Sechs Jahre nach seiner spektakulären Flucht hat Edward Snowden – nach unzähligen Medienberichten und Interviews, nach der oscarprämierten Dokumentation „Citizenfour“ von Laura Poitras und nach Oliver Stones Spielfilm „Snowden“ – in seinem Mitte September veröffentlichten Buch seine Sicht auf die Geschehnisse aufgeschrieben. Wohl auch mit der Absicht, die Diskussion noch einmal anzufachen, um uns wieder und wieder an die Gefahren für unsere Freiheitsrechte zu erinnern. Denn seine große Sorge war und ist, dass sich auch durch seine mediale Offenlegung nichts ändert: „The greatest fear that I have regarding the outcome for America of these disclosures is that nothing will change.“ Dass viele einfach nicht sehen wollen, wie fundamental sich die Welt seit den Geschehnissen von 9/11 im Namen von „National Security“ hinter dem Rücken der Steuerzahler verändert hat. Wie zum Beispiel durch die Verabschiedung des „Patriot Acts“ die Bürgerrechte in hohem Maße eingeschränkt wurden und werden.
Snowdens Lebensweg bis zur Enthüllung
Eine Autobiographie vermittelt naturgemäß einen persönlicheren Eindruck als ein Spielfilm. Das Buch ist spannend und gut zu lesen. Es lässt uns miterleben, wie nach Zeiten des Optimismus‘ und der Begeisterung für die sozialen Möglichkeiten des Internets in ihm die Zweifel wachsen. Wir nehmen teil an seinem jahrelangen, zum Schluss zermürbenden Ringen, das ihn schließlich durch das wiederholte Auftreten von epileptischen Anfällen Mitte 2011 in die Wartezimmer von Arztpraxen und Hospitälern treibt und ihn durch die einschlägige Medikation buchstäblich lahm legt; ihn – versorgt von seiner Freundin und heute Ehefrau Lindsay Mills – monatelang zur Untätigkeit auf die Wohnzimmercouch verbannt.
Viele kennen Bruchstücke seiner Geschichte, die er in seinem Buch noch einmal detailliert nachzeichnet: Seine Herkunft aus einer Familie von Armeeangehörigen, deren Abstammung mütterlicherseits unmittelbar auf die „Pilgrim Fathers“, die ersten englischen Siedler in Neuengland, zurückgeht. Eine Familie, deren Mitglieder stets getreue Bürger im Dienste des Landes waren und ihr Pflichtbewusstsein an die folgenden Generationen weitergaben: Sein Großvater als stellvertretender Stabschef der Abteilung für Luftfahrttechnik bei der Küstenwache; sein Vater als Oberbootsmann beim technischen Luftfahrt-Ausbildungszentrum der Küstenwache in Snowdens Heimatstadt Elizabeth City, North Carolina.
Kindheit und Jugend
Schon als kleiner Junge war er versessen auf Videospiele. Fasziniert von den völkerverbindenden Möglichkeiten der damals im Entstehen begriffenen technischen Entwicklungen sitzt er jede freie Minute vor dem Computer. Durchwachte Nächte führen zu Erschöpfungszuständen, die einen ordentlichen Schulabschluss in Frage stellen. Kurz vor seinem 9. Geburtstag zieht die Familie berufsbedingt nach Crofton, Maryland, wo seine Mutter bei der NSA in Fort Meade, einer Einrichtung der US-Streitkräfte, Arbeit findet. Damals eine völlig normale Beschäftigung für die dort lebende Bevölkerung, wie Snowden betont. Über die Tätigkeit der Eltern wurde zuhause allerdings nie gesprochen.
