Tichys Einblick
Gut gemeint ist nicht gut gemacht

Der Fluch des Guten – wenn der fromme Wunsch regiert

Der Menschheit geht es besser denn je. Doch der Wohlstand hat uns träg gemacht. Statt echte Probleme zu lösen, verschwenden wir unsere Energie mit Wohlfühl-Aktivismus. Die größten Dummheiten werden heute im Namen der guten Sache begangen.

Sophie Büsser ist der Prototyp der modernen Frau. Sie verfügt über eine höhere Bildung, sieht sich als Weltbürgerin und arbeitet Teilzeit. Büsser achtet beim Einkauf auf Labels wie «Bio», «Fairtrade» oder «Gentechfrei»; für atomfreien «Ökostrom» zahlt sie gerne einen Aufpreis, den Fleischkonsum hat sie auf ein Minimum reduziert (auch gut für die Linie). Parteipolitisch legt sie sich nicht fest, sie wählt aber tendenziell grün und unterschreibt auch mal eine Petition gegen Mobilfunk-Antennen oder gegen die Massentierhaltung. Am Frauenstreiktag fuhr sie zwar zur Arbeit, doch sie saß nicht vor ihrem Laptop, sondern nahm an einem Workshop zur Gleichstellung teil. So spielt sie virtuos auf der Klaviatur des Guten.

Eichmaß für das Moderne, das Richtige

Nicht alles ist öko-grün in Büssers Leben. Auf ihren durstigen Offroader zum Beispiel mag sie nicht verzichten, eine Sünde, wie sie offen eingesteht, zumal es auch ein kleineres Auto tun würde. Aber bei Schneefall oder beim Einkauf ist sie halt doch froh um das geräumige SUV. Dafür hat man nach dem Diesel-Skandal einen Benziner angeschafft und als Zweitwagen einen Tesla, mit dem ihr Mann nun nach Möglichkeit zur Arbeit fährt. Auch auf den Winterurlaub am Meer – heuer auf den Malediven; ja, sie weiß: schlecht fürs Klima – wollte man nicht verzichten. Doch die Meilen sind kompensiert, via Myclimate. Sophie Büsser tut ja sonst schon so vieles für eine bessere Welt, sie wäre auch bereit, mehr zu zahlen. Aber dann sollen bitte alle zahlen.

Bitte nicht wie die Grünen
258 PS, Diesel und die Kunst des Reispflanzens
Und wenn wir schon Tacheles reden: Sophie Büsser sieht sich zwar als emanzipierte Frau, doch für das Familieneinkommen kommt primär ihr Mann auf. Nichtsdestotrotz fällt sie 80 Prozent der Kaufentscheide, womit die Familie Büsser im statistischen Schnitt liegt. Ihren Nachwuchs schickt sie auf eine Privatschule, und ja, sie will es nicht leugnen, der Grund sind die vielen fremdsprachigen Kinder an den Volksschulen. Sophie Büsser hat nichts gegen Ausländer, im Gegenteil. Als sie die Bilder von den fürchterlichen Tragödien auf dem Mittelmeer sah, spendete sie für die Seenotretter von Sea-Watch. Trump, Orbán, Salvini und Konsorten findet sie widerlich. Aber das ändert nichts daran, dass das Niveau an den öffentlichen Schulen mit den schlechtintegrierten Migranten gesunken ist. Damit, findet sie, soll aber gefälligst der Staat zu Rande kommen, schließlich zahlt sie Steuern. Sie fände es verantwortungslos gegenüber ihren eigenen Kindern, wenn sie diesen nicht die beste Bildung angedeihen lassen würde, wo sie es sich doch leisten kann.

Objektiv betrachtet lebt die Kunstfigur Sophie Büsser über dem statistischen Schnitt. Nicht alle können sich ihr Luxusleben leisten. Doch für jene, die das Sagen haben im Land und die Trends setzen – in der Verwaltung, in den Medien, in der Politik, in Kunst und Unterhaltung, in den Wissenschaften und, nicht zu vergessen, in der Werbung –, ist sie die gefühlte Musterfrau. Die imaginäre Sophie Büsser steht für den herrschenden Zeitgeist. Sophie Büsser ist der soziale Benchmark, das Eichmaß für das Moderne, das Gute und das Richtige.

