Er galt als Wunschkandidat von Alexander Gauland. In der Öffentlichkeit dürften bis zum vergangenen Wochenende nur wenige den Namen Tino Chrupalla gekannt haben. Seit dem Parteitag in Braunschweig führt der 44 jährige Malermeister aus dem sächsischen Weißwasser zusammen mit dem Europa-Abgeordneten Jörg Meuthen die größte Oppositionspartei.
Wohin will der neue Vorsitzende?
Im Bundestagswahlkampf 2017 gab es eine etwas unwirkliche Szene: auf einem Diskussionsforum saß der damalige sächsische CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer neben dem AfD-Politiker Tino Chrupalla. Sie duzten einander. Chrupalla eher forsch, Kretschmer zurückhaltend. Vielen im Publikum kam es so vor, als ob da oben auf dem Podium nicht nur zwei Bewerber um das Bundestagsmandat des Wahlkreises Görlitz saßen, sondern Zwillinge. Beide Jahrgang 1975, beide in der Region geboren, Kretschmer in Görlitz, Chrupalla in Weißwasser. Beide machten eine gewerbliche Ausbildung, der CDU-Mann als Büroinformationselektroniker, der Konkurrent von der AfD als Maler und Lackierer. Beide kannten sich von der gemeinsamen Zeit in der Jungen Union. Daher das Du.
Damals, 2017, holte der politische Neuling von der AfD den Wahlkreis ganz knapp. Kretschmer, der ohne Listenabsicherung in die Auseinandersetzung gegangen war, stand plötzlich ohne Bundestagsmandat da. Der Verlust des Wahlkreises, sagte er später, habe ihn „getroffen wie ein Hammer“.
Görlitz gehörte früher zu den Wahlsprengeln, in denen die CDU lange Zeit den sprichwörtlichen Besenstiel aufstellen konnte. Und Kretschmar war kein Besenstiel, er saß 15 Jahre im Bundestag, außerdem genoss er als Fraktionsvize und Generalsekretär überdurchschnittlich viel Prominenz. Am Ende lag der damals noch weitgehend unbekannte Malermeister aus Weißwasser mit gut 1.500 Stimmen vor ihm.
Auf dem AfD-Parteitag setzte sich Chrupalla am 30. November knapp gegen den vorher als Favoriten gehandelten Bundestagsabgeordneten Gottfried Curio durch. Anders, als es viele Kommentatoren deuteten, entschieden sich die Delegierten weniger zwischen einem eher rechten Kandidaten (Curio) und einem Bewerber aus der Parteimitte. Curio gilt zwar als exzellenter Redner, besitzt allerdings, wie seine Abgeordnetenkollegen sagen, eine eingeschränkte Sozialkompetenz. Einige formulieren es etwas gröber: er habe autistische Züge. Chrupalla verkörpert das Gegenteil: ein bodenständiger, in seiner Heimat gut vernetzter Handwerker mit gemäßigter Rhetorik. In seiner Bewerbungsrede machte er deutlich, dass er das Wählerpotential der Partei vor allem in der Mitte sieht. Die AfD wolle an der Seite der Leute stehen, „die morgens im Dunklen aufstehen, um zur Arbeit zu fahren, und abends im Dunklen wiederkommen“.
Jetzt, da die SPD mit ihrem neuen Vorsitzenden-Duo noch weiter nach links rutscht, und die CDU es sich mit der Nicht-Ernennung des Polizeigewerkschafters Rainer Wendt in Sachsen-Anhalt zum Innenstaatssekretär faktisch selbst verbietet, den bürgerlich-konservativen Flügel abzudecken, bietet sich für die AfD tatsächlich so viel Spielraum zur Mitte wie noch nie.
Hätte Chrupalla nach seiner JU-Zeit eigentlich auch in die CDU eintreten können? „Wenn die mich vor zehn Jahren gefragt hätten, vielleicht“, sagt er. Es fragte aber niemand. Um Leute wie ihn, Handwerksmeister, Firmengründer, meint er, hätte sich die Unionspartei damals kaum bemüht. Damals regierte sie auch noch mit über 40 Prozent. In die AfD trat Chrupalla 2015 ein, zunächst einmal, weil er die Haftung für Staatsschulden anderer Länder im Euroraum für einen Irrweg hielt. Dann kam die Migrationspolitik Merkels als zweiter Grund dazu. „Mit der CDU von heute“ könne er sowieso nichts mehr anfangen.
