Während das internationale System durch die Rivalität zwischen den USA und China auf seine größte Bewährungsprobe seit Jahrzehnten gestellt wird, vielleicht die größte Bewährungsprobe aller Zeiten, und das Finanz und Wirtschaftssystem vor dem Absturz steht, droht den Gesellschaften der Industrienationen selbst die Zerreißprobe. Der Grund ist nicht, dass auf einmal wie aus dem Nichts das Schreckgespenst des Populismus auftaucht – der sogenannte Populismus ist Folge des Versagens unseres Wirtschaftssystems, nicht dessen Ursache. Der Grund ist, dass viele Menschen merken, dass sie keine gute Zukunft haben werden, wenn es so weitergeht wie bisher. Viele steigen aus der Mittelschicht ab; die Aussicht auf ein würdevolles Leben, in dem man mit einem Arbeitsverhältnis eine Familie angemessen ernähren kann, schwindet. Gleichzeitig etabliert sich die Herrschaft von etwas, das der bereits erwähnte Verfassungsrichter Louis Brandeis schon vor dem Ersten Weltkrieg als »Finanzoligarchie« bezeichnete.
Vor Kurzem erregte Ray Dalio Aufsehen mit seinem Appell, dass der Kapitalismus dringend reformiert werden müsse, weil er sich sonst selbst zerstören würde. »Seit mehr als 50 Jahren habe ich den Kapitalismus sich in einer Art und Weise entwickeln sehen, die für die Mehrheit der Amerikaner nicht funktioniert, weil sie selbstverstärkende Spiralen für die Vermögenden und die Besitzlosen hervorbringt.« Das klingt schon fast nach Karl Marx, und es würde nicht verwundern, wenn Dalio dem linken Flügel der Demokratischen Partei um Bernie Sanders angehören würde. Aber Dalio ist Erzkapitalist. Er managt mit Bridgewater einen der größten Hedgefonds der Welt, ist seit mehr als 45 Jahren im Geschäft und belegt mit einem Vermögen von knapp 19 Milliarden Dollar Platz 58 auf der Liste der reichsten Menschen der Welt.
Der Gründer von Bridgewater Associates ist nach eigener Auskunft in einer Mittelklassefamilie aufgewachsen und konnte in einem Land, in dem die öffentliche Sicherheit gewährleistet war, auf ordentliche Schulen gehen. Seine Familie genoss einen angemessenen Krankenversicherungsschutz. Nach dem Studium stand ihm ein freier und fairer Arbeitsmarkt offen. Alle diese Fundamente einer freiheitlichbürgerlichen Gesellschaft sind laut Dalio nun gefährdet: »Ich glaube, dass der Kapitalismus für die Mehrheit der Amerikaner nicht funktioniert. Alle guten Dinge, die ins Extrem getrieben werden, können selbstzerstörerisch werden und müssen sich weiterentwickeln oder absterben. Das ist nun der Fall beim Kapitalismus.« Die amerikanische Zeitschrift Fortune, sicherlich kein sozialistisches Kampfblatt, pflichtet bei: »Das Resultat: eine Wirtschaftsordnung, in der die Klasse der Kapitalbesitzer große Vorteile hat und die Kosten der Zulassung zu und des Ausschlusses von dieser Klasse immer höher werden.«
Eine der Fahrkarten in ein besseres Leben ist in den USA das Studium auf dem College. Die Kosten dieser vier Jahre betrugen 2018 an öffentlichen Hochschulen durchschnittlich 101.000 Dollar, wenn der Student aus demselben Bundesstaat stammt, 164.000 Dollar, wenn er oder sie aus einem anderen Bundesstaat kommt, und 204.000 Dollar an privaten Colleges. Ja, besonders gute Schüler erhalten Stipendien, für die Mehrzahl der Amerikaner wird es bei einem Medianeinkommen von 59.000 Dollar pro Familie knapp. Selbst, wenn eine Familie mit diesem Einkommen jedes Jahr 10.000 Dollar beiseitelegen könnte, was ziemlich unrealistisch ist, würde die billigste Variante pro Kind die Sparleistung von zehn Jahren in Anspruch nehmen. So starten jedes Jahr viele der knapp zwei Millionen frischgebackenen CollegeAbsolventen mit einem erdrückenden Schuldenberg ins Berufsleben. Mittlerweile beträgt das Volumen der CollegeKredite 1,5 Billionen Dollar und ist damit die zweithöchste Schuldenposition amerikanischer Haushalte nach den Hypotheken.
Und die Abschlüsse sind wahrscheinlich angesichts des starken Anstiegs der Absolventenzahlen nicht so viel wert, wie die Studenten dachten. Einer von vier Studenten meldet mittlerweile Privatinsolvenz auf seine CollegeSchulden an. Ein Elternhaus, das einen schuldenfreien Start ins Berufsleben ermöglichen kann, ist da Gold wert.
