Die Erde hatte am Vorabend gebebt. Man hatte das Beben wie eine Welle durch das Tal und die Wälder ziehen gesehen. In der Nacht hatte die Erde dann noch dreimal gezittert. Am Morgen hatte der nahe Berg recht lustlos Rauch ausgestoßen und etwas Lava ausfließen lassen, wie ein alter Pfeifenraucher, der am Morgen abhustet und Schleim spuckt, und doch sich nicht zum wirklich großen Ausbruch entschließen kann.
Es war nun der nächste Abend. Die Erde war wieder still. Die Erschütterungen waren vorbei, nicht aber die Ängstlichkeit. Der Meister saß mit drei Schülern auf der Terrasse und sie blickten in den Garten. Am Horizont stand der alte Berg, wieder ruhig und still, doch nun auch wieder drohend.
»Das Beben ist vorüber«, sagte ein Schüler, »und doch spüre ich noch die Angst in meinen Knochen«.
Der Meister griff nach der Teekanne und goss den Schülern neu vom Tee ein.
Der Meister reichte einen Teller mit Reiskuchen, und achtete darauf, dass jeder der Schüler sich einen Reiskuchen zum Tee nahm, und dann nahm er selbst einen.
»Meine Mutter sagt«, so berichtete der dritte Schüler, und frecherweise war sein Mund beim Reden halb voll mit Reiskuchen, »dass der Berg nun häufig ausbrechen wird. Eine Bekannte, die Pfirsiche an den Hof des Königs lieferte, hat gehört, wie die Hofbeamten das untereinander erzählen, und sie hat es meiner Mutter verraten.«
»Wer möchte einen zweiten Becher Tee?«, fragte der Meister, nachdem sie ihren Reiskuchen gegessen hatten.
Der erste Schüler fragte: »Fürchtet Ihr denn nicht das Beben des Berges?«
Der Meister goss nur für sich selbst Tee ein, nahm seinen Becher, nippte daran und blickte in den Garten und hoch zum Berg in der Ferne.
»Der Berg war hier«, sagte der Meister, »lange bevor wir hier waren. Der Berg wird hier sein, lange nachdem wir nicht mehr hier sind.«
Der Meister blickte hoch zum Berg, als ob er sich vergewisserte, dass er auch wirklich wieder still war, dann sagte er weiter: »Wenn die Erde bebt, halte ich mich von Schränken fern und ich lösche das Feuer. Wenn die Beamten es anordnen, packe ich schnell meine wichtigsten Dinge, verabschiede mich vom Haus und schließe mich all den anderen Menschen an, die Sicherheit suchen.
Das Beben, der Rauch und das heiße Gestein besuchten diese Erde, lange bevor ich es tat. Der Berg wird gewiss aus seinem Schlummer erwachen, wieder und wieder, wenn ich es schon lange nicht mehr tue.
Ich will mich schützen. So es an mir liegt, soll mich das Alter holen und nicht der Berg.
Wenn die Erde bebt, bringe ich mich in Sicherheit. Wenn die tödliche Lava fließt, gehe ich nicht dorthin, wohin sie fließt. Im Übrigen aber trinke ich Tee, und an besonderen Tagen, wie heute, esse ich Reiskuchen.«
Der dritte Schüler hatte inzwischen seinen Reiskuchen herunter geschluckt, und er fragte: »Warum ist denn heute ein besonderer Tag?«
Der Meister lächelte. »Nun«, sagte er, »die Erde hat gebebt, der Berg hat gehüstelt, und doch kam niemand von uns zu Schaden. Das ist doch ein Grund zur Freude und somit ein besonderer Tag!«
Kohlenstoffbasierte Lebewesen
Wir lesen heute wieder eine jener Schlagzeilen, bei denen wir anschließend gar nicht weiterlesen wollen (und auch nicht brauchen, denn im Text klaffen derzeit noch gewisse Lücken): »Nach Streit mit Gruppe – Mann stirbt vor den Augen seiner Frau« (welt.de, 8.12.2019)
Zwei Ehepaare waren auf dem Augsburger Weihnachtsmarkt unterwegs, als sie in »Streit« mit einer Männergruppe gerieten (was Medien heute »Streit« nennen, das ist wieder ein anderes Thema), und am Ende war ein Mann tot und die kohlenstoffbasierten Lebewesen sind aktuell flüchtig. (Würde 9/11 heute passieren, würde, wie @argonerd sarkastisch feststellt, der Staatsfunk wahrscheinlich berichten: »Streit zwischen Flugzeugen und Hochhäusern verläuft tragisch.«)
»Dieter Nuhr die Fresse polieren«
In den Sozialen Medien gehen Linke automatisch davon aus, dass die Täter von Augsburg einen migrantischen Hintergrund aufweisen, indem sie reflexhaft vor Instrumentalisierung warnen. Ich will mich nicht an solchen Spekulationen beteiligen. Ob die mutmaßlichen Täter nun »biodeutsche« (um einen linken Begriff zu verwenden) Verwaltungsfachangestellte waren, finnische Quantenphysiker oder nepalesische Wandermönche – eine neue Art der Gewalt wurde zum neuen Alltag der Gutmenschenrepublik.
