Eine neue, unsichtbare Mauer durchzieht unser Land. Die Frontlinie verläuft nicht mehr (nur) zwischen Ost und West – sondern in den Köpfen. Sie geht durch Familien, entfremdet Verwandte, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen. An der neuen Mauer wird nicht mehr mit Waffen geschossen, sondern mit Ausgrenzung, Hass, Diffamierung und Ideologie. Sehr scharf. Die neue Mauer kostet – zumindest noch – keine Menschenleben. Aber das macht sie nicht weniger gefährlich. An der alten Mauer waren die Fronten klar, die Rollen von Gut und Böse eindeutig verteilt – zumindest für diejenigen, die einen klaren Blick darauf hatten. Die neue Mauer dagegen geht mitten durch die Herzen.
Wer steht auf den beiden Seiten der Front? Auf der einen Seite diejenigen, die von ihren Gegnern als „Gutmenschen“ oder „linksgrün versifft“ beschimpft werden, auf der anderen diejenigen, die sich als „Nazis“, „Hater“ oder „Hetzer“ verunglimpfen lassen müssen. Um sie näher zu betrachten, seien sie hier neutral „Befürworter des Status quo“ und „Kritiker des Status quo“ genannt. Das große Heer der Opportunisten, die einfach ihre Nase nach dem Wind bzw. dem Zeitgeist drehen, sei dabei ausgeklammert – sie sind zwar in der Überzahl, aber nur Statisten.
Die aktiven Befürworter des Status Quo sind mehrheitlich entweder gut situiert oder haben eine klare politisch links bis grün verortete Haltung, oft beides. Ihre bekanntesten und lautesten Vertreter haben Schlüsselpositionen in Politik, Medien und Institutionen eingenommen; sie bestimmen den Zeitgeist und den Meinungskorridor (um den sie erbittert kämpfen, nicht ohne ihn gleichzeitig zu negieren). Viele von ihnen sind gut situiert und materiell abgesichert, ob durch lukrative Posten, Aufträge und/oder Altersvorsorge; für andere wiederum ist der Glauben bzw. die (linke) Ideologie ihre Triebfeder.
Diese Befürworter des „Status Quo“ sehen Deutschland als bunte, offene und tolerante Gesellschaft – bzw. wünschen sich das. Die meisten von ihnen dürften angetan sein von dem, was Yascha Mounk 2018 in den Tagesthemen wie folgt zusammenfasste: „Wir wagen ein historisch einmaliges Experiment, eine monoethnische, monokulturelle in eine multiethnische Gesellschaft zu verwandeln. Das kann klappen, wird auch klappen, aber dabei kommt es natürlich zu vielen Verwerfungen.“ (anzusehen: hier). In dem Experiment wachsen die Interessen von Linken und Wirtschaft auf erstaunliche Weise zusammen. Dass dabei die Linken ihre traditionelle Klientel, den „kleinen Mann“, verraten, haken sie vermutlich unter Kollateralschaden bei der Neugestaltung der Gesellschaft ab.
Bemerkenswert dabei ist, dass gerade die lautstärksten Protagonisten des „Status quo“ in Politik und Medien tatsächlich für sich in ihrem Leben einen Zustand erreicht haben, der objektiv wenig Anlass zu Kritik an den Zuständen gibt. Größtenteils privilegiert durch Job und Lebensumstände, hochdotiert, bis zum Lebensende abgesichert, mit genug Geld für Privatschulen für ihre Kinder, sofern vorhanden, bevölkern sie die schicken Gegenden der Großstädte, in denen sich die Verwerfungen, auf die ihre Widersacher verweisen, kaum erahnen lassen. So wirken etwa der Berliner Bezirke Mitte (in seinem östlichen Teil) oder der Prenzlauer Berg wie Inseln der Glückseligen – in denen sich die oft haarsträubenden Zustände ein paar Kilometer weiter nicht mal erahnen lassen. Eben die Zustände, mit denen mehrheitlich diejenigen zu kämpfen haben, für die einzusetzen früher einmal das Selbstverständnis linker Politik war. Und die viele der Champagner-Linken heute als „Pack“ verachten. Als unmodern, rückständig, unlinks – weshalb sie statt dem kleinen Mann Minderheiten als Alibi für ihre Posten und Pfründe auserwählt haben.
