Tichys Einblick
Der große Graben in der Gesellschaft

Zweierlei Demokratie

Warum können oder wollen die einen nicht mehr mit den anderen reden? Beide sprechen von Demokratie, aber sie meinen nicht dasselbe. Weil eine fatale 250 Jahre alte Idee von Jean-Jacques Rousseau wieder neu aufgelegt wird. Das sollten wir nicht zulassen.

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Es gibt vermutlich kaum ein Wort, das einen besseren Leumund hat als „Demokratie“. Wer will bestreiten, dass Demokratie als Prinzip für unseren (und eigentlich auch jeden anderen) Staat unverzichtbar ist? Niemand zumindest, der sich nicht selbst aus dem öffentlichen Diskurs ausgrenzen und den Boden unserer Verfassung verlassen möchte. Demokratie zu akzeptieren ist die Conditio sine qua non, um in unserer Gesellschaft dazu zu gehören. 

Eine der wichtigsten Lehren aus der europäischen und vor allem aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist die von der Verletzlichkeit der Demokratie: Nur eine „wehrhafte Demokratie“ ist beständig. Wer als Un- oder gar Antidemokrat feststeht, der ist nicht mehr nur ein Andersdenkender, sondern ein Feind aller anderen Demokraten und unseres Staates. Mit ihm muss und soll man nicht debattieren. Ihn muss man bekämpfen – und zwar nicht mehr nur im Diskurs, sondern auch mit staatlichen Gewaltmitteln. Der demokratische Staat, der den Antidemokraten bekämpft, handelt sozusagen in Notwehr. 

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Diese Wehrhaftigkeit und die fast sakrale Wirkung des Begriffs Demokratie, der eine Art ideelles Kleinod des Staates und der Gesellschaft ist, haben aber eine fatale Nebenwirkung: Sie machen den Begriff attraktiv für den Missbrauch als ultimative Waffe in der politischen Auseinandersetzung. „Er ist kein Demokrat“, ist sozusagen das ultimative Verdikt, weil es den so bezeichneten zum Staatsfeind macht. Eine argumentative Auseinandersetzung mit einem solchen Nichtdemokraten erübrigt sich. Die Deutungshoheit darüber, was Demokratie konkret sei, also bestimmen zu können, wer Demokrat ist und wer nicht, bedeutet in unserem Staat und unserer Gesellschaft höchste Macht.

Seit dem 18. Jahrhundert schon gibt es, vereinfacht gesagt, zwei Interpretationen von Demokratie. Die erste sieht Demokratie als Regelwerk für die Praxis eines politischen Pluralismus innerhalb des Staates: Die Existenz von sich widersprechenden Interessen und Überzeugungen wird dabei vorausgesetzt und akzeptiert. Die Demokratie bietet die Foren, damit der Streit durch faire Debatten und Abstimmungen friedlich ausgetragen und (immer nur befristet) entschieden werden kann. Die Unterlegenen müssen sich der Mehrheit fügen, werden aber als Teil des Ganzen akzeptiert und geschützt. Mehrheit und Minderheit bleiben trotzdem ein „wir“. Diese Demokratie-Interpretation war schon in den Stadtstaaten des alten Griechenland verwirklicht und in der Moderne als erstes in England und den Vereinigten Staaten von Amerika. Und bis vor nicht allzu langer Zeit galt das auch unzweifelhaft für alle westlichen Demokratien inklusive Deutschland.

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Am Anfang der zweiten Interpretation steht vor allem ein Name: Jean-Jacques Rousseau. Für ihn ist in einem demokratischen Staatswesen nicht der Wille der einzelnen Bürger (volonté de tous) und auch nicht der Wille der Mehrheit (volonté de la majorité), politisch ausschlaggebend, sondern der Gemeinwille, die „volonté generale“. Seit Rousseau glauben immer wieder politische Akteure, in aller Regel wurden und werden sie der Linken zugeordnet, zu wissen, dass ihre eigenen Vorstellungen von der Zukunft diesem Allgemeinwillen entsprechen. Wer darauf aufbaut, versteht also Demokratie nicht mehr in erster Linie als den Wettstreit der Interessen und Überzeugungen auf der Basis von gemeinsam akzeptierten Regeln, sondern als Verwirklichung dieses Gemeinwillens, der der höchsten Vernunft des Staatswesens entspricht. Entscheidend dafür ist nach Rousseau die Förderung der Tugend (vertu) der Bürger, die ihre persönlichen Interessen dem Allgemeinwillen unterordnen müssen. Darum, so Rousseau, komme es vor allem auf die Erziehung („Zurück zur Natur“) an. Er selbst übrigens gab seine Kinder bekanntlich zur Adoption frei.