Doch ist Sophie Büsser tatsächlich ein Vorbild? Schauen wir ihren Lebenswandel etwas genauer an, tun sich Abgründe auf: viele nette Vorsätze, keine greifbaren Resultate. Ihr Verhalten steckt voller Widersprüche. Alles, was sie für gut hält, hat Schattenseiten. Sie leugnet diese nicht einmal, aber es spielt für sie keine Rolle. Das Ergebnis kümmert sie nicht wirklich. Es reicht ihr vollauf, wenn es sich gut anfühlt. Ich nenne es den «Fluch des Guten».

Jede Epoche hat ihren Fluch. Es gab Zeiten, in denen fürchterliche Kriege, Plagen und Tyranneien ganze Völker ins Elend trieben. Das alles gibt es heute noch, doch in viel geringerem Maß. Der Menschheit geht es so gut wie nie zuvor, auch in vielen der sogenannten Entwicklungsländer. Noch nie hatten so viele Menschen Zugang zu Bildung und Wissen, dem kostbarsten Gut überhaupt. Doch statt die Chance zu nutzen, um die letzten Geißeln zu überwinden, stehen wir uns selber im Weg.

Vielen ist der Wohlstand längst zur Last geworden. Wir wissen gar nicht mehr, was wir mit all dem Tand anfangen sollen, beginnen seltsame Dinge zu tun. Es gibt Desperados, die sich mit Wingsuits, Surfbrettern oder Zweirädern aller Art ohne Not in die Todeszone stürzen, um etwas Adrenalin zu tanken. Weniger Wagemutige suchen den ultimativen Kick mit Drogen, andere fasten sich krank oder suhlen sich in ihren Phobien und Depressionen.

Urteil: ungerecht
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All diese individuellen Abenteuer und Spinnereien muten allerdings geradezu harmlos an, wenn man sie an den sozialen und politischen Experimenten misst, in die sich der industrialisierte Westen in den letzten Jahren gestürzt hat. Bei der Energieversorgung, in der Wirtschaft, aber auch etwa im Justizwesen sind tektonische Verschiebungen im Gange, deren Auswirkungen wir kaum erahnen können. Alles, was den Menschen über Jahrhunderte Sicherheit gewährte, steht zur Disposition: die Familie, die Nation, die Grenzen, die Armee, der Schutz des Eigentums, die Tradition, der Respekt gegenüber den Altvordern. Viele nehmen diese einst ehernen Werte nur noch als Altlast wahr. Weniger klar ist, woran wir uns stattdessen orientieren sollen. Hauptsache, es fühlt sich gut an.

Im Prinzip sind wir uns alle einig: Kriege sind schlecht, Umweltschutz ist gut; Armut, Gewalt, Rassismus und Diskriminierung sind inakzeptabel; die Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Doch das alles ist banal. Die Frage lautet nicht, ob wir diese Herausforderungen meistern wollen, sondern wie wir das bewerkstelligen. Denn was in der Theorie gutgemeint sein mag, in der Praxis jedoch nicht umgesetzt werden kann, wird schnell zum Teil des Problems und erschwert die Lösung.

Man könnte es auch Dekadenz nennen: Im Überfluss ist uns der Instinkt für das Wünschenswerte und das Lebensnotwendige abhandengekommen. Würde man etwa, so wie es Sophie Büsser vorschwebt, weltweit alle Pestizide verbieten und «Bio» zur Norm erklären, könnte nur noch ein Bruchteil der Nahrungsmittel produziert werden. Seuchen und Hungersnöte wären die absehbare Folge. Zwar ließe sich dank der Gentechnologie resistentes und ergiebigeres Saatgut herstellen, doch das lehnt Sophie Büsser ab. Es kümmert sie auch nicht, dass ihr teurer Alternativstrom nur fließt, wenn gerade die Sonne scheint oder der Wind bläst, was selten der Fall ist. Da sie gegen die Atomenergie ist, die eine fast unschlagbare CO2-Bilanz aufweist, wird aus ihrer Steckdose künftig noch mehr fossiler Strom fließen. Dabei hat sie ihr Kohlenstoffdioxid Budget bereits mit dem Umstieg von Diesel auf Benzin erhöht, und mit ihrem Tesla müsste sie sehr weit fahren, bis dieser eine positive Ökobilanz ausweist.

Ist das Gute universal?

