Lange war es still um Claas Einzelfall Relotius, seit er einen Mississippidampfer an der Außenalster bestieg und damit ins untergehende Paris fuhr. Der Medienbetrieb hat seitdem bewiesen, dass er den Reporter ohne Grenzen für seinen Normalbetrieb nicht braucht. Jetzt allerdings grüßte ein Phantom in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, um sich dort ein bisschen um die Storyline des Artikels zu Claas E. Relotius zu kümmern. In dem überarbeiteten Text verglich ein Autorenkollektiv den berühmtesten Ex-Mitarbeiter des SPIEGEL nicht nur mit Karl May und Egon Erwin Kisch. Es widerlegte auch noch die ehrenrührige Behauptung, Relotius habe gegenüber seinen Kollegen in Hamburg eine krebskranke Schwester erfunden, die er pflegen müsse, und lud zum Beweis einen Artikel aus der WELT hoch, in dem es hieß, Relotius’ ehemaliger Ressortleiter gehe gerichtlich gegen diese Darstellung in dem Buch des SPIEGEL-Journalisten Juan Morenos über Relotius „Tausend Zeilen Lüge“ vor. Dann stellte sich durch eine Recherche des Schweizer „Tagesanzeiger“
heraus, dass es sich bei dem Wikipedia-Autorenkollektiv „Snapperl“, „PreRap“ „Rubbelsnuff“, „Klußmann“ und „Laugwitz“ um ein und dieselbe Person unter verschiedenen Noms de plumes handelte – so genannte Sock puppets, Sockenpuppen – und bei dem präsentierten WELT-Artikel um eine Komplettfälschung. Die IP-Adresse eines der Wikipedia-Überarbeiter führte ins norddeutsche Seevetal, einen kleinen Ort ganz in der Nähe von Relotius’ Heimat Tötensen. Bei der Person handelt es sich also sehr wahrscheinlich um einen Norddeutschen m/w/d mit viel Tagesfreizeit und einem obsessiven Bezug zum Thema. Der Anonymus meldete sich mittlerweile mit der Botschaft: „Nein, ich bin nicht Claas Relotius.“ Eigentlich fehlte noch die Mitteilung: „Und schizophren sind wir auch nicht.“
Wer auch immer hinter der Person mit den vielen Namen steckt: da ist etwas Unabgegoltenes. Wir werden von ihr noch hören. Auf der anderen Seite bestärkt der Fall leider alle im Mediengeschäft, die Relotius unter individueller Psychopathologie abbuchen.
Bei Wikipedia finden sich übrigens Eingriffe mit ganz anderer, nämlich langfristiger Wirkung, über die die „Weltwoche“ kürzlich berichtete: Demnach stammt die überwiegende Mehrzahl aller deutschsprachigen Einträge in der Web-Enzyklopädie zum Thema Klima von einem einzigen Vollzeitaktivisten. Formal ist das allerdings in Ordnung, die Person ist schließlich kein Karl May, sondern nur der Hans Joachim Schellnhuber von Wikipedia.
In der vergangenen Woche ging auch die Debatte über Meinungsfreiheit in Deutschland weiter voran, jene Debatte also, die nach Ansicht vieler Wohlmeinender überhaupt nicht geführt werden muss, weil jeder alles sagen kann und ein Meinungskorridor nicht existiert. Diejenigen, die das meinen, stehen nur korridorförmig nah beieinander, beispielsweise Claus Kleber vom ZDF, der von der „Süddeutschen Zeitung“ zum Thema befragt wurde.