Militär und CIA
Aus patriotischem Pflichtgefühl meldet sich „Snowflake“, wie ihn seine Kameraden nennen, nach den Anschlägen von 9/11 zum Militär. Doch schon nach kurzer Zeit landet er nach einem verunglückten Sprung vom Hochbett auf der Krankenstation, wo man feststellt, dass der unmenschliche Drill dazu geführt hatte, dass er schon einige Zeit auf gebrochenen Beinen unterwegs gewesen war und er die Grundausbildung nicht beenden könne. Fallschirmspringen wäre die nächste Phase gewesen, und sein Arzt erklärte ihm: „Mein Sohn, wenn Du auf diesen Beinen landest, werden sie sich pulverisieren.“
Mit 22 Jahren wird er bei der CIA in McLean, Virginia angenommen, obwohl er von seinen schulischen Leistungen und Abschlüssen her nicht die besten Voraussetzungen für diesen Posten hatte. Doch die Angriffe auf die Zwillingstürme hatten alles verändert: Die CIA brauchte dringend Personal, viel Personal. So bekamen er und andere Computer-Nerds ihre Chance. „Als ich dazu stieß, hatte die Aufrichtigkeit des öffentlichen Dienstes der Habgier des privaten Sektors Platz gemacht“, schreibt er, „und statt des hochheiligen Vertrages für Soldaten, Offiziere und Berufsbeamte gab es nun den unheiligen Deal mit dem Homo contractus, der wichtigsten Spezies im US-Staatsdienst 2.0.“ (S. 144) Das hier ist der tiefe Staat, sagt ein Kollege am ersten Arbeitstag zu ihm, an dem er sich zunächst einer „Indoctrination“ genannten Sitzung unterziehen muss.
Genf
Von 2007 bis 2009 war er, getarnt als Diplomat, an der US-Botschaft in Genf angestellt. Es war die Zeit, in der die Arbeit der Geheimdienste völlig neu definiert wurde: Es ging nicht mehr um heimliche Treffen, tote Briefkästen oder darum, sich mit hohem Risiko physisch Zugang zu Geheimnissen zu verschaffen, sondern es ging um Daten, und die CIA-Abteilung der Genfer Botschaft gehörte zu den bedeutendsten europäischen Laboren, in denen ein weltumspannendes Netzwerk unter amerikanischer Kontrolle ausgetüftelt wurde. Zu den engsten Partnern gehören Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland, die sogenannten „Five Eyes“. Deutschland, Schweden, Frankreich, Belgien und auch Japan und Südkorea profitieren von den Erkenntnisse und liefern eigene Informationen.
Japan
Von 2009 bis 2011 lebt Snowden in Japan, wo er „auf dem Papier“ als Systemanalytiker Mitarbeiter von Dell war. Eine reine Formalität und Tarnung für seine Arbeit bei der NSA, die nahe Tokio auf dem US-Stützpunkt Yokota untergebracht ist. Dort wird ihm immer klarer, dass sich der Auftrag an die NSA grundlegend gewandelt hat, nämlich vom gezielten Sammeln von Kommunikationsdaten zur „Sammelerhebung“, einer euphemistischen Umschreibung der Geheimdienste für ihre weltweite Massenüberwachung: „Indem die US-amerikanische Intelligence Community ein weltumspannendes System geschaffen hat, das diese Identifikatoren (gemeint sind u.a. E-Mails, Telefone, Internetprotokolladressen) über jeden verfügbaren Kanal der elektronischen Kommunikation verfolgt, hat sie sich selbst die Macht verliehen, die Daten Deines Lebens in alle Ewigkeit aufzuzeichnen und zu speichern.“ (S. 407) Was bisher nur unter juristisch begründeten Umständen erlaubt war, wird zur Normalität.