Doch darüber zerbricht sich Sophie Büsser nicht den Kopf. Wozu auch. Sie lebt in einer Welt, in der alles verfügbar und machbar ist. Der Strom kommt aus der Steckdose, das Geld aus dem Geldautomaten, die Milch aus dem Supermarkt, im Notfall ist die Rettung zur Stelle. Etwas anderes kann und will sie sich gar nicht vorstellen. Und wenn es mal irgendwo knapp werden sollte, dass weiß sie tief in ihrem Innern genau, werden andere darben. Sie selber wird es zuletzt treffen. Das Gefühl, etwas Gutes zu tun, ist für sie nicht mehr als das humanistische Mäntelchen, hinter dem sich grenzenloser Egoismus versteckt. Es verschafft ihr eine Aura der moralischen Überlegenheit, an der jeder Zweifel zerschellt.

Seit Urzeiten ringen die Philosophen – von Konfuzius und Sokrates über Kant bis Nietzsche – um eine Definition des Guten. Die Auslegungen könnten widersprüchlicher kaum sein. Ist das Gute universal und von Gott bestimmt – oder handelt es sich vielmehr um eine kollektiv gefühlte, einem ständigen Wandel unterworfene Norm? Streben wir danach, weil wir es für gut halten – oder halten wir es für gut, weil wir danach streben? Gibt es eine «natürliche Gutheit» (bonté naturelle), wie sie Rousseau postulierte, die durch Erziehung verdorben wird? In den Augen des chinesischen Denkers Xunzi (3. Jh. v. Chr.) ist es genau umgekehrt: Die angeborene, von Gier und Neid geprägte Natur des Menschen ist schlecht und muss zivilisatorisch überwunden werden.

Auswanderung als gefährliche Grundeinstellung
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Die «Flüchtlingsfrage» ist eine Art Lackmustest für Gut und Böse. US-Präsident Donald Trump ist die Ikone der Hardliner, Bundeskanzlerin Angela Merkel die der Softies. Die Bösen sind immer die andern. Die Moral ist gleichsam die Giftwaffe in diesem Glaubenskrieg. Die Hardliner machen die Softies für jedes Delikt verantwortlich – für jede Vergewaltigung und jeden Mord –, das einem Zuwanderer zugeschrieben wird. Das Moralin-Gas der Softies sind die Menschenrechte. Wer vor Überfremdung, Unvereinbarkeit islamischer und westlicher Grundwerte und explodierenden Sozialausgaben warnt, wird als Rechtspopulist oder, immer beliebt, als Nazi disqualifiziert.
Alternativlose Forderungen

Beides ist natürlich Unsinn. Zuwanderung ist grundsätzlich weder gut noch schlecht. Sie kann Menschen verschiedener Herkunft zusammenbringen, längerfristig aber zu Segregation, Hass und Terror führen, wie uns die Geschichte lehrt. Es ist eine Frage des Maßes. Nationalismus ist schlecht, wenn er zur Rechtfertigung von Aggression und Unterdrückung dient; Nationalismus ist gut, wenn er den Menschen eine Heimat, Geborgenheit und Sicherheit gewährt. Das Asylrecht schützt Opfer politischer Willkür, aber ebenso Betrüger und Kriminelle. Wer Flüchtlinge aufnimmt, unterstützt Menschen in Not, vielleicht aber auch einen skrupellosen Tyrannen, der die Vertreibung seiner Untertanen gezielt als Waffe einsetzt. Seenotrettung ist eine humanitäre Pflicht, kann aber unter Umständen noch mehr Menschen in die Todesfalle locken. Die Sozialhilfe ist ein Segen in der Not, sie wird zum Laster, wenn sie Abhängigkeiten schafft. Steuern sind sinnvoll, soweit sie dem Gemeinwohl dienen; sie können aber auch schädlich sein, wenn sie die Fleißigen bestrafen und asoziales Verhalten belohnen. Die Liste ließe sich fortführen.

Solche Widersprüche lassen sich nie in einem endgültigen Ideal auflösen. Es ist ein immerwährendes Ringen um das geringere Übel. In einer aufgeklärten Gesellschaft wird in einer offenen Debatte um einen einstweiligen Kompromiss gefeilscht, der so lange gültig ist, bis sich ein besserer aufdrängt. Doch diese Dialektik, die wohl größte Errungenschaft der Aufklärung, ist schon lange nicht mehr selbstverständlich. Die angesagten Opinionleader unterbreiten keine Vorschläge, sie stellen alternativlose Forderungen; sie setzen nicht auf das bessere Argument, sondern beanspruchen die absolute Moral; wer ihnen widerspricht, wird zum Agenten des Bösen gestempelt.

