Ich hatte kein Kettcar. Die reichen Kinder in den Einfamilienhäusern zwei Straßen weiter, die hatten Kettcars, und am Wochenende fuhren sie bei uns auf dem Spielplatz vorbei. Wir beneideten sie, und wenn sie sich ausreichend beneidet fühlten, dann fuhren sie weiter, damit andere Kinder die Gelegenheit bekamen, sie zu beneiden.
Wie würde man ein Kettcar beschreiben für einen, der nie eines gesehen hat? Vielleicht so: Ein Kettcar ist ein Mini-Auto aus Stahlrohren, groß etwa wie ein Rasenmäher, und es wird mit den Füßen angetrieben, wie ein Fahrrad. Ein Kettcar ist quasi wie ein Go-Kart, nur dass man statt des Motors selber treten muss. (Es könnte passieren, dass man zurückgefragt wird, was Go-Karts denn sein sollen – oder diese »Rasenmäher«.)
Ich hatte damals ein Skateboard aus Plastik (heute sind die schmalen Plastikskateboards wieder chic, das ist lustig), und später Fahrräder, die mein Vater aus Sperrmüll-Rädern zusammenstellte. (Da, wo wir wohnten, fand man keine Schmuckstücke, wie Rainer Meyer sie zu finden pflegt, es waren halt alles kaputte Drahtesel, und die Schnittmenge dreier kaputte Räder ergab ein ganzes, nur bestimmte Ersatzteile wie das Lämpchen, die musste man immer extra kaufen. Fahrräder als Recycling-Bastelsets sind ein Hobby meines Vaters bis heute.)
Als wir endlich genug Geld hatten, damit zumindest wir Kinder neue Fahrräder gekauft bekommen konnten, kamen diese Mountainbikes auf den Markt, und ich bekam ein metallicgrünes Mountainbike vom Allkauf in Hürth. (Aus Allkauf würde später Real, und jetzt hat auch der im Hürth Park dichtgemacht.)
Als wir so weit waren, dass man mir ein echtes Marken-Kettcar hätte kaufen können, war ich längst zu groß dafür, und so blieb mir die Erinnerung an den Wunsch nach einem Kettcar, damals als Kind.
Das Kettcar war ein Stück deutscher Kindheit, selbst wenn man sich keines leisten konnte. Kettcar war die Freiheit, wie ein Erwachsener in einer Art Auto umherfahren zu können, und so »cool« sein zu können. Ins Kettcar passten keine Großen rein. Kettcar war Kinderwelt, Kettcar war Draußenwelt, Kettcar war etwas, wovon man träumte.
Auf dem Insolvenzkarusell
Die Firma Kettler wird hunderte Mitarbeiter »freistellen«, so lesen wir im Oktober 2019 (siehe etwa wdr.de, 14.10.2019). Schon länger kämpft das Unternehmen mit seiner Wirtschaftlichkeit (siehe etwa handelsblatt.com, 2.11.2018). Es ist nicht die erste Insolvenzrunde, doch nach dieser wird es wohl keine Gelegenheit zu einer weiteren geben. – Wir lesen:
Ab Mittwoch (16.10.2019) werden rund 400 Mitarbeiter freigestellt, die Übrigen sollen in den kommenden Wochen und Monaten noch einige Produkte fertigstellen. Auch wenn das Aus für die Kettler-Belegschaft nicht mehr überraschend kam, standen vielen Mitarbeitern Tränen in den Augen. Ein Großteil der Beschäftigten arbeitet seit Jahrzehnten für Kettler. (wdr.de, 14.10.2019)
Schon 2015 hatte Kettler eine Runde auf dem Insolvenzkarusell gedreht, konnte aber wieder erfolgreich abspringen. Dieses Jahr wollte es nochmal fahren, und dieses Mal wird es wohl schiefgehen. Der Investor sprang ab.
Wenn man sich das Angebot auf de.kettler.net anschaut, sieht man eine Kombination aus Kuriositäten (etwa eine Kombination aus Schreibtisch und Laufband, wo man laut Produktfoto in Jackett, Hemd und Lederschuhen schwitzend in die Pedale treten soll), dazu recht schlichten Produkten, die vermutlich billiger in China und anderswo hergestellt werden können, etwa Gartenmöbel, und dort womöglich sogar modischer wirken könnten (siehe alibaba.com), dazu einige Fitnessgeräte, Tischtennisplatten, eine Grill-Serie, irgendwie auch Schreibtische und natürlich das Kettcar. Vielleicht habe ich etwas übersehen, ich finde die Website etwas verwirrend.
Ich habe keinerlei Einblicke in die Firma Kettler, doch wenn ich vom äußeren Auftreten ausgehend spekulieren darf, sieht mein inneres Auge einige weltfremde Bürokraten, die nicht mitbekommen, was sich außerhalb in der realen Welt abspielt.
Das Kettcar kam 1962 auf den Markt, Kettler selbst wurde 1949 gegründet, 70 Jahre später stellt es weitgehend die Produktion ein. Es ist erstaunlich, wie weit man mit aufgemotzten Rohren kommen kann.
Eine alte und fast schon abgedroschene, aber noch immer maximal wichtige und relevante Unternehmerweisheit zitiert den Hockeyspieler Gretzky, wonach man dahin laufen soll, wo der Puck sein wird, nicht dahin, wo er ist. Wenn ich mir das Angebot von Kettler anschaue, habe ich das Gefühl, die Unternehmensleitung weiß nicht mal, wo der Puck gestern war, geschweige denn wo er morgen, in einem Jahr oder in einem Jahrzehnt sein wird.
