Das EU-Türkei-Abkommen, das mancherorts als geniale Verhandlungslösung gefeiert wird, kommt dem gesunden Menschenverstand irgendwie komisch vor. Wieso sollte beim einem 1:1-Umtausch von zwei Formen der Migration (ein legaler Migrant gegen einen illegalen Migranten) am Ende weniger Migration herauskommen?
Steigt die Zahl der Migranten, die in der Türkei ankommen und nach Griechenland weiterziehen, wird die Zahl derer, die Europa verpflichtend aufnehmen muss, im gleichen Verhältnis steigen. Die illegalen Migranten werden zurückgeschickt und dafür kommt aus der Türkei dann ein Kontingent in gleicher Zahl erneut über die Grenze. Diese muss die EU aufnehmen. Die Türkei ist durch das Abkommen sicher, dass ein wachsender Zustrom von Migranten für sie keine zusätzliche Belastung mit sich bringt, denn sie kann ihn (in anderer personeller Zusammensetzung) an die EU weiterreichen. Sie wird also kein Interesse entwickeln, die Durchgangszahlen insgesamt zu verringern. Das Abkommen führt nicht zu einer Reduzierung des Grenzverkehrs, sondern nur zur einer zusätzlichen Schleife im Grenzverkehr – mit einem zusätzlichen Kontrollaufwand in ganz Griechenland und damit mit neuen Toren für illegale Praktiken.
Insofern ist es ein täuschendes und ein verheerendes Abkommen. Das liegt nicht etwa daran, dass in der Türkei oder in Griechenland nur üble Schurken regieren, sondern daran, dass das Abkommen einen falschen Anreiz setzt und nicht das Interesse an sicheren Grenzen fördert. Es setzt nicht an dem Hebel „Grenze“ an, sondern nur an der Form des Migrierens: Es will nur eine Form des Migrierens (die „wilde“) durch eine andere Form (die „geordnete“) ersetzen. Und dies „Ordnen“ steht vorläufig auch nur auf dem Papier.
Und nun wird ein neues Vertragsmodell in die Welt gesetzt, das schon jetzt „ein Moment der Unumkehrbarkeit“ (Angela Merkel) in sich tragen soll. Vielleicht werden wir die Migranten-Umtausch-Schleife morgen schon an anderen Grenzabschnitten im Süden Europas sehen. Auf jeden Fall ist der neue Migrationsrechte-Handel mit einer trügerischen Vision verbunden: Er soll die Schutzfunktion der Grenzlinie dadurch überflüssig machen, dass die Migranten die Sinnlosigkeit eines illegalen Grenzübertritts einsehen. Es ist also wichtig, die Anreize und Wirkungen eines solchen Grenzersatzes näher zu betrachten – besonders angesichts der im Sommerhalbjahr zu erwartenden neuen Migrationswelle.
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Wie die Tauschidee entstand – Bereits am 14.2.2016 berichtete Michael Martens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von einem Vorschlag aus dem Institut „Europäische Stabilitätsinitiative“ (ESI), der für eine Kombination aus Rückführung von illegalen Migranten in die Türkei und Direktabnahme von Migranten aus türkischen Lagern plädierte. „Diese Idee findet inzwischen vom Kanzleramt bis zur niederländischen EU-Ratspräsidentschaft immer mehr Unterstützer“, schreibt Martens und berichtet, der EU-Ratspräsident Donald Tusk habe den Chef des ESI, Gerald Knaus, vor kurzem nach Brüssel eingeladen, um über eine solche Lösung zu sprechen. Es ist also nicht so, dass das EU-Türkei-Abkommen auf einen „Vorschlag der Türken“ zurückgeht. In dem zitierten FAZ-Bericht ist allerdings von einer 1:1-Umtauschrate zwischen illegalen und legalen Migranten noch nicht die Rede. Eine solche feste Rate ist abwegig, denn sie wird zwischen zwei ganz unkompatiblen Größen eingerichtet: Warum sollte der Bedarf bei der humanitären Aufnahme der Zahl der illegalen Grenzübertritte entsprechen? Er kann sowohl größer als auch kleiner sein. Mehr noch: Willigt Europa in eine solche Rate ein, wird es zum Spielball der Entwicklung der illegalen Grenzübertritte. Er macht sich von einer fremden Größe abhängig.