Dort, wo er herkommt, in Weißwasser, muss die AfD nicht besonders viel tun, um Ergebnisse wie seine 32,4 Prozent Erststimmen im Wahlkreis einzufahren. Die Gegend an der polnischen Grenze gehört zu den einkommensschwächsten in ganz Deutschland. Mit dem Kohleausstiegsbeschluss der Bundesregierung soll noch die letzte verbliebene Industriebranche verschwinden. Obendrein reisen noch Mitglieder von „Ende Gelände“ aus dem Westen an, etwa an dem Wochenende, an dem der Parteitag Chrupalla wählte. Die Leute in den weißen Overalls besetzten Braunkohlegruben und lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei, weil ihnen der Betriebsschluss für die Kohlewirtschaft 2038 zu spät kommt. Sie würden am liebsten alles sofort stilllegen. Bessere Wahlkampfhelfer kann sich Chrupallas Partei kaum wünschen. Zum harten wirtschaftlichen Klima und der Abwanderung kommt noch die grenzüberschreitende Kriminalität. Chrupalla erzählt, wie ihm sein Auto vom Hof gestohlen wurde. Danach habe er lange gegen die Versicherung prozessieren müssen, um den Schaden ersetzt zu bekommen. Viele in der Gegend, sagt er, könnten sich solche Verfahren gar nicht leisten. Sie würden im Zweifelsfall die teure Diebstahlsversicherung sparen.
In seinem Wahlkreis dementiert der AfD-Mann als Unternehmensgründer die immer noch gängige Deutung der Rechts-Partei als Truppe der Abgehängten. Er redet mit Stolz darüber, dass er 2003, als er die Prüfung ablegte, jüngster Meister im Kammerbezirk war, und es dann schaffte, einen Betrieb mit 15 Mitarbeitern aufzubauen. Das Unternehmen führt heute sein Schwager. Von der Berufspolitik, meint Chrupalla, wolle er sich nicht abhängig machen. Sollte es für ihn irgendwann nicht mehr weitergehen, könnte er es sich vorstellen, wieder in den alten Beruf zurückzukehren. Es sei nicht gut, meint er, dass Leute mit seiner Biografie in der Politik zu den Exoten gehören. Unter den 709 Bundestagsabgeordneten finden sich tatsächlich nur sieben Handwerksmeister. Chrupalla ist der einzige Vorsitzende einer Bundestagspartei ohne akademische Ausbildung.
Sein Einfluss als neuer Chef der AfD dürfte eher bescheiden sein. Traditionell fungiert eine Spitzenfigur in der Truppe mit ihren Provinzfürsten und Flügeln als besserer Versammlungsleiter, der aufpassen muss, dass die Fliehkräfte nicht überhand nehmen. Sein Vorgänger Alexander Gauland besaß schon deshalb ein anderes Gewicht, weil er anders als sein Co-Chef Meuthen auch die Bundestagsfraktion führte, und außerdem als einziger politisch Überlebender der sieben AfD-Gründer die Rolle eines Lordsiegelbewahrers spielen konnte, der ein Stück über den Flügeln schwebt. Die eigentliche Richtungsentscheidung dürfte also erst nach der nächsten Bundestagswahl fallen, wenn Gauland, 78, wahrscheinlich auch sein parlamentarisches Amt aufgibt. Chrupalla als Fraktions-Vize gehört zu den natürlichen Anwärtern.
Auf dem Parteitag warnte der als Chef scheidende Gauland düster: „Mich treibt die Sorge um, dass wir den Mantel der Geschichte verfehlen. Die Chance, die wir mit der AfD haben, kommt nicht zurück, wenn sie vertan ist.“ Er will die Partei grundsätzlich koalitionsfähig machen. Eine Kraft, die im Osten Ergebnisse um die 30 Prozent holt, glaubt er, muss irgendwann für ihre Wähler auch etwas durchsetzen.
Auf dem Parteitag zeigte Chrupalla, wo für ihn die Grenze verläuft: er werde dafür sorgen, sagte er, dass jemand wie Wolfgang Gedeon künftig auf Parteitagen nicht mehr reden könne. Gegen Gedeon lief wegen dessen antisemitischer Sprüche ein erfolgloses Parteiausschlussverfahren, die AfD-Fraktion in Baden-Württemberg setzte ihn vor die Tür. In Braunschweig kandidierte der Partei-Troll trotzdem für den Vorsitz – und bekam vier Prozent der Stimmen.
Er werde auch mit seiner moderaten Rhetorik dafür sorgen, meinte Chrupalla, „dass die anderen unsere Positionen nicht so leicht ablehnen können“. In ein paar Jahren werde eine Regierungsbeteiligung im Osten kommen.
Möglicherweise tritt er deshalb zur nächsten Landtagswahl in Sachsen als Herausforderer an. Wieder gegen seinen alten Bekannten Michael Kretschmer.