Kleber stellte zum einen fest: „Man darf nicht behaupten, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt sei, nur weil man keinen Widerspruch erträgt.“ Leider ohne mitzuteilen, wer das behauptet, von Claus Klebers Sockenpuppe einmal abgesehen. Außerdem gab der Ankermann des ZDF noch folgendes zur Lage der Meinungsfreiheit in Deutschland zu bedenken:
„Ich habe Freunde in der türkischen Presse, für die ein einzelner Satz in einer Glosse Haft bedeuten kann, Die fahren jeden Tag mit einer gepackten Notfalltasche zur Arbeit, weil sie damit rechnen müssen, dass sie die Nacht hinter Gittern verbringen. Mit diesen Menschen sollte man sich vergleichen bevor man sagt, meine Meinungsfreiheit wird eingeschränkt.“
Danke für den Hinweis. Die Idee, eine Lage mit einer deutlich schlechteren zu vergleichen, ist ausbaufähig. Die türkischen Journalisten, die von Verhaftung bedroht sind, könnten sich sagen, dass sie viel besser dran sind als die Kollegen, die schon im Knast sitzen. Und für diejenigen, die dort sitzen, wäre es eine große Erleichterung, sich wiederum mit Insassen nordkoreanischer Straflager zu vergleichen. Vergleich macht eben nicht nur reich, sondern auch frei. Schön ist es auch, in einem Statement, das die unbeschränkte Meinungsfreiheit unterstreicht, einen Satz mit „man darf nicht behaupten“ anzufangen.
Bis eben noch galt es in Mitteleuropa – jedenfalls für den Autor diese Textes – als übliche Praxis, den Zustand der Demokratie an den eigenen Ansprüchen zu messen und nicht an den Idealen autokratischer Gefängniswärter. Denn letztere Vergleichssorte führt, wie übrigens auch die meisten Kleber-Interviews, zu ziemlich überraschungsfreien Ergebnissen.
Da eben das Stichwort Überraschung fiel: Zum 9. November schenkten die neuen Eigentümer der „Berliner Zeitung“– das bis dahin nicht in der Medienbranche beheimatete Berliner Ehepaar Silke und Holger Friedrich – ihren Lesern ein Manifest, von dem man sagen kann, dass es tatsächlich etwas ungewöhnliches in der Zeitungslandschaft darstellt. Und zwar schon wegen seines Umfangs von gut 26 000 Zeichen. Silke & Holger Friedrich, um einmal die Höhepunkte abzuarbeiten, loben zum einen den letzten Staats- und Parteichef der DDR Egon Krenz dafür, dass er weder die Leipziger Demonstranten am 9. Oktober noch die Berliner vor der Mauer am 9. November 1989 zusammenschießen ließ:
„Wohl wissend, dass er damit seine hohe soziale Stellung aufs Spiel setzte, auch einen möglichen Verlust des eigenen Lebens in der Entscheidung zu berücksichtigen hatte. Egon Krenz hat mit dieser persönlichen Entscheidung Millionen Menschen selbstbestimmte, positive Lebenswege ermöglicht, die uns unter anderem diesen Text in dieser Zeitung veröffentlichen lassen.“
Nun danket alle Krenz, den Schenker selbstbestimmter Lebenswege. Übrigens, die Grenzsoldaten am 9.11.1989 wussten noch gar nichts von Schabowskis Pressekonferenz kurz vorher, als die Massen vor ihrer Schranke standen, sie bekamen auch keinen Nichtschießbefehl von Krenz, sondern ihr Kommandeur handelte aus eigenem Entschluss, das nur am Rande.
Silke und Holger Friedrich finden des Krenzdankes nicht nur kaum ein Ende, sondern halten es auch für maximal undufte, dass er sich wegen der Mauer- und Grenztoten verantworten musste: „Dafür sind wir ihm dankbar und möchten fragen, ob es in gleichem Maße groß war, ihn neben anderen zu viereinhalb Jahren Haft zu verurteilen.“ Nun sind viereinhalb Jahre für Totschlag in einer hohen Zahl von Fällen eine außerordentlich milde Strafe, außerdem durfte sie Krenz überwiegend als Freigänger abdienen. Vom allgemein unbedankten Freiheitskrenz geht es im Manifest flott zur EU-Außengrenze:
„Es ist gesamtgesellschaftlich akzeptiert, die DDR auch wegen ihres Grenzregimes einen Unrechtsstaat zu nennen. Ist Europa mit all den Toten an seinen Außengrenzen, dem stetigen Aufrüsten zur Überwachung des Mittelmeers demnach ein noch größerer Unrechtsstaat, werden uns später unsere Kinder fragen. Können wir diese Frage mit gleicher moralischer Kraft beantworten? Es gibt noch viele Mauern, die es zu stürzen gilt.“
Der Unterschied zwischen: keinen eigenen Bürger rauslassen und nicht alle Migranten reinlassen scheint den neuen Zeitungseigentümern ebenso unerheblich wie der Zusammenhang von Schlepperintensität und Zahl der Toten im Mittelmeer.