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Die gefährliche Kopplung zweier Durchgangsländer – Wo setzt das EU-Türkei-Abkommen an? An der Türkisch-Griechischen Grenze (in der Ägäis). Logisch? Nicht unbedingt. Denn die Türkei ist nicht das Ursprungsland der Migrationswelle, sondern nur Durchgangsland. Das Abkommen müsste eigentlich einen Anreiz schaffen, diesen Status als Durchgangsland zu verringern – also schon beim Einströmen in die Türkei und beim Weiterziehen an die Ägäisküste ansetzen. Das tut es nicht, sondern nimmt das Durchmigrieren als vollendete Tatsache hin. Mehr noch: Sind die Migranten in der Türkei angekommen, fördert es das Durchmigrieren. Denn nur dann, wenn illegale Migranten in Griechenland ankommen, kann der Deal stattfinden. Erst dann kann die Rücknahme eingeleitet werden, und die Türkei kann über den 1:1-Umtausch ihre „Lagerbestände“ an Migranten verringern. Am Ende dieser Migranten-Umtausch-Schleife hat sie dann weniger Migranten. Sie wird also, im Rahmen dieses Abkommens, kein Interesse an scharfen Kontrollen an der Ägäis entwickeln. Sie wird dazu neigen, sich auf Scheinkontrollen zu beschränken, damit das Tauschgeschäft weitergeht und der „Umsatz“ hoch bleibt.
Und Griechenland? Es hat auch kein Interesse an besonders scharfen Abwehrmaßnahmen. Wenn es nämlich weiß, dass die umgetauschten Migranten im gesamten EU-Raum verteilt werden, bleibt bei ihr ebensowenig hängen wie vorher bei der Durchwinke-Praxis. Das einzige Element, das wirklich auf Griechenland gewirkt hat, war die Schließung der mazedonischen Grenze durch ein Bündnis europäischer Staaten. Nur diese Schließung hat dafür gesorgt, dass Griechenland endlich mit der systematischen Registrierung und dem Aufbau von geschlossenen Lagern begonnen hat. Doch eben diese Grenzschließung ist gar nicht Teil des EU-Türkei-Abkommens! Die Schließung der Grenzen auf dem Balkon wird weder begrüßt noch unterstützt. Man übergeht sie mit eisigem Schweigen. Damit zieht das Abkommen indirekt das wichtigste Element der gegenwärtigen Stabilisierung in Zweifel.
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Die Abschreckungsthese – Die Befürworter des EU-Türkei-Abkommens argumentieren subjektiv-psychologisch. Der Tausch illegaler gegen legale Migranten würde auf die Illegalen eine abschreckende Wirkung haben. Der illegale Grenzübertritt würde sich ja nicht mehr „lohnen“. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte würde also zurückgehen und sich damit auch das Tauschgeschäft von selbst erledigen. Es würde gewissermaßen „sanft einschlafen“. Das darf man bezweifeln. Man muss die illegalen Migranten ja ergreifen und festhalten, um sie dann rückführen zu können. Das erfordert eine Härte und Motivation auf Seiten der Grenzländer, die man bisher dort nicht fand. Das Tauschgeschäft wird die Motivation nicht unbedingt erhöhen, denn es bietet ja keine längere Perspektive. Wenn die Abschreckung wirkt, gibt es kein Tauschgeschäft mehr. Die Übernahme legaler Kontingente wäre beendet. In praktischer Hinsicht macht das Abkommen die Kontrollaufgabe auf europäischer Seite eher schwieriger. Die griechische „Schleife“, die die Migranten vor ihrer Rückführung machen müssen, öffnet Tür und Tor für ein Untertauchen von Migranten, für neue Schleuseraktivitäten und Korruption. Dabei sollte man bedenken, dass bei vielen Migranten eine Risikobereitschaft „auf Leben und Tod“ zu finden ist. Hinzu kommt, dass die Kontrolle des griechischen Staates über das eigene Territorium sowieso sehr brüchig ist. Wenn schon die deutsche Regierung nach ihrer Grenzöffnung keine verlässliche Kontrolle der Massenmigration zustande gebracht hat, wie sollte es da die griechische Regierung können?
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Linie und Fläche – Die Grenzverächter dieser Welt haben eine merkwürdige Logik. Sie beschweren sich lauthals über die Anstrengungen, Verzögerungen und Kosten, die eine funktionierende Grenze beinhaltet. Aber sie sagen nie, welche Anstrengungen, Verzögerungen und Kosten ohne Grenzen anfallen. Dann nämlich müssen alle Vorgänge im jeweiligen Inland kontrolliert und bearbeitet werden. Genauer: Sie müssen in der Fläche bearbeitet werden. Das ist natürlich viel aufwendiger: Ein Kilometer Linie ist leichter zu kontrollieren als ein Quadratkilometer Fläche. Die grenzfeindliche Politikdoktrin der deutschen Regierung (und der EU-Kommission) hat zu einer europaweiten Chaos-Fläche geführt, in der man mit verschiedenen Identitäten fast völlig nach Belieben zirkulieren kann.
