Ein guter Freund, gelernter Ossi, wiederholt in unseren Gesprächen regelmäßig, Parteien – und damit meint er Systeme – seien von innen heraus nicht zu reformieren. Der Blick auf die Selbstbeschäftigung der SPD, die fast ein Jahr lang ihre Ablenkung vom eigenen Versagen durch Vorsitzendenkandidatenvorschlagsabstimmungen organisierte, scheint ihm Recht zu geben. Wobei: Auch die CDU, in der eine Gretl von der Saar die Parteiführung von Merkels Gnaden übernehmen durfte und der Dauerloser Merz mediale Kieselchen ins ohnehin knirschende Parteigetriebe werfen darf, stellt sich kaum besser dar. Beide Gruppierungen, einstmals als „Volksparteien“ gefeiert, marodieren vor sich hin. In den Umfragewerten dümpelt es auf niedrigem Niveau. Und der ständig wiederholte Wille zur Reformation wird zur faktischen Deformation.
Der Niedergang ist symptomatisch
Angst essen Seele auf
Wie sehr die Angst vor dem Verlust der steuerfinanzierten Lebenssicherung am Selbstbewusstsein frisst, belegt beispielhaft jener Johannes Kahrs, wenn er regelmäßíg seine Frustration über den Niedergang der Finanzierungsbasis durch Hasstiraden im Bundestag zum Besten gibt. Es ist eben nicht leicht für jemandem, der sein Leben lang die Partei als Basis für den privaten Machtklüngel missbraucht hat und nun fürchten muss, sogar in den heimatlichen Gefilden von den Grünen ersetzt zu werden. Es tut weh, wenn der Kuchen des Schlaraffenlands plötzlich auch von anderen angeknabbert wird, die man nicht wie die eigene Parteibasis durch Abstrafung und Vetternwirtschaft auf die Reihe bringen kann.
Das sieht bei der ewigen Konkurrenz der Union nicht viel anders auch. Auch wenn der Flurschaden auf dem Acker der Mitesser angesichts aktueller Umfrageergebnisse dort noch nicht ganz so desaströs wie bei der SPD sein dürfte. Doch der Weg in den Niedergang ist vorgezeichnet – nicht zuletzt deshalb schlagen sie von Söder bis Ziemiak erbarmungslos um sich, wenn das Reizwort AfD fällt. Stigmatisieren, um die eigenen Pfründe zu retten. Die gut dotierten Jobs nicht verlieren zu müssen an einen „gärigen Haufen“, wie Alexander Gauland sein Sammelsurium aus frustrierten Ex-Unionlern, Neonationalisten und rechtssozialstischen Kräften einst beschrieb.
In ihrer Angst kennen sie kein Halten mehr. Täglich werden neue Empfängergruppen erdacht, die mit staatlichen Wohltaten bei der Stange gehalten werden sollen. Gepaart mit festgeschriebenen Rechtsansprüchen auf alles und jedes, damit ja keine künftige Regierung mehr auf die Idee käme, das Füllhorn wieder schließen zu wollen. Es ist nichts anderes als ein verzweifeltes Strampeln. Denn gedankt haben es die Empfänger den großzügigen Verteilern des Volksvermögens bislang nie. Täten sie es, stünde die SPD nicht bei 13, sondern bei 63 Prozent der Wählerzustimmung.
Gleichzeitig sollen vom Verbund der Sesselkleber Millionen in die Propaganda geschleust werden. Da geht es nicht nur um diese mittlerweile unerträglichen Sprechschauen, mit denen sich in den zwangssteuerfinanzierten Staatsmedien einige wenige Supporter der Mächtigen als privatwirtschaftlich daherkommende „Medienschaffende“ die Taschen füllen. Jetzt soll sogar noch staatsfinanziert ein Gewerbezweig gerettet werden, der schon längst der Vergangenheit angehört, weil die künftigen Konsumentengeneration schon heute nicht mehr weiß, was unter dem Begriff „Tageszeitung“ zu verstehen ist. Da erinnert der polit-mediale Komplex schon an irgendwelche Fantasten, die nach Guttenbergs Erfindung der Druckerpresse die Klöster hätten subventionieren wollen, um den bedrohlichen Fortschritt zu verhindern und den klösterlichen Kopisten ihre Tätigkeit zu erhalten.
