Die Süddeutsche Zeitung feierte den 1. Januar 2018 als historischen Tag: »An Neujahr versorgte sich Deutschland erstmals mit Ökostrom«. Welche eine Symbolik! »Niemand hatte erwartet, dass wir 100 Prozent an einem Wintertag früh morgens erreichen«, jubelte der zuständige Staatssekretär Rainer Baake. Der Grund lag bei den starken Winden und einem außergewöhnlich niedrigen Verbrauch, der das Wunder um sechs Uhr in der Früh für ein paar Minuten möglich machte.
War das wirklich eine gute Nachricht? Jedenfalls nicht für die Deutschen Elektrizitätswerke. Der Strompreis rasselte an jenem Neujahrsmorgen auf Minus 76 Euro pro Megawattstunde (MWh). Das heißt: Statt Geld für ihren Strom zu erhalten, zahlten die deutschen Stromproduzenten an jenem Morgen dafür, dass ihnen jemand den Strom abnahm, und das nicht zu knapp. 76 Euro pro MWh ist rund das Doppelte von dem, was Elektrizität in Deutschland im Schnitt kostet.
Negative Strompreise sind ein relativ junges Phänomen in Deutschland, das in den letzten Jahren aber rasant zugenommen hat. Bei längeren Windphasen zahlten die Elektrizitätswerke schon bis zu 250 Euro pro MWh, damit irgendjemand den überschüssigen Saft abnimmt. Das Problem liegt zum einen bei einem Gesetz, das sie zwingt, den je nach Witterung anfallenden Flatterstrom von Wind und Sonne aufzukaufen, egal ob sie ihn brauchen oder nicht. Öko hat Priorität. Konventionelle thermische Kraftwerke kann man aber nicht beliebig rauf- und runterfahren, aus verschiedenen Gründen. Die Turbinen altern schneller, eine reduzierte Verbrennung unter der optimalen Temperatur führt zu einer massiv höheren Luftbelastung und zu einem höheren Treibstoffverbrauch. Abstellen kann man die Anlagen aber auch nicht, weil sie als Backup für die unzuverlässigen und instabilen Solar- und Windgeneratoren unverzichtbar sind. Die Alternative wäre der Blackout. Negativpreise sind oft die günstigste Variante zur Steuerung der Produktion.
Nur die deutschen Konsumenten profitieren leider nicht von der sporadischen Stromschwemme. Irgendjemand muss den Leerlauf ja finanzieren. Deutsche und dänische Haushalte zahlen den mit Abstand höchsten Preis für ihren Strom (30,5 Cents /KWh) in ganz Europa. In Großbritannien, Frankreich und Norwegen kostet die Elektrizität etwa die Hälfte.
Willkommen in der deutschen Energiewende.
Noch nie war der Strom in Deutschland im Großhandel so billig zu haben wie heute – und noch nie zahlte der Konsument dafür so viel wie heute. Allerdings nur die kleinen Leute. Großverbraucher sind von den explodierenden Netz- und Ökoabgaben ausgenommen, weil die Energiewender nur zu gut wissen, dass die Wirtschaft sonst ins Ausland abwandern würde. Für einen mittleren Betrieb, etwa eine Bäckerei, kann es sich deshalb rechnen, die Brotöfen eingeschaltet zu lassen, wenn sie gar nicht gebraucht werden; denn ein höherer Konsum führt unter Umständen zu einer tieferen Stromrechnung.
Die organisierte Vernichtung von Ressourcen erinnert an die Planwirtschaft in der Sowjetunion. Dort gab es Fünfjahrespläne. Auf dem Papier gingen diese Pläne jeweils wunderbar auf, in der real existierenden Welt aber sind sie bekanntlich allesamt grandios gescheitert. Die deutschen Planer zogen die Lehren, auf ihre Weise: Die Energiewende, welche sie im Jahr 2000 mit dem Erneuerbaren-Energie-Gesetz einleiteten, ist ein Fünfzig-Jahres-Plan. Der wesentliche Unterschied zum klassischen Fünfjahres-Plan besteht darin, dass man die Verantwortlichen dermaleinst kaum noch zur Rechenschaft ziehen kann, falls das Unternehmen scheitern sollte.
Alles begann mit einer eher symbolischen »Ökoabgabe« von 0,08 Cent auf jede verbrauchte Kilowattstunde und eine privilegierte Netzeinspeisung für Alternativstrom. Kaum spürbar war allerdings auch die Wirkung. Fünf Jahre später kündigte Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) deshalb eine markante Erhöhung der Dosis an. Jährlich sollten nun 10 Milliarden Euro in die Energiewende gebuttert werden. Doch Trittin beruhigte: »Es bleibt dabei, dass die Förderung der erneuerbaren Energien einen durchschnittlichen Haushalt nur rund 1 Euro im Monat kostet – so viel wie eine Kugel Eis«. Diese lächerlich kleine Investition in die Zukunft werde sich hundertfach auszahlen: Neue Jobs und High-Tech-Innovationen würden die Wirtschaft beflügeln, angetrieben von harmlosen Windrädern und Solarpanels. Gratis und franko würden sie Energie ohne strahlende Abfälle liefern. Am deutschen Wesen sollte die Welt genesen – aber diesmal anders als damals, friedlich und zum Wohle aller. Ein Unmensch, wer sich da quer stellte.
