Die Esskultur spiegelt die Mentalität eines Volkes. Natürlich wandelt sie sich, hat sich immer gewandelt, die Kartoffel ist schließlich kein heimisches Gewächs. Aber das Fremde wird stets zum Eigenen. Esskultur gehört zur Leitkultur. Debatten ums Essen sind politisch und auch ideologisch. Die Auseinandersetzung um Agrarwende und Fleischverzicht zeigen es. Das war schon immer so.
Der namhafteste der wenigen deutschen Küchenphilosophen, Carl Friedrich von Rumohr, wetterte Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die französische Überfeinerung der Kochkunst. Er führte deutsche Werte – Klarheit, Einfachheit, Natürlichkeit – gegen die französischen Maximen ins Feld: Verfeinerung, Aufwand, Verkünstelung. Sein Gegenspieler als Gastrosoph, der Franzose Jean Anthelme Brillat-Savarin, behauptete hingegen, ein echter Feinschmecker könne anhand der Beinmuskulatur des gerade verspeisten Rebhuhns erkennen, auf welchem Bein es zu schlafen pflegte. Ein deutscher Feinschmecker sollte das, falls er es überhaupt erkennen kann, besser für sich behalten, um nicht für einen Snob gehalten zu werden und in die Fallen des Neids und der Gleichmacherei zu tappen.
Einst wie heute bevorzugt der deutsche Bürger schlichte Hausmannskost. Nicht nur mangels Sinn für Raffinesse, sondern geradezu als patriotische Pflicht. Die Franzosen hatten in der großen Revolution nur den Adel um einen Kopf kürzer gemacht. Ihre Köche dagegen gründeten Restaurants, und das Bürgertum erhob die Grande Cuisine zu einem wesentlichen Bestandteil der eigenen kulturellen Identität. Deshalb ist eine so lustfeindliche Debatte wie die um Fleischverzicht in Frankreich undenkbar. Dort schämt sich niemand, der lebendig gesottene Hummer und gestopfte Gänseleber mag.
Die Deutschen brachten keine Revolution zustande und lange auch keine Hochküche. Wer darauf nicht verzichten wollte, orientierte sich am Erbfeind. Das höchste der Gefühle blieb der Braten aus dem Rohr mit Beilagen zum Sattwerden. Die Feinschmecker sind in Deutschland eine Minderheit, in Frankreich dagegen spricht niemand von Feinkost – weil sie Normalität ist.
Der Grund dafür ist auch in der idealistischen deutschen Philosophie zu finden. Sie spaltet den Menschen in ein niedriges, sich ernährendes Wesen und in ein höheres Wesen geistiger Vernunft. Deshalb gelten selbst wahre Kochkünstler bestenfalls als Kunsthandwerker, nicht wie in Frankreich als Musikern und Malern ebenbürtige Künstler.
Kant zum Beispiel behauptete, ein Geschmackserlebnis könne niemals Erkenntnisgewinn sein. Er aß wie die meisten deutschen Geistesriesen zwar auch gern und viel, schätzte es aber gering. Hegel glaubte an eine Hierarchie der Sinne, hielt die Fernsinne Sehen und Hören für wertvoller als die Nahsinne des Berührens und Schmeckens, weil die dem Körper verhaftet und nicht unabhängig seien. Das ist ideologischer Unsinn. Brillat-Savarin meinte dagegen, nur derjenige erhalte vollen Genuss, der die Sinneswahrnehmungen auch geistig reflektieren könne.
Ein Verlust an Alltagsbezug zeigt sich in der Geringschätzung der Küche. Adorno verwendete das Adjektiv „kulinarisch“ als abwertende Bezeichnung. „Kulinarisch“ hieß oberflächlich, bloß unterhaltend. Im Gegensatz dazu galt ihm etwa klassische Musik als geistig, „weil sie sich nicht derart buchstäblich genießen lässt wie eine Kalbshaxe“. Anders formuliert: Wenn der Deutsche denkt, hat der Genuss nichts mehr zu melden. Der Kochkunst hat es in Deutschland geschadet, dass sie den Bauch beschäftigt und nicht nur den Kopf. Der Bauch steht für Materialismus. Und der ist in Deutschland verpönt.
Es geht nicht nur um die gehobene Küche. Beispiel: Brot. Zu Recht sind die Deutschen auf ihre Brotkultur stolz, wenn sie auch für ihren Erhalt wenig tun. Die handwerklichen Bäcker fallen billigen Backshops zum Opfer. Der Deutsche ist wie sein Brot: aus echtem Schrot und Korn und reich an ideologischen Ballaststoffen. Vollkornbrot wird für urdeutsch gehalten. Aber erst die Lebensreformbewegung der romantischen Urgrünen propagierte Brot aus geschrotetem Getreide.
In dieser Tradition steht zweifellos der Kult um die Currywurst. Kulinarisch gesehen handelt es sich um von scharfer Soße übertünchte Fleischabfälle. Auch sie sind ideologisch aufgeladen: „Currywurst ist SPD“, so plakatierte 2012 die ExVolkspartei in ihrem Stammland NRW. Ihr mögen die Arbeiter ausgehen, aber nicht die Currywürste. Die müssen vor allem billig sein. Und sie symbolisieren das moderne Deutschland, denn die Currywurst ist Multikultiwurst, vermählt sie doch das Nächste, nämlich Wurst, mit dem Fernsten, nämlich Curry, wie es Uwe Timm in seinem Bestseller „Die Entdeckung der Currywurst“ beschrieben hat. Nahrungsaufnahme meist im Stehen unter freiem Himmel auf Pappe passt natürlich besonders in die neue alte Hauptstadt, wo selbst Besserverdienende in zerrissenen Jeans und Sneakers in die Opernpremiere schlurfen. Den großen Widerspruch dabei hat noch niemand artikuliert.
Nicht mal HardcoreGrüne fordern ein Verbot der Currywurst, obwohl das Schwein nur ein armes sein kann, das zum essbaren Symbol sozialer Gerechtigkeit verwurstet wird. Offenbar steht die „Seelenwurst“ („FAZ“) der Deutschen unter einem besonderen Schutz. Ihr mangelnder Wert, ökologisch wie kulinarisch, ist ein Tabu.
Der Zeitgeist ist auf dem Teller zu besichtigen: Nicht der Mangel, sondern der Überfluss schafft heute Unbehagen. Die Deutschen waren immer Feinkostverächter, aber nun halten sie das auch noch für ihre moralische Pflicht. Deshalb wird auch die Debatte ums Tierwohl nicht kulinarisch geführt, sondern ideologisch.
Wolfgang Herles, Vorwiegend festkochend. Kultur & Seele der deutschen Küche. Penguin, 416 Seiten, zahlreiche Farbfotos, 29,00 €.
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