Keine Chance auf Parlamentsreform
Liste schlägt Wahlkreis
Meinte es „die Politik“ tatsächlich ernst, dann müsste sie radikal sein. So radikal, dass sie sich selbst die Beine abschneidet, auf denen sie steht. Dabei wäre es ganz einfach. Verstünde man Reform tatsächlich im Wortsinne als die Rückkehr zu einem bewährten, früheren Zustand, so wäre es der sinnvollste und letztlich einzige Weg, die Listenwahl gänzlich zu streichen – oder aber alternativ die Wahlkreise abzuschaffen. Doch ein Ende der Listenwahl wird es nicht geben. Sie garantiert nicht nur den Kleinparteien, ihre Fürsten an die Finanztröge der Staatsubventionierung zu bringen – sie ist auch das Instrument, mit dem die Parteiführungen ihre Macht absichern. Denn wer am Ende auf den Listen vorn steht, darüber entscheiden die Machteliten. Also ist Wohlgefallen angesagt, will der Parteigänger aus den Niederungen aufsteigen.
So werden dann die Wahlkreise dran glauben müssen. 299 Direktmandate sieht das Personalisierte Verhältniswahlrecht derzeit vor. Ergänzt durch eine identische Anzahl von Abgeordneten, die über die jeweiligen Landeslisten aufgestellt werden. Macht auf dem Papier 598 Abgeordnete. Das Wahlsystem macht daraus aktuell jene 709, weil Überhangmandate die angeblich benachteiligten Parteien auf Sollstärke bringen sollen – gepaart dann noch mit einem Länderschlüssel, welcher zusätzliche Mandate organisiert.
Die Logik des Systems
Ursächlich für die Überblähung ist ausgerechnet jener Niedergang der Parteien, die den Niedergang des Systems selbst herbeigeführt haben. Denn, so die Logik des Systems, je mehr Direktmandate eine Partei bei umso weniger Gesamtstimmen hat, desto mehr Mandate werden für die Konkurrenz generiert. Das kann in einem Fünf- oder Sechsparteiensystem dazu führen, dass eine 20-Prozent-Partei das Parlament zum Bersten bringt, weil ihre Direktmandate endlos ausgeglichen werden müssen.
Die einzig logische Konsequenz dieser Entwicklung, die sich die Macher des Wahlsystems damals nicht vorstellen konnten, hieße, sein finales Scheitern zu konstatieren. Nicht mehr darüber nachdenken zu wollen, wie etwas „reformiert“ werden kann, was nicht zu reformieren ist. Sondern etwas anderes, vielleicht Neues zu wagen.
Back to the roots
Wie das aussehen könnte, läge auf der Hand. Zumindest dann, wenn tatsächlich noch die Idee der Bürgerrepräsentanz als Ziel von Wahlen im Raum stünde. Es wäre dieses dann tatsächlich eine Reform im eigentlichen Sinne. Zurück zu jenem Modell, dass sich kluge Menschen im 19. Jahrhundert ausgedacht hatten, um die ersten demokratisch zusammengesetzten Parlamente der jungen deutschen Demokratie zu besetzen.
Als 1871 der deutsche Bundesstaat mit dem Namen Deutsches Reich begründet wurde, stand die Idee des Bürgervertreters im absoluten Zentrum der Überlegungen. Also einigten sich die damaligen Verfassungsväter (waren es angesichts des noch nicht durchgesetzten Frauenwahlrechts tatsächlich) auf eine feste Parlamentsgröße. Diese Anzahl wurde ins Verhältnis zur Anzahl der Wahlbevölkerung gesetzt und entsprechend auf Wahlkreise zugeschnitten, die jeweils einen respräsentativen Bürgeranteil vertreten sollten. Hierbei sollte, auch so weit dachte man seinerzeit schon, darauf geachtet werden, dass unterschiedliche Interessengruppen nicht durch andere überrollt werden konnten. Bedeutete: Siedlungsschwache Regionen beispielsweise auf dem Lande sollten über den Wahlkreis den Charakter der Region wiedergeben und nicht durch willkürliche Zusammenlegung mit städtischen Gebieten aus dem politischen Geschäft verdrängt werden können.
Jeder dieser Wahlkreise schickte nun genau einen Abgeordneten in den Reichstag. Damals noch ohne staatliche Subvention, was Gerechtigkeitsfanatiker zu der nicht gänzlich abwegigen Auffassung gelangen ließ, dass mittellose Bürger kaum eine Chance hatten, am politischen Prozess mitzuwirken. Übrigens und um einem beliebten Narrativ entgegenzuwirken: Im Deutschen Reich von 1871 gab es kein Klassenwahlrecht. Jeder wahlberechtigte Bürger hatte die gleiche Chance, seinen Favoriten ins Parlament zu schicken. Weshalb es angesichts der Industrialisierung und der damit verbundenen Industriearbeitsplätze zwangsläufige Folge war, dass die Sozialdemokratie als damals noch echte Arbeitervertretung von Wahl zu Wahl stärker wurde.
Es war – schauen wir auf den aktuellen Niedergang – ein durch und durch gerechtes System. Und ein sinnvolles. Denn der Bürger wusste nach der Wahl genau, bei wem er mit seinen Interessen andocken musste. Der Abgeordnete wiederum kam nicht umhin, seine Tätigkeit an den gefühlten oder tatsächlichen Mehrheitsmeinungen der Bürger seines Wahlkreises zu orientieren. Zumindest dann, wenn er wiedergewählt werden wollte.