Es gibt heute kaum noch eine Oscar-Zeremonie ohne politische Manifeste. Wenn Popsänger gegen das Elend in Afrika anschreien, Tennis- Cracks für den Regenwald schwitzen, böse Buben fürs Klima und gegen den Rassismus rappen, ausgehungerte Models gegen Sexismus über den Laufsteg trippeln, Millionäre an Charity-Dinners Schecks für die Orang-Utans zeichnen, dann ist jeder Widerspruch zwecklos. Doch je lauter die Predigt, je einfältiger der Jubel, desto mehr Skepsis ist angezeigt.

In aller Regel sind die von PR-Beratern geplanten Aktionen alles andere als selbstlos. Sie sind vorweg ein billiges Mittel der Imagepflege, ein moralischer Zuckerguss, der dem Vergnügen eine höhere Weihe verschaffen soll. Nur verbietet der gute Zweck jede Kritik. Wer nicht im Chor mitsingt, setzt sich automatisch dem Vorwurf aus, das Böse zu rechtfertigen. Wer billigt es schon, wenn Menschen ausgebeutet, Naturreservate verschandelt oder Tierarten ausgerottet werden. Doch die Immunität des Guten ist eine Falle. In der kollektiven Beschwörung werden in aller Regel Vorurteile bewirtschaftet und zementiert. Eine Packungsbeilage über Gefahren und Nebenwirkungen fehlt.

Ist es wirklich klug, wenn die Friedfertigen abrüsten – oder provozieren sie nicht gerade damit den nächsten Krieg? Werden die Despoten wirklich besser, wenn die Demokraten mit dem guten Beispiel vorangehen? Nützt es der Umwelt, wenn wir auf Nuklear-, Nano- oder Gentechnologie verzichten? Geht es den Armen wirklich besser, wenn wir die Reichen mit Verachtung strafen und ihnen möglichst viel wegnehmen? Sind die Industrieländer wirklich schuld am Elend in den Entwicklungsländern, weil in grauer Vorzeit die Urahnen der einen die Urahnen der andern ausgebeutet haben? Gibt es so etwas wie eine kollektive Erbschuld? Kann es sein, dass die Entwicklungshilfe so selten konkrete Erfolge vorweisen kann, weil es diese Erfolge nicht gibt?

Uns steht heute mehr Wissen zur Verfügung als je zuvor. Es gibt, zumindest im Abendland, keine Gottkönige oder Zentralkomitees mehr, welche die alleinseligmachende Wahrheit verkünden. Doch was nach großer Freiheit und Vielfalt klingt, ist vielen zur Last geworden. Es ist mühsam, in der Informationsflut die Übersicht zu bewahren. In diesem Chaos sind neue Heilslehren mit impliziten Denkverboten und Tabus entstanden, die den Menschen Orientierung versprechen. Wer sich nicht an die angesagten Dogmen hält, muss sich warm anziehen.

Ver(bl)ödete Sprache, ver(bl)ödetes Denken
Die Deutschen sind wieder ein Volk von Flüsterern
Wer es etwa wagt, die Prophezeiungen des Weltklimarates in Frage zu stellen, macht nicht von seinem Recht auf Rede- und Forschungsfreiheit Gebrauch, nein, er ist ein niederträchtiger Leugner. Wer vor #MeToo warnt und auf den Prinzipien des fairen Strafprozesses beharrt, wird als Komplize von Kinderschändern und Vergewaltigern bespuckt. Wer den Segen von Multikulti bezweifelt, gehört an den Rassistenpranger gestellt. Wer Geschlechter-, Rassen- oder Altersquoten ablehnt, wird als ewiggestriger Chauvinist beschimpft. Wer die Abtreibung als Tötung menschlichen Lebens ablehnt, wird als religiöser Fanatiker ausgesondert. Wer den freien Waffenbesitz verteidigt, gehört in die Terroristenecke. Wer die Erziehung der Kinder primär als Sache der Eltern betrachtet und sich gegen die staatliche Bevormundung ausspricht, dem fehlt das soziale Gewissen. Und wehe, einer meldet Bedenken gegen die Schwulen-Adoption an – er muss ein homophober Misanthrop sein.