Viele dieser Privilegierten können die Klagen dieses lästig gewordenen „Packs“ nicht verstehen, Den Leuten ginge es so gut wie noch nie, aber dieser Pöbel sei zu blöd um das zu schätzen, versichern sie sich gegenseitig bei den Luxus-Empfängen in Berlin. Klar – ihnen geht es wirklich so gut wie nie. Meinungsfreiheit? Gibt es doch, so viel wie nie – das wissen sie doch aus eigener Erfahrung, sie können doch alles sagen, was sie denken. Bildung? Die Kinder gehen doch an gute Schulen. Wohnraum? Ist doch kein Problem! Ausländer? Sind doch alle gut situiert, erleben sie doch ständig selbst! In ihrer Blase. Michael Hartmann beschreibt das Phänomen sehr gut in seinem Buch „Die Abgehobenen – wie die Eliten die Demokratie gefährden“. Aus linker Perspektive zwar, aber die Bestandsaufnahme ist erdrückend.
Dieses Leben in einer eigenen Realität war für die alten Eliten in der Bundesrepublik in Bonn so kaum möglich – zu nah war in der Provinzstadt der Alltag der kleinen Menschen, zu überschaulich ihre Welt, zu gering die Verwerfungen, zu hoch war die Bodenhaftung bei vielen von ihnen, die durch schreckliche (Kriegs-)Erlebnisse und bittere Not in ihrer Jugend und Kindheit geprägt und geerdet waren. Viele lachten damals etwa über die manchmal etwas plump wirkende Volksnähe eines Helmut Kohl. In Zeiten der Eiskönigin im Kanzleramt denkt man indes mit Sehnsucht an die emotionale „Walz aus der Pfalz“ zurück; den Mann, der Merkel als Ziehvater den Weg ebnete und dies später sehr bitter bereute.
Bei den heutigen Eliten feiert dagegen das Marie-Antoinette-Syndrom Urstände: Wie die französische Königin, die zumindest der Legende nach ihren notleidenden Untertanen auf die Klage, sie hätten kein Brot, geantwortet haben soll, sie mögen doch Kuchen essen, haben viele der bestimmenden Akteure in Politik, Medien und anderen wichtigen Bereichen jede Bodenhaftung nicht etwa verloren – sondern größtenteils nie erlangt, in ihrem von existentiellen Sorgen größtenteils freien Leben in Wohlstand, Freiheit und Frieden. Heiko Maas ist das Sinnbild dieses Phänomens – Politiker in Osteuropa nennen in spöttisch den „Jungen in den kurzen Hosen“. Man hat fast den Eindruck, mangels Reibungsfläche sind viele unsere politischen und auch medialen Akteure nicht nur nie aus der Pubertät heraus, sondern nie in sie hineingekommen. Infantilität ist ihr Markenkern.
Wer die Methoden, Taktiken und Strategien von SED, Stasi, KPdSU und KGB studiert, kommt nicht umhin, heute in erschreckend vielen Bereichen zumindest in Ansätzen ihre Handschrift zu erkennen. So gehörte es nach Bekenntnissen von Überläufern etwa zur Langzeitstrategie des KGB unter dem Gorbatschow-Ziehvater Juri Andropow, im Westen vor allem über Lehrer und Dozenten Schüler und Studenten linksextrem zu indoktrinieren und etwa Themen wie Umweltschutz oder Friedenspolitik/Abrüstung als trojanische Pferde für die eigene Ideologie und langfristige Zersetzung des „Klassenfeindes“ von innen zu nutzen.
Die Eliten spüren, dass die Kritik immer lautstarker wird, und immer mehr Menschen auf Distanz gehen zu ihnen – am besten ist das an den Wahlergebnissen und an den Ergebnissen der so genannten „etablierten“ Parteien abzulesen, die inzwischen gar nicht mehr so etabliert sind. Sie spüren, dass ihnen ihre Felle davonschwimmen – politisch, aber damit längerfristig eben auch existenziell, in Form von Ämtern, Pfründen, Privilegien und Pensionen.