Hawai und der Schritt in die Öffentlichkeit
2012 wechselt Snowdon als Systemadministrator für die NSA nach Hawai. Das Klima dort werde sich günstig auf seine epileptischen Anfälle auswirken, meinen seine Ärzte. Es wird eine schwierige Zeit. Nach langem Ringen wendet sich der immer etwas scheu und linkisch wirkende Snowden schließlich an zwei investigative Journalisten, die er als vertrauenswürdig ausfindig gemacht hat: an den Journalisten und Bürgerrechtsanwalt Glenn Greenwald und die Dokumentarfilmerin Laura Poitras. Er schickt ihnen verschlüsselte E-mails, schreibt von Dokumenten, die bewiesen, dass US-Behörden ihre Bürger ausspionierten, und unterzeichnet mit „Citizenfour“. Nach langem Hin und Her und zehn zermürbenden Tagen, die Snowden, ohne sein Hotelzimmer zu verlassen, in Hongkong verbringt, kommen die beiden Journalisten endlich dort an. Ein bewegendes Treffen, gefilmt von Laura Poitras, später als Doku gefördert und ausgestrahlt vom deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Auf der Suche nach Asyl
In Hongkong gibt er am 9. Juni 2013 seine Identität preis und macht sich mit Hilfe von Mitarbeitern der Enthüllungsplattform „WikiLeaks“ auf die Suche nach einem Land, das gewillt ist, ihn aufzunehmen. Ecuador hatte sich bereit erklärt, doch der Weiterflug Moskau-Quito wird ihm verwehrt: Amerika hatte ihm inzwischen den Pass entzogen. Beängstigend war auch, dass das von Moskau gestartete Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales zur Landung in Wien gezwungen worden war, weil man Snowden an Bord vermutete.
Wir erinnern uns: Vierzig Tage lang musste sich Snowden im Transitbereich des russischen Flughafens Scheremetjewo aufhalten. 27 Länder bat er um Asyl. Ohne Erfolg. Auch die deutsche Regierung, die doch so stolz auf ihr im Grundgesetz verbrieftes Recht auf Asyl ist, brachte es nicht über sich, ihm Schutz zu gewähren. Noch heute ist Russland der Ort, wo er seit seiner Flucht geduldet wird. Er lebt dort von Tag zu Tag. Mit ungewisser Zukunft.
Unzureichende Vorstellungskraft der Bürger?
Die autokratische Macht operiert heutzutage gerne verdeckt. Menschen, die es wagen, Macht und Unrecht hinter der Saubermann-Fassade sichtbar zu machen, werden abgewertet, verunglimpft und bis zur Vernichtung ihres Rufes und ihrer Existenz verfolgt. Der Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks, Julian Assange, sitzt, seitdem ihm das Asyl in der ecuadorianischen Botschaft entzogen wurde, seit April für 50 Wochen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Osten von London. Verurteilt wegen Verstoß gegen seine Kautionsauflagen lebt er nun in der Angst, von Großbritannien an die USA ausgeliefert zu werden.
Die verdeckte Existenz der inzwischen schon weit entwickelten Überwachungstechniken des Staates und die mangelnde Vorstellungskraft der Menschen machen es so schwierig, dass wir uns der Gefahren für unsere Freiheit bewusst werden und – neben den angenehmen Seiten – die langfristig verheerenden Auswirkungen auf unsere Privatsphäre (bisher ein Tabu und nur durch richterlichen Beschluss einsehbar) wahrzunehmen. Der Zeitgeist verführt besonders junge Menschen dazu, freiwillig preiszugeben, was uns Vorsicht und das natürliche Schamgefühl vor nicht allzu langer Zeit noch verboten hätten. Lieber geben wir uns mit der fahrlässigen und naiven Vorstellung zufrieden, dass wir nichts zu verbergen hätten, und wollen nicht wahr haben, dass die von George Orwell in seiner Dystopie „1984“ geschilderte Welt längst Wirklichkeit geworden ist: Big Brother is Watching You! Weltweit befinden sich die Menschen jeden Moment des Tages in einer Datenbank. 24 Stunden lang kann man uns nun in Echtzeit bei jedem vertraulichen Gespräch, jeder intimen Handlung beobachten. Unsere religiösen und politischen Überzeugungen, unsere sexuellen Aktivitäten, unsere finanzielle Situation, unsere gesundheitlichen Probleme und peinlichen Momente liegen „für alle Ewigkeit konserviert“ zur Kontrolle bereit. (S. 127) Unser Leben ist zu einem offenen Buch geworden.
Lügen und Doppelmoral
Erinnern wir uns: Es gab einmal so etwas wie ein Briefgeheimnis. Der Schutz der Privatsphäre ist ein verbrieftes Menschenrecht. Artikel 12 der heute fast täglich zitierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ lautet: „Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe und Beeinträchtigungen.“
Wie ist es um eine Regierung bestellt, die mit der Begründung, die Bürger gegen die Gefahren des Terrorismus zu schützen, keine Grenzen beim Datensammeln kennt. Die Privatsphäre ist die Voraussetzung für freies Denken und Kreativität. Sobald man weiß, dass man abgehört werden kann, steht man unter Druck und beginnt, sich bei jeder Äußerung zu fragen, ob sie einem schaden könnte.
