Zu den Badenweiler Literaturtagen widmete ein Journalist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dem Auftritt des Dresdner Autors Uwe Tellkamp einige Absätze, der, so der FAZ-Chronist „an diesem Abend auf der Bühne törichterweise sagte, vieles an unserer Gegenwart erinnere ihn an die DDR, und seinen Vorwurf von ‚Gesinnungskorridoren‘ im hiesigen Journalismus erneuerte.“
Zu dem Begriff Gesinnungskorridor gibt es im hiesigen Journalismus und darüber hinaus eine Feststellung, die sich monoton wiederholt wie der Anblick von Zimmertüren in einem Korridor: So etwas wie ein Gesinnungskorridor existiert nicht. Wer darauf besteht, ihn gäbe es doch, der gehört zu denjenigen, die der Bundespräsidenten in seinen Reden üblicherweise als „diejenigen“, beziehungsweise „jene“ apostrophiert, als Verbreiter von so genanntem Gedankengut. Bei ‚Gedankengut’ handelt es sich um einen ähnlichen Begriff wie Gefahrengut. Es ist jedenfalls nie gut.
Schlecht ist es für diese Argumentation allerdings, wenn der Gesinnungskorridor, den es bekanntlich nicht gibt, von der Leitung der Frankfurter Buchmesse so eingerichtet wird, dass er tatsächlich aussieht wie ein Korridor. In Frankfurt platzierten die Messeverantwortlichen drei Verlage – Antaios, Manuscriptum, Junge Freiheit – in eine Sackgasse abseits der anderen Messestände in Halle 4.1. Das Ende des roten und der Anfang eines grauen Teppichs markierte so etwas wie eine Grenzübergangsstelle, an der zwei Polizisten und ein Wachmann der Messe aufpassten.
Gegenüber dem Antaios-Stand machte ein Fotograf mehrere Stunden lang Aufnahmen nicht nur vom Standpersonal, sondern auch von den Besuchern, die sich dorthin verirrten. Die Separierung galt selbstverständlich nur für Verlage des rechten Spektrums. Der Buchverlag der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands hatte wie jedes Jahr seinen üblichen, also guten Platz.
Gesinnungskorridor bedeutet, um einmal eine Definition anzubieten, die Kosten für die Äußerung bestimmter Meinungen außerhalb einer bestimmten Bandbreite so weit nach oben zu treiben, dass diejenigen, die sie dann trotzdem noch äußern, nicht mehr zu gleichen Bedingungen an der Debatte teilnehmen. Und andere, denen die Kosten zu hoch erscheinen, sich von vorn herein nicht mehr öffentlich beteiligen. Wer dem Diktum, einen Gesinnungskorridor gäbe es nicht, auch noch hinterherschiebt, jeder könne in dieser Gesellschaft doch alles öffentlich sagen, der stellt sich dümmer, als er vermutlich ist. Dass jeder alles sagen kann, gilt grundsätzlich – also dann, wenn man die Kosten ignoriert – auch in allen Diktaturen. Von Idi Amin stammt das Bonmot: „There is freedom of speech. But I cannot guarantee freedom after speech.“
Zur Dummstellpraxis der Wohlmeinenden gehört es auch, darauf hinzuweisen, es gebe ja tatsächlich Äußerungen, mit denen das öffentliche Klima vergiftet werde, beispielsweise die Leugnung des Holocaust, volksverhetzende Sätze, Rechtfertigung von Gewalt. Sie sind tatsächlich toxisch. Hier zieht das Strafrecht die rote Linie. Übrigens sinken die Zahlen der Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung seit Jahren, die rechtskräftigen Verurteilungen nehmen nur einen marginalen Platz in der Kriminalstatistik ein. Eine scharfe und definierte Line soll aber gerade einen kleinen toxischen Bereich von dem großen Rest trennen.
Das Hervorstechende an den Illiberalen ist, dass sie gerade keine rote Linie ziehen wollen. Gegen Drohungen bis hin zur Gewalt von Links sowieso nicht.
Aber auch gegen ihre Gegner nicht. Ihnen geht es nicht um Moral, sondern um Macht. Und die wächst, je weiter sie den Kreis derjenigen ziehen, die nur noch unter hohen Kosten beziehungsweise gar nicht mehr reden sollen. In diesem praktisch beliebig erweiterbaren Zirkel fand sich in der vergangenen Woche der Volkswirtschaftler und AfD-Mitgründer Bernd Lucke wieder, der, wie ein Mitarbeiter von Außenminister Maas, ein Mann namens Robin Mesarosch, feststellte, er habe im Vorlesungssaal „nichts verloren“. Das sei auch keine rechtliche Frage, denn hier ginge es um die „Ehre der Gesellschaft“. Lucke hat sich längst von der AfD verabschiedet, er steht auf dem Boden der Verfassung, in seinen Vorlesungen befasst er sich mit Makroökonomie. Das führen seine Verteidiger an, die es gut meinen. Sie merken dabei gar nicht, wie sehr sich die Illiberalität „in das beste Deutschland, das wir je hatten“ (Peter Altmaier) hineingefressen hat, wenn sie schon Gründe suchen, weshalb ein Professor an einer Universität Vorlesungen halten darf.