Gerade bei den drängendsten Fragen unserer Zeit – das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, Migration, Umweltschutz, soziales Gefälle, Bildung, Arbeitsfrieden – geben Moralwächter mit erhobenem Zeigefinger den Ton an. Die modernen Inquisitoren brauchen keine Daumenschrauben und Scheiterhaufen mehr. Ihre Methoden sind sanfter, aber nicht minder effizient. Wer den angesagten Meinungen widerspricht, wird niedergeschrien, mit Hohn und Verunglimpfungen zum Schweigen gebracht. Letztlich sind es die altbekannten Mittel des Mobs: Ein schwer fassbares Kollektiv, angeführt von ein paar Leithammeln – Influencer, wie man sie mitunter nennt –, gibt den Ton an. Wer nicht mit der Meute heult, landet in der sozialen Quarantäne.

Schwer fassbar sind auch die geistigen Grundlagen dieses Kollektivs. Die heiligen Schriften, einst das Maß aller Dinge, wurden durch einen postmodernen Mix aus Versatz stücken aller möglichen Lehren ersetzt. Etwas Buddhismus und Dalai Lama machen sich immer gut; dazu ein Schuss Marx im Che-Guevara-Look; Rousseaus Theorie von der unverdorbenen Natur hat eine unverhoffte Renaissance erlebt; stets beliebt sind sodann angebliche Weisheiten von Indianern und anderen Urvölkern, die man zur Not auch mal selber erfinden kann. Das alles klingt zwar nach Flower-Power. Doch wenn es dann zur Sache geht, ist der Vorrat an Love & Peace schnell aufgebraucht. Die neuen Weltverbesserer können sehr intolerant reagieren, wenn man ihre schwabbeligen Thesen in Frage stellt.

Ausgesetzte Unschuldsvermutung

Diese Einfältigkeit hat viel mit Bequemlichkeit zu tun, welche über die soziale und politische Konformität hinausgeht. Wer das Diktat des Guten in Frage stellt, findet sich oft in einem delikaten Konflikt. Wenn man selber in der warmen Stube sitzt, ist die Frage, ob ein angeblicher Flüchtling tatsächlich an Leib und Leben bedroht ist, höchst unangenehm. Man möchte ja kein Unmensch sein, und schließlich ist es doch verständlich, dass Menschen ihre Lebensbedingungen verbessern wollen. Also weichen wir der Sache aus, ignorieren oder beschönigen, was nicht ins Bild passt.

Linksextremismus – die unterschätzte Gefahr
„Beängstigend, dass der Staat vor Extremisten kapituliert“
Stimmt es wirklich, dass die Eisbären aussterben, die Erde verdorrt und die Wälder verschwinden? Es gibt ernstzunehmende Erhebungen, die das Gegenteil nahelegen. Vielleicht ist es nicht so dramatisch, rechtfertigen wir uns, aber es schadet ja nicht, wenn sich die Leute um die Umwelt sorgen. Mit dem guten Zweck erteilen wir uns die Absolution für die Lüge gleich selber.

Ist der Filmproduzent, der gerade mit unüberprüfbaren Verdächtigungen sozial und wirtschaftlich gelyncht wird, wirklich ein sexbesessener Unhold? Warum haben sich die angeblichen Opfer, die nun plötzlich scharenweise auftauchen, nicht schon viel früher gemeldet? – Um die Unschuldsvermutung sollen sich die Juristen kümmern, beruhigen wir uns. Es gilt ein Zeichen zu setzen! Auch wenn wir damit vor allem auf uns selber zeigen: Wie gut wir doch selber sind!

Es ist mühsam und verfänglich, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ist. Viel einfacher, aber auch unverbindlicher ist es, uns an dem zu orientieren, was sein sollte. Der Wohlstand hat uns träge und egoistisch gemacht. Im Überfluss ist uns das Bewusstsein für die reale Welt abhandengekommen. Wir können es uns leisten. Dass etwas gutgemeint ist, reicht uns völlig aus. Es beruhigt unser Gewissen.

