Anne Will muss die Landtagswahl in Thüringen besprechen – fast auf den Tag genau dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer: auch das soll bei Will Thema sein. Wenn das mal gut geht. Immerhin weiß man zum Sendetermin schon, wie in Thüringen gewählt wurde und ob es dort zu einem blauen Erdbeben kam oder eben nicht.
1,73 Millionen Thüringer waren wahlberechtigt. Von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben immerhin 1,12 Millionen. Gemessen am Zuspruch für die einzelnen Parteien blieb mit etwas über 35 Prozent die größte Gruppe der Wähler aus Mangel an Alternativen lieber zu Hause. Möglicherweise aber auch aus einer generellen Ablehnung des Parteienstaats heraus oder aus noch anderen Gründen.
Es gaben demnach zahlenmäßig weniger Wahlberechtigre ihre Stimmen ab, als vorwiegend junge männliche muslimische Migranten ab 2015 im Rahmen der Massenzuwanderung zu uns gekommen sind. Aber sind diese Neubürger tatsächlich der Grund dafür, warum die AfD auch in Thüringen die Partei mit dem mit Abstand größten Stimmenzuwachs wurde, wenn gegen 24 Prozent der Wählenden der Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Björn Höcke ihre Stimme gaben, was in etwa der Bevölkerungzahl der Stadt Braunschweig entspricht?
Wahlsieger wurde die Linkspartei des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, damit verwiesen die beiden Ostparteien (die Linke hier deutlich östlicher als die AfD) die Westparteien auf die Plätze.
Der Abend beginnt traurig, wenn die auf Bundesebene so schlappe Linke zwar Wahlgewinner in Thüringen geworden ist mit rund 30 Prozent der Wählerstimmen, wenn sie aber mit Sahra Wagenknecht eigentlich die aktuell größte Verliererin der Linkspartei vor die Kameras schickt.
Mit dabei ist auch der Ministerpräsident des Nachbarlandes Sachsen-Anhalt, der öfter in Talksshows unterwegs scheint als in seinem Bundesland, aber was will er bei Will? Ach ja: Dreißig Jahre Mauerfall waren ja auch noch Thema. Weil nun Höcke nicht darf oder will bei Will, darf der stellvertretende Bundessprecher der AfD, darf Georg Pazderski als Berliner Fraktionsvorsitzender sein imaginäres Deutschlandfähnchen auf die Sessellehne legen.
Die weiteren Gäste mögen irgendwo anders wichtig sein, leider nicht an diesem Abend bei Anne Will: die Dresdner Schriftstellerin Ines Geipel und mit Oliver Decker als Anstandswauwau und Wadenbeißer gegen die AfD ein Soziologe, der sich in den letzten Jahren vor allem mit einer Reihe von „Mitte-Studien zur rechtsextremen Einstellung in Deutschland“ im Auftrag der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung einen Namen gemacht hat. Ach ja, Cornelius Pollmer darf auch noch beisitzen, der Journalist der Süddeutschen ist so was wie der Ostexperte der Zeitung, na dann soll er doch mal den Ossi erklären.
Und tatsächlich wird zunächst verhandelt, ob denn nun die CDU mit der Linken koalieren könnte. Das war schon im Vorhinein zu beobachten, als auffällig oft erwähnt wurde, wie eigentlich wenig links dieser Bodo Ramelow sei, wohl, damit es dem Bürger weniger schwer falle, diese Kungeleien zu übersehen. Die AfD wird es freuen, denn die Akzeptanz für die Linke von heute ist die für die AfD von morgen. Die Assimilation des Parteienstaats griff vor der Jahrtausendwende bei den Grünen, greift jetzt bei den Linken und auch nach der AfD aus, trotz Faschismusstempel, trotz Höcke und Co.
Wagenknecht stellt einmal klar, was es für ein Quatsch sei, wenn davon die Rede ist, die bürgerliche Mitte hätte keine Mehrheit mehr, wenn doch eben diese bürgerliche Mehrheit gerade Bodo Ramelow gewählt hat.
„Wenn die CDU und die Linkspartei zusammengingen, (…) ist das ja die handlungsfähigste, die stabilste Regierungsmöglichkeit.“, sagt allen Ernstes Anne Will, ohne darüber laut lachen zu müssen. Die Bürger hätten sich durch die Wahl der AfD und der Linken selber aus der Demokratie herausgeschoben, benennt Geipel ihre Wahrnehmung rund um die Wahl in Thüringen. Der AfD-Spitzenmann aus Berlin lächelt solche Anwürfe locker weg, an so einem erfolgreichen Tag geht das natürlich noch einmal besser.
Oliver Decker spricht von einer nachlassenden Wählerbindung an die Parteien, das hätte auch Bodo Ramelow so gesagt – aber wovon spricht der Mann? Die Wählerbindung ist doch gerade im Osten besonders stark und weniger flatterhaft als im Westen, jedenfalls wenn es darum geht, zu fragen, ob die Linke und die AfD etwa noch Protestparteien seien. Und dann kommt Decker mit der alten Mär von der Personenwahl, wo man doch zu Thüringen auch sagen könnte, die AfD wurde nicht wegen, sondern sogar trotz Höcke von so vielen Wählern gewählt.
Auch bei Decker geht es also darum, den linken Ramelow als Person der Union schmackhaft zu machen und nicht die Linke selbst. Der Wissenschaftler dient sich den Etablierten an – mit relativem Unsinn bezogen auf die Thüringenwahl – am Ende hört aber keiner mehr zu.
