Hannovers Torwart litt an einer schweren Depression. Zum 10. Jahrestag seines Freitodes riefen DFB und Enke-Stiftung zur Aktion „#gedENKEminute“ auf. Doch der Selbstmord des früheren Nationaltorhüters hat ein bundesweites Gedenken, ja ein regelrechtes Zelebrieren nicht verdient. Denn der wahren Opfer wurde weder auf den Fußballplätzen noch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen nicht eine Sekunde gedacht.
Es sind die Lokführer, Sanitäter, Feuerwehrleute, Polizisten und Staatsanwälte, die sich um die Suizid-Leichen nach jeder Tat kümmern müssen. Viele leiden nach Anblick und Bergung der zerfetzten Körper von Selbstmördern jahrelang unter schlimmen Traumata. Insofern haben die öffentlichen Gedenkprozessionen um Robert Enke viel Mitleid mit einem an Depression erkrankten Selbstmörder gezeigt, aber überhaupt gar kein Mitgefühl mit dem Lokführer des RE 4427 auf der Fahrt von Bremen nach Hannover.
Enke nahm sich eigentlich nicht selbst das Leben
Denn am Dienstagabend des 10. November 2009 in Neustadt am Rübenberge, Ortsteil Eilvese, fährt der Nationalkeeper mit seinem Mercedes-Geländewagen zur Bahnstrecke. Er stellt seinen Mercedes-Geländewagen etwa zehn Meter davon entfernt ab, geht noch mehrere hundert Meter auf den Gleisen. Enke wartet auf den Zug in der Nähe seines Wohnortes Empede, um sich vor die Lok zu werfen. Eigentlich nahm er sich mit dieser Tat nicht selbst das Leben. Er zwang jemand anderen, es zu tun – den Lokführer des RE 4427 um 18:25 Uhr. Schließlich ist es schon dunkel. Erst im Scheinwerferlicht erkennt der Lokführer eine Person auf dem Gleis und spürt sofort, einen Menschen erfasst zu haben. Doch die Notbremsung bei Tempo 160 kommt zu spät. Bahnmitarbeiter finden Enke wenige Minuten nach dem Unglück tot am Gleis.
Tausende Fahrgäste sind von einem Selbstmörder betroffen
Bei jedem Selbstmordfall auf der Schiene sind zuerst Lokführer und Zugbegleiter die am schwersten Betroffenen. Sie müssen nach der Notbremsung die Ursache aufklären und melden. Lokführer hören und spüren zudem oft den Aufprall. Viele muss die Bahn nach zwei oder drei Selbstmördern aus dem Fahrdienst nehmen. Andere bleiben über Jahre in psychiatrischer Behandlung. Nach dem Suizid auf dem Gleis rücken Sanitäter, Feuerwehrleute und vor allem Polizei, Bundespolizei und Staatsanwaltschaft zur Betrachtung und Bergung an, um einen Mordfall auszuschließen. Es sind oft dutzende Personen bei einem Bahn-Selbstmörder im Einsatz und viele behalten danach schreckliche Bilder im Kopf.
Hinzu kommen die vielen Passagiere in den Zügen, die alles mitbekommen. Es sind hunderte von einem Selbstmörder betroffen. Insgesamt sogar tausende, weil Streckensperrungen und Zugumleitungen sich lawinenartig im Netz mit Verspätungen und Zugausfällen ausbreiten.
Kollektives Medienversagen im Selbstmordfall Enke
Das alles ist weder dem Deutschen Fußballbund noch den Medien am vergangenen Wochenende auch nur ein Wort des Mitgefühls wert. DFB, ARD, ZDF, Sky oder Sport 1 vermitteln im Verbund mit anderen Medien hingegen zehn Jahre nach Enkes Selbstmord auf den Bahn-Gleisen ein ganz anderes breites Mitgefühl in episch langen Beiträgen. Der wohlsituierte Kicker als Opfer einer Berufskrankheit: Depression im hochbezahlten Profisport. Ausschließlich darum geht es vor allem DFB, ARD und ZDF. Sie verkaufen dem Publikum eine regelrecht mitleiderregende Schicksalsstory von Sportlern unter enormem Leistungsdruck im Profifußball. Wohlgemerkt einer Spezies mit einer Arbeit, bei der viele Spieler heutzutage schon in jungen Jahren Millionen verdienen oder zumindest schnell über ein sehr hohes Einkommen im Vergleich zu einem Lokführer mit 3.000 Euro im Monat verfügen können. Wenn es um wahre Opfer geht, herrscht dagegen wieder einmal kollektives journalistisches Versagen bis hin zu den gut dotierten Moderatoren, die ohnehin selten auf eigene Ideen kommen.
Über 1.000 Selbstmörder pro Jahr auf Bahnnetz
Dabei müssten Journalisten wissen, dass Selbstmorde auf Bahnschienen leider zum Alltagsbetrieb für Lokführer gehören. Weit über 1.000 Fälle pro Jahr gibt es allein im deutschen Bahnnetz. Täglich stürzen sich fast drei Selbstmörder aufs Gleis. Hinzu kommen viele weitere im städtischen Nahverkehr bei Straßenbahn, U-Bahn und Bussen. Auch bei jedem U-Bahnfahrer fährt täglich in den Großstädten die Angst mit. Bahnkunden kennen die Durchsagen von Ausfallgründen wegen „Personenschaden“, „Arzteinsatz“ oder „Polizeieinsatz“ am Gleis.
Betroffene Lokführer leiden danach jahrelang oft unter schweren psychischen Schäden. „Unverantwortlich“, findet Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn ein solches Verhalten wie das von Enke, „weil das Leben eines Lokführers stark geschädigt wurde“. Psychologen befürchteten vor zehn Jahren sogar noch eine Serie von Nachahmungstätern durch den „Werther“-Effekt, der immer wieder auftritt, wenn prominente Personen sich umbringen.
Allein bei der Deutschen Bahn müssen jährlich 30 traumatisierte Lokführer ihren Job wechseln – meist in den Innendienst. Sie leiden unter posttraumatischen Störungen, bekommen Herzklopfen und Angst. Manche müssen sogar vorzeitig in Rente gehen. Darüber haben sich Medien und Sportprominenz bei ihrer „gedeENKEminute“ keine Gedanken gemacht.
Hier bekommen Sie umgehend Hilfe:
Wenn Sie selbst depressiv sind, Selbstmord-Gedanken haben, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Hier finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner.
Unter der kostenlosen Hotline 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.