Schlanke Parlamente statt Monster
Vorstellbar wäre ein solches Modell auch heute. Mit vielleicht 500 Wahlkreisen statt heute 299. Oder auch mit 599, will man unbedingt an der Sollstärke der knapp unter 600 festhalten. Was allerdings nicht nötig wäre, denn erfahrungsgemäß sind schlanke Parlamente effektiver als aufgeblähte. Steuergelder würde es ohnehin in erheblichem Maße einsparen auch dann, wenn die Abgeordnetenfinanzierung beibehalten bliebe.
Wäre es auch „gerecht“? Oder würden, wie gern behauptet wird, die „kleinen“ Parteien auf der Strecke bleiben?
Technisch machbar wäre ein solches Modell problemlos. Die 14 Tage oder vier Wochen, die zwischen erstem und zweitem Wahlgang lägen, stellten kein ernsthaftes Problem dar. Die Konsolidierung des Parlaments dauerte eben ein paar Tage länger – Restlaufzeitverlängerung für die amtierende Regierung.
Tatsächlich jedoch – das muss der Wahrheit halber erwähnt werden – würde das Parlament der Idee des Verhältniswahlrechts damit nur noch partiell gerecht werden. Aber wäre das tatsächlich ein Schaden, wenn in diesem Parlament dann wieder Persönlichkeiten sitzen, die tatsächlich die Mehrheit der Bürger ihrer Wahlkreise hinter sich haben? Repräsentativer als das gegenwärtige Modell wäre es allemal. Seine Gegner werden behaupten: Auch populistischer. Und damit stante pede den Beweis erbringen, dass es ihnen nicht um Bürgerrepräsentation, sondern um Selbstbeglückung geht. Es wäre dieses ein Qualifiziertes Mehrheitswahlrecht. Doch warum nicht, wenn das Vorgängermodell wegen Versagens sich selbst ad absurdum geführt hätte.
Keine Chance auf Realisierung
Hätte nun eine solche Idee überhaupt eine auch nur minimale Chance, realisiert zu werden? Systeme sind von innen heraus nicht reformierbar. Und deshalb lautet die Antwort: Nein, keinesfalls!
Deshalb auch ist dieser Vorschlag nichts anderes als ein Traum. Ein Traum davon, wie der Parlamentarismus in unserer Republik wieder vom Wasserkopf der Parteien auf die Füße des Volkes gestellt werden könnte. Ein Traum davon, dass in den Parlamenten wieder Volks- und nicht Parteienvertreter sitzen. Ein Traum davon, dass die Parlamentarier wieder ihre ursprünglichen Aufgaben wahrnehmen, die Regierung kontrollieren und nicht ständig mit der Exekutive paktieren weil sie klammheimlich darauf schielen, selbst möglichst schnell einen lukrativen Posten im Staat ergattern zu können. Ein Traum nicht zuletzt auch davon, dass in den Parlamenten nicht weltfremde Parteiideologen um ihre Pfründe kämpfen, sondern die tatsächlichen und nicht die in irgendwelchen Diskutierstuben erdachten Bürgerinteressen im Mittelpunkt der Debatten stünden.
Doch Systeme sind nicht reformierbar
Ein Traum eben. Denn Systeme sind von innen heraus nicht reformierbar. Und deshalb werden wir weiter zuschauen müssen, wie die Parteien sich den Staat zur Beute machen und unqualifiziertes Personal über Parteibuch oder Wohlgefallen an die Schaltstellen der Macht bringen. Bis dann irgendwann das System selbst entweder kollabiert, weil jedes System, dass sich nicht weiterentwickelt, irgendwann kollabiert – oder bis dem entmündigten Bürger der Kragen final platzt und er selbst dafür sorgt, dass das marode Ancient Regime abgeräumt wird.
Bis es so weit ist, wird allerdings noch viel Entmündigung und Fremdbestimmung ins Land gehen. Denn am Ende gilt: Je dümmer ein Volk gehalten wird, desto leichter ist es zu führen. Weil es bereitwillig glaubt, was ihm von jenen erzählt wird, denen es doch nur darum geht, sich selbst mit dem Vermögen der Dummen eine schöne Zukunft zu verschaffen.
Doch sei es drum – eine kleine Revolution von Zeit zu Zeit hat schon häufiger frischen Wind in unreformierbare Systeme gebracht. Warten wir also ab, was sich in den kommenden Jahrzehnten tut.
An einer Erkenntnis führt derweil kein Weg vorbei: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Was nicht reformierbar ist, wird deformiert. Und was deformiert wird, taugt am Ende zu nichts. Deshalb: Warten wir einfach ab.