Im diskreten, oft unbewussten Zusammenspiel von Machtstrategen und ihren nützlichen Idioten gerade in den Medien wird inzwischen fast schon regelmäßig auch die Logik vergewaltigt: als Beispiel sei nur an die große Demonstration gegen die AfD in Berlin erinnert, die unter dem Motto stand: „Gegen den Hass“, bei der aber auch die Parole vorherrschte „ganz Berlin hasst die AfD“. Die Schizophrenie solcher völlig gegenläufiger Aussagen schien offenbar kaum jemand aufzufallen. Hier wird ganz klar Hass instrumentalisiert – und viele Menschen, vor allem junge, folgen gutgläubig.
Die AfD mit ihrem in Teilen sehr problematischen Personal ist geradezu ideal, um als Blitzableiter von den realen Problemen im Lande abzulenken und unbequeme Stimmen pauschal zu diffamieren. Zutreffende Kritik wird mit dem Hinweis tabuisiert, „so etwas könnte ja auch die AfD sagen“ – was für eine intellektuelle Hütchenspielerei, was für ein Offenbarungseid. Gäbe es die AfD, den „Gottseibeiuns“ des 21. Jahrhunderts, nicht, beziehungsweise würden nicht Teile ihres politischen Personals auf zuweilen geradezu haarsträubende Weise die Vorwürfe gegen sie bestätigen – die Verteidiger des „Status quo“ müssten die AfD geradezu erfinden.
Ebenso wie ihr Widerpart verstehen auch viele der „Kritiker des Systems“ ihre Gegenspieler nicht. Vorwürfe wie „Volksverräter“ belegen dies. Von den reinen Machtstrategen und Zynikern abgesehen handelt ein Großteil der heutigen Eliten in ideologischer Verblendung und/oder dem Selbstbetrug, nur das Gute zu wollen. Dass diese hehre Absicht auf erstaunliche Weise so regelmäßig mit den Geldflüssen, Pfründen und Posten zusammenfällt, halten sie wohl für eine Fügung des Schicksals oder hinterfragen es einfach nicht. Es ist immer angenehmer, wenn man glaubt, auf Seite des Guten zu sein – und quasi nur zufällig dafür noch die All-Inclusive-Versorgung und die Vollkasko mit zu greifen. So wird auch munter die Lehre der Geschichte verdrängt, dass die schlimmsten Systeme stets im aufrichtigen Glauben ihrer Erbauer, nur das Gute zu wollen, errichtet wurden.
Fazit: Auf den beiden Seiten der neuen Mauer stehen sich unerbittlich gegenüber…
A) Eine Elite, die, sarkastisch ausgedrückt, für sich selbst eine Art sozialistische Privat-Insel im Kapitalismus errichtet haben und in diesem weitgehend unter Ausschuss der Realität gut und gerne leben, und nun ihr von der Allgemeinheit finanziertes Biotop bedrängt sehen. Und ihre Unterstützer: Viele aufrechte Bürger, die zwar fühlen, dass sich Ungutes anbahnt – aber das lieber verdrängen und sich an die Illusion klammern, ein „Weiter-so“ sei möglich. Bei ihnen richtet sich ihre Wut oft weniger auf die Verursacher der aktuellen Verwerfungen als auf diejenigen, die sie aussprechen, und somit die mühsam verdrängte Angst wieder ins Bewusstsein befördern.
B) Viele Menschen, die meist täglich mit den Verwerfungen konfrontiert sind, sich einen Schutz vor diesen nicht leisten können und ihre Ängste nicht verdrängen wollen oder können. Möglicherweise überzeichnen sie diese auch teilweise, ohne böse Absicht, einfach aus Besorgnis heraus (die Unterstützer), oder aus Kalkül (die Protagonisten). Unter sie haben sich auch allerlei eher finstere Gestalten gemischt, die versuchen, mit dem Unmut ihr eigenes Süppchen zu kochen.
Eine gesunde Demokratie lebt vom Wechsel. Davon, dass in nicht allzu langen Abständen die Befürworter des Status Quo und seine Kritiker die Rollen tauschen. Das, also die Alternative, ist das Lebensblut der Demokratie. In Deutschland ist dieses erstarrt – weil die demokratischen Mechanismen des (Politik-)Wechsels sabotiert wurden. Durch Manipulation. Durch den gigantischen, fatalen Betrug mit der vermeintlichen Alternativlosigkeit – die nichts anderes ist als eine neue Mauer: Offiziell stehen auf deren einer Seite die Guten, auf der anderen die Bösen – die „Nazis“. Als solche werden heute Menschen diffamiert, die nichts anderes wollen als ihr grundlegendstes Recht in einer Demokratie: Eine Alternative.