Wie kann man noch einer Regierung vertrauen, die über dem Gesetz zu stehen glaubt; deren Vertreter relativieren, verschweigen, schamlos lügen und sich inzwischen so unangreifbar fühlen, dass sie offen und unter Gelächter eines unbedarften Publikums auch noch damit prahlen. So kürzlich US-Außenminister Mike Pompeo bei einem Vortrag an der Texas A&M University: „Ich war mal CIA-Direktor. Wir haben gelogen, wir haben betrogen, wir haben gestohlen. Wir hatten ganze Ausbildungskurse darin.“
Am 12.3.2013 wird der sichtlich angespannte NSA-Direktor James Clapper bei einer Anhörung von Senator Ron Wyden gefragt, ob die NSA ohne juristische Befugnis Daten aller Art von Millionen und Hunderten von Millionen Amerikanern sammelt. (etwa bei Minute 6) Clappers Antwort: „Nein, Sir. Nicht absichtlich. Es gibt vielleicht Fälle, wo das unabsichtlich passiert, aber nicht mit Absicht.“
Da weint Barack Obama zu Recht öffentlich über die 28 Personen, darunter 20 Kinder, die beim Amoklauf an der „Sandy Hook Grundschule“ ums Leben kamen. Während er andererseits im Lagezentrum im Weißen Haus wöchentlich Listen absegnet, die über Leben und Tod durch Drohnen entscheiden: Todesurteile ohne Gerichtsverfahren. Auch das hat Edward Snowden bekannt gemacht. Töten auf Knopfdruck unter dem Motto „Seek – Attack – Destroy“, über Ramstein als Relaisstation für die Drohnenangriffe in alle Welt, die aufgrund der Erdkrümmung nicht direkt von den USA aus gesteuert werden können. Der Aussteiger Brandon Bryant arbeitete sechs Jahre lang als Drohnenpilot. Bei seiner Verabschiedung bekam er ein Zertifikat, in dem seine „Erfolge“ aufgelistet waren: 6.000 Flugstunden, Hunderte geflogene Einsätze und 1.626 getötete „Feinde“. Darunter Kinder und Frauen. Unschuldige Menschen als „Kollateralschäden“.
Wie sieht unsere Zukunft aus
Haben wir – eingelullt von Framing, Nudging und Konsum – inzwischen vergessen, dass wir der Souverän sind, dass wir, wenn wir Demokratie wollen, Verantwortung tragen, dass nach dem Grundgesetz alle Macht vom Volk ausgeht, dass wir das, was geschieht, durch unsere Steuern ermöglichen? Dass uns Artikel 20 des Grundgesetzes das Recht gibt, uns gegen widerrechtlich ausgeübte Macht friedlich zu Wehr zu setzen? Der Artikel lautet:
(1) Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
„Es wäre eine Tragödie, wenn wir uns eines Tages endlich zum Widerstand entschließen und feststellen würden, dass es dafür zu spät ist“, schreibt Edward Snowden. „Dann müssten sich die künftigen Generationen an eine Welt gewöhnen, in der Überwachung nicht nur gelegentlich unter juristisch begründeten Umständen eingesetzt wird, sondern jederzeit und ausnahmslos: das Ohr, das immer zuhört, das Auge, das immer zusieht, ein nimmermüdes Gedächtnis mit unbegrenzter Speicherkapazität. Als es gelungen war, das flächendeckende Sammeln von Daten mit ihrer dauerhaften Speicherung zu kombinieren, musste eine Regierung nichts weiter tun, als eine Person oder Gruppe zum Sündenbock zu stempeln und sich auf die Suche zu machen – so wie ich die Dateien der Geheimdienste durchstöbert hatte – um Indizien für ein Vergehen zu finden, das man ihnen anlasten kann.“ (S. 237)