Als nächster Kandidat fand sich der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière innerhalb des Sperrkreises, den Gesellschaftshygieniker wie Mesarosch stetig erweitern. „Aktivisten“ (Die Welt) verhinderten, dass de Maizière am Montag beim „Göttinger Literaturherbst“ aus seinem Buch „Regieren“ lesen konnte.
„Die Polizei hält es für zu gefährlich, wir müssen uns der Gewalt beugen“, erklärte Johannes-Peter Herberhold, Geschäftsführer des Literaturherbstes, gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen. Natürlich müsste er sich nicht beugen. Aber er erleichtert sich das Alltagsleben, wenn er es tut. Vielen schiefstehenden Bäumen in windigen Gegenden sieht man an, woher die Brise weht.
Wie im Fall Lucke könnten de Maizières Verteidiger anführen, der Politiker a. D. sei immer ein treuer Gefolgsmann Angela Merkels gewesen, er habe im September 2015 gegen alle juristischen Bedenken eine unkontrollierte Masseneinreise von Migranten möglich gemacht. Die linksradikalen Blockierer in Göttingen würden wahrscheinlich antworten: „Das werfen wir ihm ja auch gar nicht vor.“
Welcher Zustand diesem Milieu am liebsten wäre, das skizzierte die linksradikale Publizistin Sibel Schick schon mal für alle, die glauben, es ginge nur um ein bisschen Ideologiestreit:
Im vergangenen Jahr fanden sich der ehemalige Kulturchef der Zeit Ulrich Greiner und der Zeit-Autor Jens Jessen als bedenkliche Subjekte in einer Broschüre „Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts“ wieder. Vorgestellt wurde die Broschüre von Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei), finanziert wird der herausgebende Verein wiederum vom Land Berlin und dem Bundesfamilienministerium. Unterstützung erfuhr sie auch von der „Bundesbeauftragten für Kultur und Medien“ Monika Grütters. Greiner und Jessen, liberale Autoren aus der Mitte, waren wegen mangelnder linker Gesinnung in das staatsfinanzierte Heftchen geraten. Jessen hatte gewagt, in der Zeit die totalitären Auswüchse der #MeToo-Kampagne zu kritisieren. In der Broschüre ging es nach eigener Definition um „konkrete Tipps zum Umgang mit rechten Veranstaltungsstörungen, öffentlichen Provokationen, Drohungen oder parlamentarischen Anfragen“. Wohlgemerkt: „rechte Veranstaltungsstörungen“. Dazu zählen schon Zwischenrufe einer Handvoll Identitärer in einer Theateraufführung. Sie sind aus Sicht der Broschüren-Autoren und offenbar auch in den Augen des Berliner Senates und der Bundesregierung schlimm, genau so schlimm wie parlamentarische Anfragen, wenn sie von den falschen Politikern kommen.
Veranstaltungsverhinderungen wie in Göttingen gibt es von rechter Seite überhaupt nicht.
Das „gegen rechts“ in der staatlichen Broschüre ist genau so gemeint: es geht ausdrücklich nicht um Rechtsradikalismus, sondern gegen alles, was nicht dezidiert links ist.
Die bewegliche Grenze zu diesem weiten rechten Feld endet im Zweifelsfall erst unmittelbar vor den Schuhspitzen eines Heiko Maas. Im Korridor wird es also eng, wenn der Sperrbezirk schon jenseits des linken SPD-Flügels beziehungsweise von Heribert Prantl beginnt. Diese Zustände sind toxischer als alles, was Björn Höcke hervorbringen könnte, denn sie werden von Regierungen und öffentlichen Institutionen gefördert.
Zum einen wirkt es ridikül, zum anderen spricht es für den Furor der Säuberer, wenn sie schon in drei rechten von insgesamt 7.100 Verlagen in Frankfurt eine „Provokation“ sehen, wie es die staatlich finanzierte Amadeu-Antonio-Stiftung tut. Oder wenn ein Maas-Mitarbeiter schon die Anwesenheit eines nichtlinken Professors an einer Universität für einen Anschlag auf das hält, was er „gesellschaftliche Ehre“ nennt.
Die Zukunft des Meinungskorridors ist ziemlich klar: Er wird demnächst wegen Überfüllung der Sperrgebiete von außen eingedrückt.
Vielleicht hilft es, bis dahin einfach die Perspektive umzukehren: Noch nie war es so einfach wie in der Spätmerkelzeit von 2019, Regierungsvertreter, von ihnen abhängige Leute und gute Journalisten zu provozieren.
Ein liberales Wort – und Sie sind Aktivist.