Unter den heutigen Superkapitalisten steht Dalio nicht allein. Bereits vor einigen Jahren äußerte sich Warren Buffett, erfolgreichster Investor der Welt und auf der Liste der reichsten Menschen dieser Erde immer ganz vorn dabei, zum Thema: »Ja, es gibt einen Klassenkampf und es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die den Krieg führt. Und wir gewinnen.« Wer Buffett kennt, weiß, dass er meinte: »Leider!« Zusammen mit seinem Freund Bill Gates, dem MicrosoftGründer, ist Buffett Initiator des Projekts »Giving Pledge«, das die Superreichen dazu bewegen will, mindestens 50 Prozent ihres Vermögens bei ihrem Ableben zu vererben. Buffett selbst hat zwischen den Jahren 2000 und 2017 mehr als 46 Milliarden Dollar – über 70 Prozent seines Vermögens – für gemeinnützige Zwecke gespendet, spendet fleißig weiter, und ist immer noch viertreichster Mensch der Welt. Vor ein paar Jahren erregte er Aufsehen mit einer Wette: derjenige seiner superreichen Freunde, der ihm nachweisen könne, dass er einen höheren Steuersatz als seine Sekretärin habe, würde eine Million Dollar von ihm bekommen. Es meldete sich keiner.
Jeremy Grantham verwaltet mit der von ihm gegründeten Investmentfirma GMO 150 Milliarden Dollar. Er bestätigt: »Wir sind mit einer Form des Kapitalismus konfrontiert, der seinen Fokus auf kurzfristige Gewinnmaximierung gelegt hat, mit wenig oder keinem Interesse an öffentlichen Gütern und sozialer Wohlfahrt.« Und Seth Klarman, Chef der Baupost Group mit 30 Milliarden Dollar verwaltetem Vermögen sagte in einer viel beachteten Rede an der Harvard Business School: »Es kann nicht ›business as usual‹ sein, wenn ständig Proteste stattfinden, die Regierung dichtmacht und die gesellschaftlichen Spannungen eskalieren. Es ist wahrscheinlich, dass die Ursachen der nächsten Krise in den hohen Schulden der Staaten liegen.«
Im Sommer 2018 fragte die Bertelsmann Stiftung europaweit 10.885 Bürger, wie sie die Vergangenheit einschätzten. Zwei Drittel der Europäer antworteten in der repräsentativen Befragung, die Welt sei früher ein besserer Ort gewesen. Besonders hoch war die Zustimmung zu dieser These in Italien mit 77 Prozent. Dahinter rangieren Frankreich (65 Prozent), Spanien (64 Prozent), Deutschland (61 Prozent) und Polen (59 Prozent). Der Fall des Eisernen Vorhangs beeinflusste das Ergebnis also nur marginal.
Nun könnte man dieses Ergebnis als Ausdruck der Nostalgie der Ewiggestrigen ansehen. Aber der absolute und relative Abstieg der Mittelschicht in den westlichen Industrienationen ist Fakt. Zum einen wird sie kleiner, zum anderen ärmer.
Die OECD, nicht gerade ein sozialistischer Club, stellte fest, dass viele Mitglieder der Mittelschicht zu den Verlierern der Globalisierung gehören. Selbst im »sozialen« Europa ist es immer schwerer, oft sogar unmöglich, eine Familie mit einem normalen Job zu ernähren, zumal in attraktiven Ballungsgebieten. In den 1980erJahren war das in Deutschland und vielen anderen Ländern noch selbstverständlich. »Prekäre Arbeitsverhältnisse« gab es damals kaum. Wenn Menschen mit einer normalen, sinnstiftenden Arbeit nicht mehr die Sicherheit haben, eine Familie ernähren zu können sowie eine ordentliche Kranken und Altersversorgung zu haben, sind sie Dauerstress ausgesetzt, werden abgehängt und verlieren unter Umständen das Interesse an unserem Gemeinwesen – mit üblen Folgen. Die Mittelschicht, das »Bürgertum«, ist das Fundament unserer Demokratie. Wenn dieses Fundament bröckelt, bröckelt auch die Demokratie.
»Ab einer gewissen Schwelle ist der Aufstieg von Nationalismus und Populismus nicht mehr als spontane Aktion, sondern als vorhersehbare Reaktion auf die Exzesse und blinden Flecken der globalistischen Eliten zu verstehen«, schreibt der amerikanische Finanzanalyst James Rickards in seinem neuen Buch Nach dem Kollaps. »Wenn diese Eliten chinesisches Wachstum auf Kosten westlicher Arbeitsplätze fördern, wieso haben sie nicht damit gerechnet, dass die Arbeiterschicht dieses Programm ablehnt? Wenn die Eliten eine multikulturelle Agenda – die selbst ein soziales Konstrukt ist – verfolgen, wieso haben sie nicht damit gerechnet, dass Menschen mit starken kulturellen, religiösen und regionalen Bindungen diese Agenda ablehnen?«
Auszug aus:
Max Otte, Weltsystemcrash. Krisen, Unruhen und die Geburt einer neuen Weltordnung. FinanzBuch Verlag, 640 Seiten, 24,99 €.
Empfohlen von Tichys Einblick. Erhältlich im Tichys Einblick Shop >>>