Kurz gesagt: Die erste ist eine Demokratie für Menschen, wie sie sind, während die zweite eine Demokratie ist für Menschen, wie sie nach dem Willen selbst erklärter „Demokraten“ sein soll(t)en. Welche von beiden die wirkliche und auch die beständigere und für jede Gesellschaft segensreichere ist, dürfte eigentlich nach aller historischen Erfahrung eindeutig geklärt sein. Die erste natürlich. Aber aus der Geschichte zu lernen, fällt bekanntlich sehr schwer. Vor allem in geschichtslosen Zeiten wie unserer. 

Die Versuche der Verwirklichung der rousseauschen Demokratie sind zahlreich. Der erste war Robespierres Guillotinen-Diktatur mit dem „Wohlfahrtsausschuss“. Im 20. Jahrhundert gab es bekanntlich noch viel größere und noch blutigere Versuche: Der verheerendste fand in Russland und Osteuropa zwischen 1917 und 1990 statt. In China war er nicht weniger schreckensreich. Und, nicht zu vergessen, dort wird er mit mittlerweile ökonomisch sehr viel erfolgreicheren Methoden noch fortgeführt. 

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Wir erleben trotz all der furchtbaren historischen Erfahrungen nun offenbar einen neuen, verdeckten, unblutigen, raffinierteren Anlauf dazu. Er findet glücklicherweise immerhin ohne Revolution und ohne Guillotinen statt. Es ist eine langsame, daher halbwegs schmerzfreie und im Alltag wenig wahrnehmbare Entwicklung „von oben“, aber eine mit gewaltigem Anspruch: Während Rousseau sich in seinen Überlegungen immerhin noch auf den umgrenzten Nationalstaat beschränkte, geht es den Rousseauisten der Gegenwart anscheinend buchstäblich ums Ganze. Nicht mehr um das/ein Volk, sondern um alle Menschen und die ganze Welt. 

Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass das Klima eine derartige Konjunktur in der Aufmerksamkeit der politischen Klasse gewonnen hat. Der Klimaschutz erscheint heute als der Inbegriff einer volonté universelle, eines Gemeinwillens der Menschheit, diktiert von der Wissenschaft/Vernunft mit der Verpflichtung zur Umsetzung durch tugendhafte politische Führer. 

Die Demokratie in der bisherigen Interpretation als Regelsystem des Wettstreits verschiedener Interessen und Überzeugungen muss entsprechend uminterpretiert werden. PR-Experten nennen das Framing: Ein Begriff wird durch entsprechenden immer wiederkehrenden Gebrauch in der öffentlichen Kommunikation in ein bestimmtes Deutungsmuster eingepasst. Demokratie wird dann allmählich irgendwann eben nicht mehr als Wettstreit der Interessen und Ideen verstanden, sondern als das Gute und Richtige wollen. Demokrat ist demnach, wer die Volonté Universelle will. Und wer sie nicht will, ist undemokratisch.

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Vergessen wir nicht: DDR stand für „Deutsche Demokratische Republik“. Die Herrscher dieses Staates sahen keinen Widerspruch zwischen diesem „demokratisch“ und ihrer SED-Hymne „Die Partei, die Partei hat immer recht“. Denn dieses „demokratisch“ war genauso zu verstehen wie das „Volk“ im Staatsnamen der „Volksrepublik China“. Es heißt nicht, dass da nach Regeln frei diskutiert und abgestimmt wurde, sondern es heißt, dass alle politischen Entscheidungen im Namen und für ein als Einheit begriffenes „Volk“ getroffen werden, das aber nicht gefragt werden muss, was es will, weil nämlich eine politische Avantgarde aufgrund ihrer Tugend weiß, was der eigentliche Wille des Volkes zu sein hat. 