Und das Traurigste: All den Steuergeldern und Zwangsabgaben zum Trotz hat sich in Deutschland der Ausstoß von CO2 nicht wesentlich verändert. Was mit Solar- und Windanlagen eingespart wurde, wird durch Kohle-, Gas- oder Ölkraftwerke, ohne die das Netz zusammenbrechen würde, wieder in die Atmosphäre gepustet. Weil die thermischen Kraftwerke zur Sicherung der Netzstabilität unabdingbar sind, werden mittlerweile auch sie mit Quersubventionierungen künstlich am Leben erhalten.
Die Folgen der deutschen Energiewende bekommen auch die Nachbarländer von Deutschland zu spüren. Die schweizerischen Wasserkraftwerke etwa – zuvor während hundert Jahren hoch rentable Cash-Cows – stehen vor dem Ruin. Dabei produziert niemand umweltfreundlicheren Strom als sie. Doch seit die Deutschen das Netz mit ihrem hoch subventionierten Strom zu Dumpingpreisen fluten, spielt der Markt verrückt. Die Pumpspeicherwerke in den Alpen werden zwar dringender gebraucht denn je, aber nicht mehr regelmäßig. Das Tagesgeschäft ist bei guter Witterung weggefallen. Das schlägt auf den Gewinn. Rentabel sind eigentlich nur noch Kohlekraftwerke. Die weltweit sinkende Nachfrage nach Kohle hat die Preise für den Rohstoff in den Keller rasseln lassen.
Willkommen im real existierenden Markt.
Nach offiziellen Berechnungen wurden im deutschen Business mit Ökostrom 350000 Stellen neu geschaffen. Doch ist das wirklich ein Erfolg? Die deutsche Braunkohle-Industrie erzeugte mit 20000 Arbeitern bloß ein Drittel weniger Strom. Man könnte es auch so sehen: Der Braunkohle-Sektor ist zehnmal effizienter als die Öko-Branche. Wenn es das Ziel wäre, möglichst viele Menschen mit der Stromgewinnung zu beschäftigen, könnte man getrost das mittelalterliche Tretrad wieder einführen. Es ist in dieser Hinsicht unschlagbar, würde Millionen neuer Jobs schaffen. Am meisten Strom pro Mitarbeiter produzieren auf der anderen Seite Kernkraftwerke. Anders als im Ökobusiness sind es zumeist hoch qualifiziert Spezialisten. Doch beim Atomausstieg spricht seltsamerweise kein Mensch vom Verlust von Arbeitsplätzen und Verlust von Knowhow.
Und China ist nicht allein. Andere aufstrebende Länder wie Indien (20 Atomreaktoren geplant, 6 im Bau), Südkorea (6 Reaktoren geplant, 4 im Bau) oder Vietnam setzen auf Kernenergie. Aber auch in Europa arbeiten einige Länder – allen voran England, Polen, Tschechien und die Slowakei – daran, die Kohle durch Atom zu ersetzen. Während Deutschland bis 2022 sein letztes AKW stilllegen will, werkelt Russland diskret an der Erstellung von 27 neuen Meilern. Anders als für Deutschland könnte das Pariser Klimaabkommen all diesen Ländern Vorteile bringen. In Bezug auf die CO2-Emissionen ist die Kernenergie fast unschlagbar.
Je offensichtlicher das Fiasko der Energiewende, desto fanatischer die Durchhalteparolen. Deutschland ist offenbar wieder bereit, bis zum bitteren Ende zu gehen. Dabei geht es um einiges. Die Energieversorgung ist gleichsam der Kreislauf jeder modernen Zivilisation. Die Energiewende wäre demnach, um beim Bild zu bleiben, so etwas wie der Versuch, das Herz und die Arterien an einem lebenden Körper neu aufzubauen und zu ordnen. Falls die Operation scheitert, sieht es ziemlich düster aus. Ohne Strom läuft nichts, aber auch gar nichts mehr in einer hoch industriellen Zivilisation. Die sichere und freie Verfügbarkeit von Elektrizität ist entscheidend für jeden Betrieb. Der erschwingliche Zugang zur Energie eine unabdingbare Voraussetzung für jede Entwicklung.
Alles nur Panikmache? Gemäß Rechnungen des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen würde ein eintägiger landesweiter Blackout der Eidgenossenschaft einen volkswirtschaftlichen Schaden von zwei bis vier Milliarden Franken verursachen. Eine Studie des eidgenössischen Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (Babs) stufte 2015 einen saisonalen Strommangel als wahrscheinlichstes Katastrophenszenario für die Schweiz ein. Eine Unterversorgung von 30 Prozent während der Winterzeit – etwa in der Folge eines extremen Kälteeinbruchs – würde einen Schaden von über 100 Milliarden Franken verursachen. Das entspricht in etwa den geschätzten Folgekosten der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Bloß: Ein nuklearer GAU ist gemäß den Babs-Experten in der Schweiz 16000-mal weniger wahrscheinlich als ein saisonaler Strommangel.
