Dass der Buß- und Bettag abgeschafft worden ist, mag man bedauern, doch dafür einen Politischen Buß- und Bettag zu initiieren, ist nun höchst überflüssig, denn in der Protestantischen Kirche wird jeder Sonntag zum Politischen Buß- und Bettag, zumindest wenn Funktionäre der EKD die Kanzel erklimmen. So hat vor kurzem vollkommen zu recht Reinhard Mawick, der Chefredakteur des Kulturmagazins der evangelischen Kirche „zeitzeichen“, das u. a. auch von Heinrich Bedford-Strohm mitherausgegeben wird, festgestellt, dass es zur Praxis Leitender Geistlicher in der EKD gehört, „sich regelmäßig politisch“ zu äußern „und dies in der Regel eindeutig im links-liberalen Spektrum.“ Damit wurde aus berufenem Munde bestätigt, dass die Funktionäre der EKD die evangelische Kirche inzwischen als Vorfeldorganisation der Grünen betrachten und den Weinberg des Herrn mit dem Windkraftpark vertauscht, aus dem sie Gott vertrieben haben, um in Ruhe dem Kult der Mutter Erde nachzugehen.
Zum Politischen Buß- und Bettag in diesem Jahr hielt nun Wolfgang Schäuble im Berliner Dom die Kanzelrede. Putzig ist, dass ausgerechnet der Mann, der mit der biologischen Erkenntnis allseits Staunen hervorrief, dass Europa Abschottung „kaputt machen würde“, und „uns in Inzucht degenerieren ließe“, nun die Angst überfiel, dass in der Debatte über die Migrations- und Asylpolitik „fiebrige Wut grassiere“. Wie kann ein Kontinent oder ein 80 Millionen Volk wie die Deutschen, selbst wenn es sich abschotten würde, in „Inzucht degenerieren“?
Wer hat denn die Migrationsdebatte unter dem falschen Label der „Flüchtlings“-politik angeheizt, wer hat denn diese „fiebrige Wut“ erzeugt? Wer hat denn alle Kritiker an Merkels Einwanderungspolitik in die rechte Schmuddelecke gestellt? Wer hat denn – und unternimmt es immer noch – aus einer politischen Debatte ein moralisches Hochamt gemacht?
Es ist erbaulich zu sehen, dass Politiker in der von Schäuble eingeforderten „Gemeinwohlorientierung“ vorangehen. Gültigeren Ausdruck fand bisher die „Gemeinwohlorientierung“ nicht als in der Frage der Politikerin Heide Simonis, als sie nicht mehr zur Ministerpräsidentin gewählt worden war: „Was wird aus mir?“
Übrigens leben Demokratien nicht von der „Gemeinwohlorientierung“, sondern vom Interessenausgleich. Nur Diktaturen definieren ein „Gemeinwohl“, dem sich alle unterzuordnen haben. Eine gelenkte Gemeinwohldemokratie, obwohl sie von bestimmten politischen Kräften angestrebt wird, kann sich kein Bürger wünschen, wenn er denn Bürger bleiben und nicht Fürsorgeobjekt von Politikern werden möchte.
Wolfgang Schäuble hätte statt zu Spr 14,34 („Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben“), wohl besser zu Lk 6,41 gepredigt („Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr“).