Aus Rohren, klar
Wenn eine Firma ihre Mitarbeiter »freistellen« muss, dann ist der Schuldige natürlich zuerst in der Chefetage der Firma zu suchen. Die erste Aufgabe eines Unternehmens ist die Bewahrung der eigenen Liquidität, doch um dies langfristig tun zu können, braucht es gewisse weitere Fähigkeiten und Gewohnheiten. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Unternehmensleitung, die Stimmungen und Veränderung der Lebensphilosophie in Markt und Gesellschaft früh zu erkennen und entsprechend Produkte zu entwickeln, welche die Werte und Fähigkeiten der Firma neu zur Anwendung bringen.
Nein, Spielzeuge müssen nicht kompliziert wie Computerspiele sein, um erfolgreich zu sein, siehe Lego – aber es kann helfen, siehe Razor. Fitness-Geräte müssen nicht elektronisch aufgemotzt sein, um sich in ihrer Nische durchzusetzen, siehe Rogue. Was es heute zuerst braucht, ist (neben der hervorragenden Qualität im globalen Vergleich) ein attraktives Narrativ (das gilt für Staatsfunk und Propaganda genauso wie fürs Marketing von Freizeitgeräten). Nike steht für »Gewinnen«, Apple steht für »Kreativität« – wofür stand Kettler? Mir fallen ehrlicherweise nur geschweißte Rohre ein (oder sind sie gelötet? Ich bin da kein Experte) – und natürlich die nostalgische Erinnerung ans Kettcar (aus Rohren, klar), und das tödliche Wort hier ist »nostalgisch«. Meine Tochter bekam noch ein rosafarbenes Bobbycar samt Anhänger, doch auch sie ging danach direkt zum Fahrrad über.
Die Schuld für den Untergang eines Unternehmens hat man zuerst bei deren Leitung zu suchen – und doch darf man fragen, was der Niedergang einer Branche oder Firma über das Land und seine Menschen aussagt.
Was sagt es über ein Land aus, wenn diese oder jene Firma sich »neu aufstellt«, während gewisse Konzerne gedeihen wie Drogenhändler ohne Polizei und Konkurrenz?
Mit Gewissheit ahnend
Nostalgie ist die schmerzende Sehnsucht danach, dass etwas wiederkehren möge, mit Gewissheit ahnend, dass es das nicht tun wird.
Meine Erinnerungen ans Kettcar sind von nostalgischer Natur. Ich erinnere mich schmerzhaft an eine Zeit zurück, als in einem Kettcar zu fahren ein mein großer Traum war.
Kann man sich nach einem Traum zurücksehnen? Nun, ich vermisse ihn durchaus, den Traum von einem Kettcar, doch es ist okay, mit ein paar unerfüllten Träumen zu leben.
Die Firma Kettler ärgert mich. Hunderte von Arbeitsplätzen, Hunderte von Menschen, deren Einkommen von der Firma abhängt, und das beste, was der Chefetage einfällt, sind Gartenmöbel und zusammengesteckte Rohre? (Wenn man nach »Kettcar« bei amazon.de sucht findet man übrigens auch eine Reihe von interessanten Varianten des Tret-Go-Karts, die nicht von Kettler sind. Ich überlege, ob der neunjährige Leo vielleicht Freude hätte an der Batman-Variante – andererseits ist er mit seinem Skateboard sehr glücklich.)
Wir blicken nostalgisch zurück auf die Zeit, als wir von Kettcars träumten. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir einen »dead cat jump« bei Kettcars erleben, dass kurzfristig der Verkauf von Original-Kettcars nach oben schnellt, von Sentimentalität befeuert.
Wenn ich von außen und als Konsument die Firma Kettler betrachte, ärgere ich mich, denn sie wirkt nicht wie eine Ausnahme, sondern wie ein Symptom gesellschaftlicher Entwicklung. Es wird der alte Glanz verwaltet, Freizeitgeräte aus Rohren, und man scheint vergessen zu haben, warum die Menschen einst diese Rohre kauften.
Echtes Vertrauen
Ich hatte kein Kettcar, wenn ich auch im Laufe der Zeit einige andere Produkte von Kettler besaß. Ich hatte aber einst einen tiefen Respekt vor den »guten alten deutschen Firmen«, wie eben Kettler.
Mein genereller Respekt vor bundesdeutschen Eliten geht leider allmählich futschi, und ich trauere ihm definitiv hinterher. Es gibt sie noch, die Klugen und Anständigen, doch sie äußern sich vorsichtig, denn die Fallhöhe ist zu groß. Warum sollte jemand, der hunderte oder tausende Arbeitsplätze geschaffen hat und/oder täglich erhält, sich aburteilen lassen von irgendwelchen öffentlich rechtlichen Haltungskrüppeln mit dem Weitblick einer in die Suppe gefallenen Eintagsfliege?
Bis vor einigen Jahren hatte ich echtes Vertrauen in deutsche Unternehmen wie Kettler, Volkswagen oder natürlich die Deutsche Bank. Nun ja.
Zum Erwachsenwerden gehört die Einsicht, dass die Eltern nicht allmächtig sind. So ähnlich fühlt es sich an, wenn ich heute einsehen muss, dass einige der Unternehmen, zu denen wir damals hinaufblickten, den Anschluss an die Zeit (und manche an die Moral) verloren haben.
Entweder Deutschland erfindet sich schnell und gründlich neu – und räumt das vom GEZ-TV befeuerte Merkel-Chaos wieder auf – oder es sollte ehrlicherweise gleich das Licht ausmachen, so spart es auch CO2.
Meinen Traum vom eigenen Kettcar habe ich aufgegeben. Den Traum von klugen Unternehmern, welche »dorthin fahren, wo der Puck ist«, den will ich noch nicht ganz aufgeben. Es muss doch noch mehr geben als zusammengesteckte Rohre!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.