Dass dieser gigantische Betrug von so vielen nicht durchschaut wird, zeigt, wie unzureichend die Demokratisierung Deutschlands war. Dies belegt auch, wie kaum beachtet, ohne Aufschrei, grundlegende demokratische Mechanismen ausgehöhlt wurden. Wir erleben eine immer dominantere Einflussnahme von Interessengruppe, von „Nicht-Regierungsorganisationen“, etc., die von der Regierung finanziell gehätschelt werden, auf den politischen Prozess der Meinungsbildung und Meinungsfindung – was die demokratische Willensbildung manipuliert.
Daneben kam es zu einer Auslagerung von politischen Initiativkompetenzen aus Parlament und Regierung an interessierte Dritte, die, ebenfalls mit staatlichen Geldern alimentiert, für Themen in den Ring steigen, die den eigentlichen Verwaltern der Staatsmacht politisch zu riskant sind. Als Beispiele sind die Umwelthilfe und Abgasklagen zu nennen, das Maas´sche Netzwerkdurchsetzungsgesetz und anderes.
Zudem hat sich die Rolle der meisten Medien gewandelt, insbesondere der öffentlich-rechtlichen: Von einer kommentierenden und kritisierenden Funktion hin zu einer meinungsschaffenden, ja agenda-setzenden.
Angela Merkel, deren Vater als Anhänger des Kommunismus aus Hamburg in die DDR übersiedelte und dort einer der Väter der Kirche im Sozialismus wurde, und die selbst in jungen Jahren im kommunistischen Jugendverbund FDJ aktiv war, ist die politisch Hauptverantwortliche für die Deformierung der Demokratie in Deutschland. Und für die Errichtung der neuen Mauer in der Bundesrepublik – auch wenn dies ohne unzählige Mitläufer und Opportunisten, ohne erschütternde Feigheit und Duckmäuserei nicht möglich gewesen wäre. Ob sie dabei ideologisch motiviert war, oder machtpolitisch, oder beides, sei dahingestellt. In jedem Fall hat sie ihrem Machterhalt die Einigkeit des Landes geopfert. Sie hat es tief, bis auf die Knochen gespalten, und unsere Demokratie zersetzt.
Am Jahrestag des Mauerfalls ist es auch notwendig, an etwas zu erinnern, was sehr viele vergessen haben: Das menschenverachtende, im Wortsinne mörderische Bauwerk hieß in der DDR-Propaganda „antifaschistischer Schutzwall.“ Es ist eine alte DDR/Stasi-Methode, mit „Kampf gegen Rechts/Nazis“ von Missständen und Rechtsbrüchen abzulenken, den Sozialismus gegen Kritiker durchzudrücken und die Gesellschaft zu spalten.
Wenn die Privatisierung der Staatsmacht nicht aufgehalten wird, wenn die neue Mauer mit dem Decknamen „Alternativlosigkeit“ nicht schnellstens als das durchschaut wird, was sie ist, ein Betrug und ein Sargnagel der Demokratie, wenn die durch sie betriebene tiefe Spaltung der Gesellschaft nicht bekämpft wird, statt sie weiter voranzutreiben und zu instrumentalisieren, wird unser Land implodieren. Die Steine der neuen Mauer werden den Menschen auf beiden Seiten von ihr um den Kopf fliegen. Es wird kein Happy End geben wie am 9. November 1989.
Die Mitte, die Nicht-Radikalen, alle aufrichtigen Demokraten im politischen Spektrum von links bis rechts, müssen aus ihrer Lethargie und Apathie erwachen, ihren Mut zusammen nehmen, den Mund aufmachen und aktiv werden gegen die Extremisten, egal ob links, rechts oder religiös. Demokratie und Freiheit sind wie Atemluft: Solange man sie hat, schätzt man sie nicht. Erst, wenn sie einem genommen wird, merkt man, wie sehr sie einem fehlt.
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