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Das Gegenmodell zum Migrantentausch: die Grenzsicherung auf der Westroute – Die sogenannte „Westroute“ (Westafrika, Mauretanien, Marokko, Spanien) war einmal die Route mit den meisten illegalen Übertritten nach Europa. Allein im Jahr 2006 kamen fast 32000 Afrikaner über die Meerenge von Gibraltar bzw. über die Kanarischen Inseln. Das ist schon fast vergessen, denn die Zahlen sind drastisch gesunken. Ein Bericht von Jochen Stahnke (in der FAZ vom 9.10.2015 nennt für die erste Jahreshälfte 2015 die Zahl von 342 Migranten, die Spanien durch illegale Bootsüberfahrten erreichten. Die Zahl von 5000-6000 Migranten, die Spanien insgesamt aufgenommen hat, ist für einen südeuropäischen Grenzstaat erstaunlich gering. Was ist hier geschehen? Spanien hat die Zusammenarbeit mit Marokko, aber auch mit Mauretanien, Senegal und Cap Verde systematisch ausgebaut. Es handelt sich um eine Mischung von Entwicklungspolitik und Sicherheitspolitik, mit einem deutlichem Akzent auf der Sicherheit, wobei man auch vor der Lieferung militärischer Ausrüstung an ein autoritäres Regime (Ould Abdel Aziz in Mauretanien) nicht zurückschreckte. Die Kooperation machte den Außeneinsatz der spanischen Guardia Civil auf fremdem Hoheitsgebiet möglich und die sofortige Rückführung illegaler Migranten. Das ist eine ganz praktische Widerlegung der These, gegen den Ansturm von Süden wäre keine Grenze (und besonders keine Seegrenze) zu halten. Es ist auch keineswegs so, dass das mit einer totalen „Abschottung“ bezahlt worden wäre: Der Waren- und Pendlerverkehr über die spanisch-marokkanische Grenze ist durchaus lebhaft und hat in den letzten 10 Jahren noch zugenommen.
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Zukunftsinvestition „Grenzen“ – Die Massenmigration unserer Zeit ist kein Sachverhalt, der mit Tauschgeschäften geregelt werden kann. Die Migration muss wieder auf ein verträgliches Maß zurückgeführt werden und deshalb läuft jede wirkliche Lösung am Ende doch auf ein Zurückweisen hinaus. Dies Zurückweisen aber führt zum Instrument „Grenze“. Oder genauer: zu einem gestaffeltes System von Grenzen, das möglichst nahe bei den Entstehungsregionen der heutige Migrationswelle ansetzt. Schaut man auf das erfolgreiche Grenzsystem an der Westroute, so ergibt sich nicht das Bild einer großen, gesamteuropäischen Reichsgrenze, sondern ein weiter ausgreifendes und zugleich engeres Bild: Weiter, weil das Grenzsystem außereuropäische Länder einbeziehen muss und an ihr Interesse als eigenständige Staaten appellieren muss. Enger, weil es auf die besondere Situation einzelner Korridore zugeschnitten sein muss – also aus mehreren Einzelsystemen bestehen muss. Die Vorstellung eines neuen „großen Limes“ gehört zu einem Eurozentrismus, der nicht in die moderne Welt passt.
Auf dem Süd-Ost-Korridor wird die Situation solange ein Provisorium bleiben, wie nicht die Lage an der türkisch-syrischen Grenze stabilisiert ist und der Staat Syrien und die amtierende Regierung als legitimer Vertragspartner anerkannt ist. Dort sollte das Hauptgewicht aller Anstrengungen liegen. Aber die Situation wird auch solange ein Provisorium bleiben, wie es in der Mitte Europas noch eine deutsche Regierung gibt, die mit pauschalen Aufnahmezusagen das Migrationsfieber anheizt. Das EU-Türkei-Abkommen ändert an diesen kritischen Eckdaten der Lage nichts.
Die Erfahrungen an der mazedonischen Grenze und die Erfahrungen mit der Regelung auf der Westroute sind ermutigend. Sie sind auch zukunftsweisend. Wenn man davon ausgeht, dass Europa wahrscheinlich noch ein ganzes Jahrhundert unter Migrationsdruck stehen wird, lohnt es sich, in Grenzen zu investieren. Das gilt materiell und rechtlich. Was werden wir noch bei den materiellen Grenzanlagen an Differenzierungen der Tore und Zwischenlager sehen? Und wann kommen wir endlich zu einer zeitgemäßen Neuordnung des internationalen Rechts, die sowohl den individuellen Menschenrechten als auch dem Völkerrecht der Staaten gerecht wird?