Tichys Einblick
V-Mann-Affäre um Thomas de Maizière

Fall Anis Amri: Von höchster Stelle »kaputt geschrieben«?

Der Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz im Dezember 2016 hat alte Erkenntnisse über Anis Amri zu Tage gefördert. Ein ranghoher Beamter des LKA Nordrhein-Westfalen berichtet von frühzeitigen Ermittlungen und deren Unterbindung durch das BKA und den damaligen Innenminister.

Odd Andersen/AFP/Getty Images

Der Erste Kriminalhauptkommissar M. vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen ist ein unscheinbarer Mann, der seelenruhig aus seinen Akten zitiert. Doch was der Ermittler nun zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz vom Dezember 2016 aussagte, hat das Zeug für politischen Sprengstoff. Seit Jahren ermittelt der LKA-Beamte M. zum islamistischen Terrorismus. In diesem Zusammenhang wurde er auch auf Anis Amri, den Attentäter vom Breitscheidplatz, aufmerksam – und das schon ein gutes Jahr vor dem blutigen Anschlag vom 19. Dezember 2016, bei dem zwölf Menschen starben und viele verletzt wurden.

Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags sagte der Ermittler nun aus, dass eine seiner wichtigsten Quellen zu Amri – der V-Mann »Murat«, der im Untersuchungsausschuss VP-01 (Vertrauensperson 1) genannt wird – durch eine Anweisung von »ganz oben«, das soll wohl bedeuten vom damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière, im Frühjahr 2016 aus dem Verkehr gezogen wurde. Mitglieder des Untersuchungsausschusses zeigten sich erstaunt und entsetzt ob dieser Enthüllung. Die Hinterbliebenen kritisieren die Hinhaltetaktik der Bundesregierung und zeigen sich fassungslos angesichts der Tatsache, dass deren Vertreter »sich mit uns an einen Tisch setzen und uns anlügen – und hinterher kommen immer wieder solche Tatsachen heraus. Das macht uns wütend.«

Der Beamte des Bundeskriminalamtes allerdings, der laut Aussage von Kriminalhauptkommissar M. diesem die Anweisung gab »Murat« abzuziehen, versicherte seinerseits, dass er weder dem Wortlaut noch dem Sinn nach so etwas gesagt habe. Er könne ausschließen, dass de Maizière eine entsprechende Weisungen erteilt hätte. Das heißt: Einer von beiden lügt. Sollte es der BKA-Beamte sein, dürfte aus dem Fall Amri bald auch ein Fall de Maizière werden.

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Doch von Anfang an: Im Januar 2017, in den unmittelbaren Nachwehen des Attentats, versicherte die Bundesregierung, dass es keine V-Leute im direkten Umfeld Anis Amris gegeben habe. Im folgenden wurde allerdings klar, dass mehr als ein V-Mann sich in eben jenen islamistischen Kreisen bewegt hatte, in denen auch Amri vor seiner Tat verkehrte. So war ein Informant in der bald und eilfertig geschlossenen Moschee Fussilet 33 in Berlin-Moabit tätig, in der Amri zuletzt häufig gewesen war. Der Name der Moschee bezieht sich auf einen Koranvers, in dem es heißt: »Und wer spricht bessere Worte als der, der zu Gott ruft, Gutes tut und sagt: ›Ich bin einer der Gottergebenen‹?« Dass sich dort salafistische Islamisten trafen, war schon 2015 bekannt (vgl. den Verfassungsschutzbericht 2015, S. 49).
Der V-Mann machte »zu viel Arbeit«

Besonders nah war schon zuvor der V-Mann »Murat« – im Untersuchungsausschuss VP-01 (Vertrauensperson 1) genannt – Anis Amri gekommen. Der Spitzel, der laut einem anderen LKA-Mitarbeiter Erkenntnisse erster Güte lieferte (»was er gebracht hat, war tippitoppi«), hatte sich Zugang zu dem »Deutschsprachigen Islamkreis« verschafft, den der gebürtige Iraker Ahmad Abdulaziz Abdullah A. alias »Abu Walaa« 2012 in Hildesheim gegründet hatte. Abu Walaa, der 2001 nach Deutschland gekommen war und sich nach gestelltem Asylantrag zunächst als Jeans-Verkäufer und Cola-Vertreter betätigt hatte, trat später als Prediger in der eigenen wie in anderen Moscheen auf, gerierte sich als Kopf des IS in Deutschland, soll Jugendliche islamistisch geschult und ihre Ausreise in den Irak und nach Syrien organisiert haben. Seit September 2017 steht der Iraker wegen dieser mutmaßlichen Taten in Celle vor Gericht.