Dieser vermeintliche Gemeinwille war im Falle der DDR und der anderen seit 1917 entstandenen „Volksdemokratien“ der Kommunismus. Die heutigen rousseauistischen Demokraten haben neue Objekte des allgemeinen Wollens ausgemacht, konkret zum Beispiel: Das Klima zu schützen und jeglichen Einwanderer mit offenen Armen zu empfangen. Gemeinsam ist all diesen Zielen die Vorstellung vom Kampf für die Verwirklichung einer großen allgemeinen Gerechtigkeit. 

In der Folge laufen diejenigen, die den neuen Universalwillen nicht mitwollen oder zumindest ihr eigenes Interesse und die eigenen Überzeugungen nicht ganz vergessen haben, Gefahr, sich plötzlich außerhalb der neu definierten Gesellschaft der Demokraten wiederzufinden. Die derzeitige Verhärtung der politischen Kultur und des gesellschaftlichen Klimas in westlichen Ländern und vor allem in Deutschland ist auch eine Folge dieses neuen Rousseauismus in den politischen Eliten, der eine neue Gruppe von Ausgeschlossenen geschaffen hat.

Und so stehen sich heute eben in Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften „Demokraten“ gegenüber, deren Demokratieverständnis ein ganz unterschiedliches ist. Und weil die einen den Anspruch der anderen, nach den Spielregeln der Demokratie angehört und zumindest akzeptiert zu werden, gemäß deren Vorstellung von Demokratie nicht akzeptieren können, weil dieser Widerspruch der volonté universelle alias dem allgemein Guten und einzig Richtigen im Wege steht, so kann es zwischen beiden kein Gespräch mehr geben. Sie empfinden sich nicht mehr beide als Teil eines „wir“, sondern als Feinde. Der eine wirft dem anderen seine Unmoral, sein Abweichlertum vor, dieser wiederum muss den kompromisslosen Eifer des ersteren als Zerstörung der demokratischen Spielregeln verstehen.

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Das ist die innere Absurdität dieser moralisierten Auffassung von Demokratie seit Rousseau: Ihr Generalismus, ihr Anspruch darauf, für das ganze Gemeinwesen, beziehungsweise in der aktuellen Version sogar universell für alle Menschen über alle Grenzen hinweg zu sprechen und zu handeln, schafft unweigerlich nicht die große Einheit, sondern bringt Ausgeschlossene hervor, die dadurch nicht nur Gegner sind wie in der pluralen Demokratie, sondern Feinde werden müssen. Der angewandte Rousseauismus mündete seit seiner ersten Anwendung durch Robespierre und die Jakobiner immer in Unfreiheit, in letzter Konsequenz führte er zu Terrorherrschaft und Bürgerkrieg, schließlich zum Zusammenbruch des Versuchs aufgrund der Unerfüllbarkeit seiner Versprechen.

Von all dem sind wir glücklicherweise weit entfernt. Die Institutionen der pluralen Demokratie in Staat und Gesellschaft bestehen weiter. Aber sie sind in der Gefahr, von innen ausgehöhlt zu werden durch Eiferer, die zu wissen glauben, was das Gute und Richtige für alle ist, und jene Institutionen dafür einspannen wollen. Das Ergebnis ist schon jetzt eine Art kultureller Bürgerkrieg. 

Was also tun, um weitere Eskalation zu verhindern?

Wehret den Anfängen! Also nicht Mitmachen beim rousseauistischen Framing des Demokratiebegriffs! Öffentlich und laut deutlich machen, dass die Idee eines Gemeinwillens eine gefährliche Illusion ist, auch wenn sie durch scheinbar höchste Instanzen wie „die Wissenschaft“ gerechtfertigt wird. Mag sein, dass manche Menschen tatsächlich glauben, besser zu wissen, was für alle Menschen gut und richtig ist, als die einzelnen Menschen selbst. Aber jeder einzelne kann und sollte öffentlich klarmachen, dass diese Besserwisser damit nicht durchkommen.

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