Nachtrag aus den Abendstunden des 8.12.2019: Es gab heute, so liest man, mehrere Festnahmen im Fall Augsburg – siehe etwa bild.de, 8.12.2019. Entgegen der frühen Verdächtigungen durch Linke handelt es sich beim mutmaßlichen Haupttäter um einen 17-jährigen Deutschen (wenn auch die Berichte, dass dieser neben der deutschen auch die syrische und libanesische Staatsangehörigkeit besaß, gewisse linke Vorurteile bestätigen könnten). Es sei daran erinnert, dass wir keine Linken sind und dass wir eine Verhaftung noch lange nicht als Verurteilung ansehen – es gilt die Unschuldsvermutung. – Wo wir schon nachtragen und über Gewalt als neues Normal reden: In Osnabrück hat ein 27-jähriger Herr ein »Tötungsdelikt« an seiner Ex-Freundin gestanden (noz.de, 8.12.2019). In Stuttgart hat ein hochdeutsch sprechender Herr eine Frau gegen 12:30 auf offener Straße erstochen (so aktuell etwa bild.de, 8.12.2019). Nennen Sie mich sentimental, aber früher war die Vorweihnachtszeit dann doch beschaulicher – und etwas weniger blutig. Ende des Nachtrags.
Ob die fast täglich brennenden Autos in Berlin, nach aller Lebenserfahrung angezündet von Linken, ob die Gewalt gegen demokratische Parteien, von den fast schon »normalen« Angriffen der sogenannten »Antifa« auf Politiker bis hin zu Morden wie dem an Walter Lübcke und Fritz von Weizsäcker, von der alltäglichen Angst in Straßen und Plätzen bis hin zum Tod auf dem Weihnachtsmarkt – brutale und teils tödliche Gewalt ist keine Ausnahme mehr. Jugendliche lernen etwa in Musik-Videos, dass Gewalt gegen Oppositionelle, bis hin zum Mord, ein Mittel politischer Auseinandersetzung sein kann (siehe etwa focus.de, 3.12.2019). Gewalt wird zum »neuen Normal« in Deutschland. Ich will das nicht, ich tue alles in meiner Macht stehende dafür, dass es nicht so ist, doch meine Macht ist »nur« die der Worte. Es fügt sich nahtlos in das neue Klima der alltäglichen deutschen Gewalt ein, wenn ein Staatsfunk-Promi dieser Tage irgendwas mit »endlich Dieter Nuhr die Fresse polieren« schwadroniert (merkur.de, 8.12.2019). Wenn ein Irrer die Worte des ZDF-Promis in die brutale Tat umsetzen sollte, wird der Staatsfunker Böhmermann dann etwa belangt werden, und sei es auch »nur« moralisch? Wir werden sehen (und fürs Sehen bezahlen müssen, sonst wirft man uns ins Gefängnis).
Narrativ-störender Toter
Man verzeihe mir meinen Sarkasmus. Das Opfer in Augsburg war ein 49-jähriger Feuerwehrmann. Ich bin 45 Jahre alt. Wenn ich 49 Jahre alt bin, wird unsere Tochter (laut Angaben meiner Gattin Elli am Schreibtisch nebenan) gerade 16 Jahre alt sein und unser Sohn entsprechend 13 Jahre. Ich plane mein Leben eigentlich über das 49. Lebensjahr hinaus. »Das Private ist politisch« quäkten die 68-er einst, und sie meinten damit in etwa, dass jeder quersitzende Emotionsfurz eines Linken zum Staatsdrama wird – ich sage heute: »Das Politische wird privat« – sprich: Für Gutmenschen mag es Statistik und »rechts« sein, wenn ein Mensch narrativ-störend stirbt, für mich ist es sehr privat, sehr schmerzhaft.
Für Linke ist ein narrativ-störender Toter eben das, eine möglichst zu ignorierende Störung – ich aber sehe mich in dem Toten, der ein Mensch war, der Hoffnung hatte, der eine Familie hatte und Menschen, die auf ihn zählten.