Von Anis Amri hatte der V-Mann des LKA erstmals im November 2015, kurz vor den Terroranschlägen in Paris, berichtet. Amri habe eigene Anschläge angekündigt und behauptet, sich aus Frankreich Schusswaffen und Sprengstoff dazu beschaffen zu können. Im Rahmen einer Schulung bei Abu Walaa soll es auch zu einem Gespräch unter vier Augen zwischen Walaa und Amri gekommen sein. Den Beamten des LKA Nordrhein-Westfalen galt Amri folglich als »Gefährder«. Eine umfangreiche Beobachtung setzte ein, vor allem mittels V-Mann »Murat« alias VP-01. Doch nun kommt das eigentlich Merkwürdige an diesem deutsch-islamischen Agententhriller: Bald schaltete sich ein Beamter des Bundeskriminalamts ein, bezweifelte den Wert der Quelle und verkündete, der V-Mann mache »zu viel Arbeit« – angeblich eine Order von »ganz oben«, hinter der die Leitungsebene des Bundeskriminalamts und letztlich das Innenministerium, damals von Thomas de Maizière (CDU) geführt, stünden.

Kriminalhauptkommissar M. zeigte sich damals »konsterniert und geschockt«, suchte das Gespräch mit zwei Staatsanwälten und versuchte, den Fall Amri wieder unter seine Fittiche zu bekommen – was aber vom BKA mit dem Hinweis auf Amris Eigenschaft als »hochmobiler Gefährder« abgelehnt worden sei. Man reibt sich die Augen … einerseits war die Quelle »Murat« angeblich nicht belastbar genug für eine Überwachung, andererseits wollte man mit bundesweit agierenden Gefährdern wie Anis Amri lieber keines der Landeskriminalämter belasten. Beide Äußerungen werden vom Bundesinnenministerium inzwischen heftig dementiert. Als M. von dem Anschlag hörte, war sein erster Gedanke wie der all seiner Kollegen: »Lass es nicht Amri sein.«

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Wurde Anis Amri also »von heimlichen Mächten im Hintergrund beschützt«? Diese Frage stellen sich Oppositionsvertreter im Untersuchungsausschuss des Bundestags angeblich schon seit längerem. Nach dem Eindruck des Düsseldorfer LKA-Beamten sollte der V-Mann von höchster Stelle »kaputt geschrieben« werden. Die Angehörigen der Opfer fordern die baldige Vernehmung von Ex-Innenminister Thomas de Maizière, um die Vorwürfe zu klären, zumal die Legislaturperiode (und damit auch der Auftrag des Untersuchungsausschusses) jederzeit enden kann.
Ein rätselhafte Affäre mit vielen offenen Fragen

Schon im Oktober 2018 war mehreren Medien aufgestoßen, dass de Maizière noch vor seinem Abgang als Bundesminister die Beamtin Dr. Eva Maria H. als Beauftragte der Bundesregierung in den Untersuchungsausschuss entsandt hatte. Eva Maria H. hatte bis in den Sommer 2016 als Referatsleiterin in der Islamismus-Abteilung des Verfassungsschutzes gearbeitet, käme in Sachen Anis Amri also durchaus als Zeugin in Frage. Als neutrale »Beauftragte« des Ministeriums hatte sie dagegen volle Akteneinsicht, wäre also als Zeugin wohlgerüstet. Kurz darauf wurde die Ministerialbeamte aus dem Ausschuss abgezogen. Trotzdem entstand der Eindruck, dass man im Innenministerium – vorsichtig ausgedrückt – besorgt um das Bild war, das der Verfassungsschutz und das eigene Haus im Fall Amri abgibt.

Merkwürdig erschien im Rückblick auch die eilige Abschiebung des Marokkaners Bilel Ben Ammar, eines mutmaßlichen Komplizen Amris, im Februar 2017 nach Tunesien, obwohl zu dieser Zeit noch Ermittlungen gegen ihn wegen Mordes liefen. »Diese Nacht-und-Nebel-Aktion lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Ben Ammar sollte als Zeuge weder den Ermittlern noch dem Parlament zur Verfügung stehen«, sagte der Berliner FDP-Politiker Marcel Luthe damals dem »Focus«. Eine rätselhafte Affäre und viele Fragen, die eine Antwort verdienen. Thomas de Maizière, der zuletzt ein Buch unter dem Titel »Regieren« veröffentlichte, schuldet wohl noch ein paar »Innenansichten der Politik«.

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