teil der Arbeitsplätze hierzulande bereitstellt – hat in den Liberalen keine ehrlichen Fürsprecher.

Wenn systematische Konsequenz gefordert ist, knickt die Partei nur allzu oft zugunsten kurzfristiger Propaganda-Effekte ein. Wenn Unternehmen Subventionen fordern, wäre es die Aufgabe einer konsequent marktwirtschaftlichen Partei, dagegenzuhalten – auch wenn man sich dafür eine Zeit lang schlechte Presse und den Zorn der betroffenen Unternehmen einhandelt.

Gegen Subventionen ist die Partei ein bisschen wie bei Radio Eriwan: im Prinzip schon – solange es nicht die vermeintlich eigene Klientel ist, die Subventionen fordert. Dann ist man doch eher dafür und organisiert eine dilettantische Steuerbefreiung für Hoteliers.

Es ist ein Jammer.

*****

Die FDP ist nicht überzeugt marktwirtschaftlich. Wie wenig die Partei wirklich an grundlegende marktwirtschaftliche Prinzipien glaubt, zeigt sich gerade jetzt wieder in der Bildungsfrage. Da fordern die Liberalen seit kurzem das Zentralabitur, also maximale Vereinheitlichung. Gemeinsame Standards könnten ja theoretisch helfen – aber nur, wenn zum Beispiel die bildungsfernen Berliner ihre Schrott-Lehrpläne wegwerfen und komplett die Bayerischen übernehmen.

Das wird nicht passieren, denn das Leben ist nicht so. Andersherum wird ein Schuh draus: Das Wasser fließt immer zur tiefsten Stelle. Das ist ein physikalisches und ein politisches Naturgesetz. All die Bundesländer, die ihr Bildungssystem teilweise über Jahrzehnte mutwillig ruiniert haben: Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen – die werden jetzt nicht plötzlich höhere Bildungsstandards akzeptieren, im Leben nicht. Die werden sich im Gegenteil den Ländern, in denen das Abitur noch halbwegs etwas wert ist, an die Füße hängen und die so weit nach unten ziehen wie nur möglich: Bayern, Thüringen, Sachsen, in Teilen auch immer noch Baden-Württemberg – eher werden sie sich dem erbärmlichen Niveau von Berlin anpassen müssen als umgekehrt.

Wo die Schulverwaltungen selbst so tatkräftig die Qualität des Schulwesens aushöhlen, da sind „gemeinsame Bildungsstandards“ kein Ziel, sondern ein Alptraum. Nur ein Modell hat wie keines sonst immer und immer wieder bewiesen hat, dass es für praktisch alle Probleme die jeweils beste Lösung hervorbringt: Wettbewerb.

Dagegen steht der linke Wunsch nach Gleichmacherei – und der Wunsch der großen Konzerne nach mehr Vergleichbarkeit; denn dann kann man die Einstellungstests künftig sogar automatisieren und muss sich überhaupt nicht mehr eingehender mit dem einzelnen Bewerber befassen.

Eine vom marktwirtschaftlichen Kernprinzip des Wettbewerbs (und von der Einzigartigkeit des Individuums) überzeugte Partei würde hier den Wünschen der Linken und der großen Konzerne gleichermaßen widerstehen. Die FDP ist keine solche Partei.

Christian Lindner erklärt, der Bildungsföderalismus sei „aus der Zeit gefallen“. Er hätte auch sagen können, der Bildungswettbewerb sei aus der Zeit gefallen. Oder noch anders: Der Bundesvorsitzende der liberalen Partei im viertgrößten Industriestaat der Welt erklärt, Wettbewerb sei aus der Zeit gefallen.

Es ist ein Jammer.

*****

Die FDP ist nicht engagiert marktwirtschaftlich. Der Kapitalismus hat sich real als die erfolgreichste Wirtschaftsform der bisherigen Menschheitsgeschichte erwiesen. In keinem anderen System kommen die uns Menschen innewohnenden Potenziale so zur Entfaltung.

Aber: Emotional überfordert der Kapitalismus die Menschen (nicht alle, aber sehr viele – ich behaupte: die meisten). Die ständige Konkurrenz mit anderen scheint unserem evolutionären Erbe als Gruppenwesen zuwiderzulaufen. Der Kapitalismus macht die Menschen reich und gesund – und trotzdem unzufrieden.

Einige Ideologien versuchen, dem durch Abwendung vom Kapitalismus zu begegnen. Das hat sich – überall, wo es versucht wurde – letztlich als fürchterlich erwiesen. Die Beispiele sind Legion. Wer sich ganz aktuell anschauen will, was Anti-Kapitalismus anrichtet, kann ja in Venezuela Urlaub machen.

Dass alle bisherigen Versuche, den Schwächen des Kapitalismus durch Flucht aus dem Kapitalismus auszuweichen, sämtlich grauenhaft gescheitert sind, heißt aber nicht, dass es diese Schwächen nicht gibt.

An dieser Front versagt die FDP komplett. Sie reagiert auf die systematischen Schwächen des Kapitalismus, indem sie diese einfach leugnet. „Marktversagen“ gilt in der Partei als Unwort. Das (auch in einer marktwirtschaftlichen Demokratie eigentlich selbstverständliche) Primat des Rechts über die Wirtschaft gilt als staatsinterventionistisches Teufelszeug. Das zeugt von ideologischen Scheuklappen oder von mangelnder intellektueller Tiefe. Oder von beidem.

Diese liberale Blindheit gegenüber den unbestreitbaren Schattenseiten der Marktwirtschaft führt derzeit überall in Europa zur Spaltung der Gesellschaften und zu einer Abwendung wichtiger Gesellschaftsteile von der Marktwirtschaft – auch und gerade in Deutschland. Weil die FDP (wie der Liberalismus insgesamt) sich aber weigert, theoretisch und praktisch, intellektuell und politisch an der Weiterentwicklung und Verbesserung des Kapitalismus mitzuarbeiten, fördert sie im Ergebnis die Feinde der Marktwirtschaft.

Es ist ein Jammer.


(In der nächsten Folge: Die FDP und die Gesetze und Die FDP und die Freiheit)

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