Dann geht es – ist der mild bestrahlte DDR-Verweser eigentlich der heimliche Sockenpuppenspieler dahinter? – schon wieder um Krenz und jetzt auch um Merkel:
„Und so wie wir Herrn Krenz dankbar sein müssen, sollten wir Frau Merkel dankbar sein dafür, dass wir im ‚Sommer des Willkommens’ von 2015 beweisen konnten, auch anders zu können.“
Denn:
„Wir tragen Scham in uns, für die Taten unserer (Ur-)Großeltern, und wir können stolz auf unsere Kraft sein, zu dieser Scham zu stehen und unsere Schuld abzutragen. Nur wenige Nationen sind in der Lage, kollektiv zu erkennen, dass sie anderen Nationen oder Ethnien Unrecht angetan haben, noch weniger sind bereit, ihrer Opfer zu gedenken, und um wie viele Nationen wissen wir, die es soweit brachten, ihren Opfern Mahnmale zu bauen?“
Kraft durch Scham – diese Losung ist immerhin nicht ganz unoriginell. Nur wenige bauen derart schöne Mahnmale für ein paar Millionen Ermordete. Das macht uns keiner nach, ebensowenig die Öffnung für den massenhaften Zuzug einiger zehntausend habitueller Antisemiten ein paar Jahrzehnte später. Weil die einheimischen Fachkräfte knapp werden?
Ganz am Ende heißt es dann noch:
„Lassen Sie uns dankbar dafür sein, dass wir diesen Text straffrei schreiben und Sie diesen Text straffrei lesen dürfen.“
Dürfen wir nicht. Es gibt (siehe ganz oben) ganz bestimmt Schlimmeres, aber wenn es keine Strafe sein sollte, den Silke & Holger-Text Text durchzulesen, damit Sie es nicht zu tun brauchen, dann sollte zumindest der Strafarbeitsbegriff neu definiert werden.
Manche Qualitätsmedien verschenken Abos, manche, eine nicht mehr so große Süddeutsche Zeitung zum Beispiel, machte bis Halloween das Sondersonderangebot von einer Ausgabe für einen Euro. Andere wie der Dumont-Verlag verramschen gleich ihre gesamten Blätter, unter anderem eben die „Berliner Zeitung“ an ein Pärchen, mit dem die finale Plemplemisierung des alten Medienbetriebs einen großen Sprung nach vorn macht.
Wobei: vieles von dem, was die beiden meinen, meinen auch andere, die neuen Zeitungseigner formulieren es nur etwas ungeschickter. Den Unterschied zwischen Mauern, die keinen rauslassen, und Sperranlagen, die zum Schutz dienen, war auch den Veranstaltern der großen ZDF-Schau zum Mauerfall entbehrlich. Dort strahlten die Veranstalter unter anderem auch den Schriftzug: „Schluss mit der Besatzung“ auf Hebräisch an eine symbolische Weltkugel; es ging in der Vorführung ganz allgemein um das Niederreißen von Mauern. Der Bau des schönsten Holocaustmahnmals der Welt und die Belehrung lebender Juden gerade zum 9. November zeigen noch einmal eindrücklich, dass die in Deutschland beliebtesten Juden Herr und Frau Stolperstein heißen.
Der Autor dieser Zeilen hätte schon Ideen, wie er das Elend vieler Zeitungen mildern könnte. Aber sollte mir eine angeboten werden – Dumont hat ja noch nicht alle los – dann gehe noch weiter als Arsène Wenger beim FC Bayern, ich rufe noch nicht mal zurück.