Gleich, sobald dieser Text abgeschlossen und veröffentlicht ist, gehe ich mit meinem Sohn nach draußen, für etwas Bewegung, für frische Luft und Vater-Sohn-Zeit. – Elli und Tochter backen derweil Plätzchen und später kommen sie nach, und die wollen das so, und es ist uns allen von Herzen egal, wie Linke und andere Unfreundliche die spontane Rollenverteilung bewerten.
Mit wem würde mein Sohn denn Ball spielen gehen, wenn ich vom Weihnachtsmarkt nicht zurückkäme? Mit wem würde meine Tochter die Weihnachtsplätzchen backen? Selbst wenn sich ein Ersatz fände (und ich hoffe, dass er es täte), dann wäre es eben das: ein Ersatz.
Ist nicht neu, sie ist alt
»Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot«, so lesen wir in Genesis 4:8. Wut und Unbeherrschtheit sind Teil des menschlichen Wesens. Gewalt ist Teil des Wesens menschlicher Gesellschaft. Es gibt Gesellschaften, die haben Wut und Gewalt besser im Griff als andere. Zivilisatorischer Fortschritt beinhaltet immer auch die Kunst, Wut und Gewalt »in den Griff« zu bekommen.
Gewalt ist nicht neu, sie ist alt. – »Der Berg war hier«, sagt der Meister in obiger Geschichte, »lange bevor wir hier waren. Der Berg wird hier sein, lange nachdem wir nicht mehr hier sind.«
Mit angehaltenem Atem
Gewalt wird in Deutschland zum neuen Normal. Selbstverständlich ist es wichtig, richtig und anständig, sich gegen die Gewalt auszusprechen! (Anschließend mag man gern wie Brechts Keuner leugnen, eben dies getan zu haben – Überleben bleibt die erste Bürgerpflicht.)
Doch, sich gegen die Gewalt auszusprechen, wenn Staatsfunker von eben dieser schwadronieren, wenn Politiker sich mit den Schlägertrupps der »roten SA« solidarisieren, wenn hunderttausendfach Menschen ins Land eingeladen wurden, die zur Gewalt vielleicht eine andere Einstellung pflegen als Linus-Torben und Maria-Laura aus dem Waldkindergarten – unser Reden-gegen-die-Gewalt muss nicht zwingend von Erfolg gekrönt sein – was, wenn unser Reden ungehört bleibt, wenn die Gutmenschen und Gewalttäter sich in ihrer grausamen Gedankenlosigkeit gefallen?
Wenn der Berg ausbricht und die Lava dir entgegen fließt, wird wahrscheinlich die Lava gewinnen, und wenn du dich ihr mit drohendem Finger und frommen Worten entgegen stellst, nicht du. Wenn die Erde bebt, überleg dir gut, ob du schwankende Schränke und bröckelnde Mauern mit deinen bloßen Händen aufhalten willst.
Auch dieser
Meine Gedanken und mein Herz sind heute bei der Familie des 49-Jährigen. Mit angehaltenem Atem beobachte ich Deutschland. Ich suche Normalität inmitten des Unnormalen, kleinen Frieden in der großen Unordnung.
Jeder Tag kommt nur einmal, auch dieser. Es müssen nicht unbedingt Reiskuchen und Tee sein – ich selbst esse gerade ein frisches Kipferl mit Puderzucker von der Tochter und trinke dazu einen von Ellis wunderbaren Milchkaffees.
Reiskuchen ist verhandelbar, doch etwas Natur braucht es auf jeden Fall, um die Seele zu beruhigen, sei es nun ein Garten, ein Park (hoffentlich mit Parksee und Booten im Sommer), seien es weite Felder und geschwungene Berge – oder auch ein (hoffentlich nicht aktiver) Vulkan.
Ich wünsche Ihnen, trotz und bei allem, eine ruhige und sichere Adventszeit. Unsere Gedanken sind bei den Familien der Opfer der »neuen deutschen Weihnacht«.
Ja, Gewalt und Angst vor Gewalt liegen in der Luft. Nein, dies ist keine Adventszeit »wie früher« – doch das heißt nicht, dass sie nicht schön sein kann, vielleicht sogar etwas besinnlich.
»Das Beben ist vorüber«, sagte ein Schüler vorhin in der Geschichte, »und doch spüre ich noch die Angst in meinen Knochen«. – Nun, das Beben in Deutschland dauert noch an.
Der Meister griff nach der Teekanne und goss den Schülern neu vom Tee ein – ich halte das für einen guten Rat.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.