Anne Will versteht nicht einmal genau, was Decker will oder Decker will nicht, was Will will. Um Gotteswillen wie doof. Mehr als die Hälfte der Sendezeit ist rum, aber der Mann der AfD kam noch nicht zu Wort. Immerhin das schafft Decker: Die Redezeit der anderen verbrennen.
Dann darf Georg Pazderski aber doch und bestätigt zunächst einmal die Übereinstimmung von Ziel und Wirklichkeit: es gibt in Thüringen keine rot-rot-grüne Mehrheit mehr. „Offensichtlich hat Rot-rot-grün nicht geliefert und ist deshalb auch abgewählt worden.“ Die AfD kann in Person Pazderski also auch nüchtern.
Aber was gibt es an so einem Thema eigentlich zu grinsen? Eine öffentlich-rechtliche Bühne für Selbstdarsteller. Ja, es ist Sonntagabend in Deutschland. Sogar die Uhr wurde extra zurückgestellt. Und, man glaubt es kaum, die Lindenstraße nicht gesendet.
Zur Schriftstellerin aus Dresden sagt Pazderski: „Sie sehen die Demokratie vollkommen wegschwimmen, ich kann ihnen sagen, die AfD ist das größte Demokratieprojekt der letzten Jahre.“
Eingeblendet werden Bewegungen der Nichtwähler in Thüringen: 77.000 gingen zur AfD, 47.000 zur Linken und nur 31.000 zur CDU. Alle anderen teilnehmenden Parteien werden nicht einmal aufgeführt.
Bemerkenswert am Rande: Die Rede von der „Transformation“ der Gesellschaft ist im Sprachschatz des Ministerpräsidenten angekommen, wo im Umfeld der Wahlsendungen Katrin Göring-Eckardt diese Vokabel benutzt hatte und noch der Eindruck hätte entstehen können, so was ginge nur der Grünen locker runter, Reiner Haseloff kann das auch: Wenn der Bund nicht hilft, „dann sind wir geschwächt, bezüglich dessen, was wir an Transformation machen müssen.“ Müssen aber nicht wollen? Die Union kann mit den Grünen, kann mit den Linken, aber noch nicht mit der AfD. Früher konnte sie jahrzehntelang nur mit der SPD. Der Filzteppich von damals ist heute allerdings mangels Wählermasse ziemlich fadenscheinig geworden.
Früher einmal wäre so ein Satz wie der von Sahra Wagenknecht hoch aufmerksamkeitsstark gewesen, heute kräht kein Hahn mehr nach Dauerlippenbekenntnissen wie diesen:
„Das Grundproblem ist doch, dass sich Deutschland in den letzten Jahren auf eine Weise verändert hat und in eine Richtung verändert hat, die viele Menschen aus gutem Grund nicht wollen.“
Viele Menschen wollen so etwas parteiübergreifend nicht mehr hören, wenn sie die Erfahrung gemacht haben, dass anschließend wieder nichts passiert. Sahra Wagenknecht, die schon vor der Zuwanderungskrise lagerübergreifend Zustimmung fand, hat heute keine relevante Stimme mehr, weil auch Wagenknecht ihren Worten keine konkreten Handlungsaufforderungen folgen ließ und sich stattdessen ein gutes stückweit aus der Politik zurückgezogen hat. So erquickend das früher mal war, es gibt sicher deutlich wichtigere Gäste als eine Ex-Linke, die noch bei den Linken ist. Für linke Nostalgie sind die Zeiten zu Ernst.
Und kurz vor Schluss passiert Anne Will wieder so ein blödes Malheur, als sie ihre starre Maske fallen lässt, als sich der AfD-Politiker einmal mehr genötigt sieht, die demokratischen Grundsätze seiner Partei zu erklären, entfährt es der Moderatorin: „Die nächste Wahl, der nächste Trick: Sie versuchen ihre Partei zu einer bürgerlichen zu machen.“ Man könnte hier auch attestieren: Und alle andere versuchen das mit Klauen und Zähnen zu verhindern und sind doch am Ende die Koalitionspartner in spe, siehe Grüne und Linkspartei.
Weil sich Pazderski nun aber erwehren kann, setzt Will nach, man dürfe Höcke ja eine Faschisten nennen. Will verheddert sich an einer gerichtlich erlaubten Meinungsäußerung und will diese als allgemeingültige Wahrheit anbieten. Demnach allerdings wären auch wirklich üble Beschimpfungen gegen Renate Künast allgemeingültige Wahrheiten, weil diese ebenfalls von einem Gericht als erlaubte Äußerungen eingestuft wurden.
Und dann kommt endlich der Einspieler, kommt der Höckefilm wie erwartet mit dem entlarvenden Satz von Anne Will anmoderiert: „Heute machen wir das mal geplant, der stand schließlich in Thüringen zur Wahl.“
„Die AfD, wie ich sie kennengelernt habe, ist zutiefst bürgerlich …“ Eine grinsende Anne Will faucht dazwischen: „Nein, das ist sie nicht Herr Pazderski.“ Wenn man sich als Moderatorin schon zum Erfüllungsgehilfen macht, dann doch bitteschön so, dass man sich als Zuschauer von der Plumpheit der Vorgehensweise nicht beleidigt fühlen muss.
Eine erneut herausragend gescheiterte Sonntagabend-Talk-Sendung der Öffentlich-Rechtlichen.