Der Traum vom ewigen Energielieferanten ist wohl so alt wie die menschliche Zivilisation. Vor 500 Jahren werkelte Leonardo da Vinci schon an einem Perpetuum Mobile, das uns kostenlos und ewig all die Mühe und Last abnehmen würde. Der Universalerfinder der Renaissance gelangte zum Schluss, dass es nicht möglich war. Doch der Traum vom Perpetuum Mobile hielt sich standhaft und erlebte während den 1970er und 1980er Jahre eine Renaissance, als deutsche Ostermärschler zuerst gegen die atomare Nachrüstung und später gegen die Kernenergie aufs Feld zogen. Im Nebel des Cannabis-Dampfes, der über den Demo-Camps lag, entwickelten sie damals die süße Vision von Windrädern und Solarpanels. Sie sollten die unheimlichen Atom-Monster überflüssig machen.
Tatsächlich waren Windräder und Solarenergie schon damals nichts Neues. Der Wind wird vom Menschen seit Urzeiten genutzt. Mit Windenergie reiste Kolumbus über den Atlantik, mahlten Müller im Mittelalter das Korn. Albert Einstein erhielt 1922 den Nobelpreis, nicht weil er die Grundlagen zur Kernspaltung geschaffen hatte, sondern zur Photovoltaik. Die Amerikaner schickten 1958 ihren ersten Satelliten ins All, der von einer Solarzelle gespeist wurde. Seit den 1970er Jahren wird das Funknetz im australischen Outback mit batteriegestützten Solarpanels betrieben.
Seit bald 50 Jahren macht im Halbjahrestackt die Meldung die Runde, Solar- und Windanlagen stünden vor dem Marktdurchbruch und würde demnächst billigeren Strom produzieren als alle anderen Energieträger. Tatsache ist: Es gibt kein Solar- oder Windprojekt auf der Welt, das ohne Subventionen, Einspeisevorrang und bei Berücksichtigung der Netzkosten rentieren würde. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich das je ändert. Das Problem liegt nicht an der Technologie, sondern an den unerbittlichen Gesetzten der Natur. Zum einen werden die Rohstoffe durch die Massenproduktion nicht billiger. Zum andern steigen mit dem Anteil des Flatterstroms von Wind und Sonne die Netz- und Speicherkosten.
Die Apologeten der Energiewende weisen gerne auf die atemberaubenden Entwicklungen hin, welche die Computertechnologie in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Wer hätte es vor fünfzig Jahren schon für möglich gehalten, dass man auf einem Microchip, der kleiner ist als eine Briefmarke, heute eine ganze Bibliothek unterbringen kann. Seit 1971 hat sich die Rechenleistung der Datenträger etwa alle 18 Monate verdoppelt. Doch bei den Batterien ist dies nicht der Fall. Die Energiedichte hat sich in den letzten zehn Jahren aller Anstrengungen zum Trotz nicht einmal verdoppelt. Einer weiteren Steigerung stehen physikalische Gesetze im Weg, ein revolutionäres Konzept ist nicht in Sicht. Noch schlechter sieht es aus bei den Solarzellen. Der Wirkungsgrad ist weitgehend ausgereizt.
Tatsächlich hatte es der Markt bei der Stromversorgung schon immer schwer. Wer das Licht, einen Computer oder den Kochherd anknipst, der achtet nicht auf den gerade aktuellen Strompreis. Ein Kühlschrank schaltet sich ein und aus, um die Temperatur stabil zu halten. Züge fahren, wenn es der Fahrplan will, Rolltreppen, wenn man sie braucht. Die Maschinen und Roboter in den Fabriken produzieren im Idealfall rund um die Uhr, denn jede Sekunde, in der die Investition nicht genutzt wird, ist ein Verlust. Gerade hier liegt der vielleicht größte Vorteil des Stroms: Er ist jederzeit und grundsätzlich in beliebiger Menge vorhanden. Das Angebot richtet sich deshalb nach der Nachfrage.
Dieses Prinzip kehrt Smart Grid in sein Gegenteil um: Der Kunde soll seinen Bedarf nach dem Angebot richten, soll den Strom brauchen, wenn er anfällt. Und wenn gerade keine Sonne scheint oder kein Wind bläst, bleibt der Tesla halt in der Garage und gibt Energie ins Netz ab, statt seine Batterien voll zu tanken. Für die einen mag das eine romantische Vorstellung sein. Mehrheitsfähig ist sie wohl kaum (…).
Alex Baur war als Reporter und Korrespondent für zahlreiche namhafte deutsche und schweizer Publikationen tätig, die ihn um die halbe Welt führten. Seit 2005 Redakteur der WELTWOCHE. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Zürcher Journalistenpreis.
Leicht gekürzter Auszug aus: Alex Baur, Der Fluch des Guten. Wenn der fromme Wunsch regiert – eine Schadensbilanz. münsterverlag, 344 Seiten, 22,00 €.
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