Vor hundert Jahren warnte der deutsche Soziologe und Ökonom Max Weber davor, die gute Absicht zum Maß aller Dinge machen. Der Erste Weltkrieg, der das zerstörerische Potenzial der modernen Zivilisation erstmals richtig fassbar gemacht hatte, war eben zu Ende gegangen. Die Hoffnungen auf eine gerechtere und friedliche Weltordnung waren überwältigend. Statt auf dem Schlachtfeld sollten die Differenzen zwischen den Nationen im neugegründeten Völkerbund gütlich bereinigt werden. Die Demokraten rüsteten ab. Die Diktatoren beeindruckte das wenig, im Gegenteil, es spornte sie erst recht an. Das Resultat kennen wir heute. Weber sah es schon damals kommen.

Weber prägte den Begriff des Gesinnungsethikers. Für den Gesinnungsethiker zählt, wie die Dinge sein sollten. Wie sie wirklich sind, erscheint ihm zweitrangig. Die gutgemeinte Handlung wird damit zum Selbstzweck, deren Folgen rücken in den Hintergrund. Gleichsam als Alternative zur Gesinnungsethik postulierte Weber die Verantwortungsethik. Diese orientiert sich primär an den messbaren, konkreten Folgen einer Handlung. Der Verantwortungsethiker ist ein Pragmatiker. Er versucht die Dinge zu begreifen, wie sie sind, bevor er sich fragt, wie sie sein sollten, er hält sich im Zweifel an das Bewährte. Er hat sich damit abgefunden, dass wir in aller Regel nicht die Wahl haben zwischen gut und schlecht, sondern zwischen dem größeren und dem geringeren Übel.

Der neue Klassenkampf
Wie der Wahnsinn der Massen unsere Gesellschaft zerstört
Gesinnungsethiker haben einen medialen Vorteil. Ihre Botschaft ist simpel und lässt sich auf eine knackige Schlagzeile verkürzen. Wer will schon einem feurigen Idealisten widersprechen, der die Vernichtung aller Waffen postuliert (hier und jetzt!); für Windräder und Solarpanels plädiert anstelle von unheimlichen Atomkraftwerken (nur eine Frage des Willens!); mit anklagender Stimme die Aufnahme von Flüchtlingen fordert (Wir schaffen das!) und mehr Geld für die Dritte Welt (Wir sind so reich, weil sie so arm sind!). Wie schwierig und undankbar ist es dagegen, die komplexen und oft paradoxen Zusammenhänge aufzudröseln, die sich hinter dem Schein des Guten verbergen.

Wer vor der ultimativen Katastrophe warnt, steht immer auf der sicheren Seite. Sollten sich die düsteren Prophezeiungen nicht bewahrheiten, erinnert sich kein Mensch mehr daran, schwappt bereits das nächste Endzeit-Szenario über den Planeten, wird der nächste Teufel gejagt. Nichts ist älter als die News von gestern. Das Waldsterben wurde durch die Klimakatastrophe ersetzt, George Bush durch Donald Trump, Aids durch Ebola, Gaddafi durch Erdogan, die Vogel- durch die Schweinegrippe, der DDT-Krüppel durch das Impfopfer, Marc Rich durch Ivan Glasenberg, die Rothschilds durch Soros.

Dies ist kein Plädoyer gegen die soziale Verantwortung oder gegen den Umweltschutz. Im Gegenteil. Es gibt viele Gründe, auf das Gemeinwohl zu achten und sorgfältig mit unseren Ressourcen umzugehen. Aber den Sozialstaat und den Umweltschutz muss man sich erst leisten können. Wer nichts zu verlieren hat, setzt andere Prioritäten. Eine prosperierende Wirtschaft ist die Basis für alles. Was auf die Dauer nicht rentiert, ist in aller Regel nicht nachhaltig. Die Erfahrung lehrt uns zudem, dass geniale Endlösungen stets einen verborgenen Haken haben. Jede Aktion zieht immer eine Reaktion nach sich. Und vor allem: Der Preis für die gute Sache darf niemals die Unterdrückung kritischer Einwände oder eine Lüge sein.

Die kritische Distanz zum Gutgemeinten entlässt uns keineswegs aus der Verantwortung. Im Gegenteil. Die Fähigkeit des Mitfühlens macht das Tier erst zum Menschen – doch das Mitleiden macht uns nicht automatisch zu besseren Menschen.

Dieser Beitrag von Alex Baur erschien zuerst in DIE WELTWOCHE am 10.10.2019. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

Alex Baur, Der Fluch des Guten. Wenn der fromme Wunsch regiert – eine Schadensbilanz. Münster Verlag, 344 Seiten, 22,- €.


 

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