Als am 30. Juli des Jahres 1588 die spanische Armada vor der englischen Küste auftauchte, war Thomas Hobbes gerade einmal drei Monate alt. Der infantile Geist jenes Säuglings, der sich, vom eigenen Wunderkind-Dasein motiviert, schließlich zu den bedeutendsten Staatsphilosophen der Geschichte einreihen sollte, konnte sicherlich nicht erahnen, was sich in den zum Kriegsplatz mutierten Gewässern Plymouths abspielte. Und dennoch ist die Monstrosität dieser Seeschlacht zwischen Briten und Spaniern in Wahrheit Auftakt zweier Biographien, die nicht ohne die jeweils andere zu denken sind.
Die Abwesenheit von Ordnung
England, auf der einen Seite, durchlebte in Folge der anbrechenden Moderne Krisen über Krisen, stürzte fortwährend in immer neue Verwerfungen der Geschichte, deren Vordermänner in Kirche, Parlament und Königshaus, im Kampf um Macht und Einfluss, das Land beinahe bis zum end-labilen Status der Anarchie verführten. Chaos, Bürgerkrieg – abstrakter: die Abwesenheit von Ordnung – tun sich dabei gleichzeitig als jene diffusen Vektoren hervor, die zeitlebens die Philosophie und den Lebensentwurf Hobbes‘ prägten. Der Denker, der ständig lakonisch zu notieren wusste, er und die Angst seien Zwillinge, ist dabei der glänzendste Sohn einer beginnenden, turbulenten, chaotischen Epoche, deren Subjekte sich im ständigen „Krieg aller gegen alle“ nach nichts mehr als Ordnung sehnten.
Was wir, die Kinder der Gegenwart, derzeit erleben, steht dazu in zum Teil beunruhigender Analogie. In allen Lebensbereichen – und das nicht erst seit der Flüchtlingskrise – spiegelt sich das umgreifende weltpolitische Chaos im Aufstieg des Begriffs „Ordnung“ zum wieder-ersehnten Leitmotiv wider. Wie ist der Ruf nach versuchter „Regulierung“ – und das sicherlich nicht nur im linken Wortsinn –, als 2008 zuerst die Immobilienmärkte, dann die Finanzmärkte und Realwirtschaften und schließlich ganze Staaten konjunkturell zusammenbrachen, sonst zu verstehen, wenn nicht als Ruf zur Ordnung?
In diesem Windschatten versuchte die zwischen Taschenrechnern und Zahlen verloren geglaubte „Ordnungspolitik“ ihr Comeback und erfreute sich eines breiten gesellschaftlich-politischen Nährbodens. Als 2010 und Folgend arabisch-nordafrikanische Revolutionen ganze Regime zum Wackeln brachten, bejubelte man (zurecht?) noch deren chaotischen Freiheitsgeist. Nur wenige Jahre später, im Anblick zerfallender Staaten von Libyen bis Syrien, hinterfragt man resignierend das eigene willkommenskulturelle Beklatschen jener aufkeimenden Anarchie.
Chaos die Regel – Ordnung die Ausnahme
Feierte man die Globalisierung nach der Jahrtausendwende noch rundum als großen, strammen Schritt in Richtung Fortschritt und Futurismus, ist die Ankunft von über eine Millionen Migranten und Flüchtlinge, die die von Intellektuellen behauptete „Verbenachbarschaftung der Welt“ nun sprichwörtlich zu machen versuchen, eher Bedrohung als Heilsarmee. Diese drei Beispiele – oder: „Krisen“, wie wir zu sagen pflegen – sind dabei jedoch nur Symptome unseres Weltalters.
Für Peter Sloterdijk haben all diese Verwerfungen, Umwälzungen, Bedrohungen und Exzesse der politischen, ökonomischen und sozialen Wirklichkeit eine gemeinsame kulturimmanente Ursache: „Im Weltprozess nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung wieder gebunden werden können. Das heißt: Der chronische Überschuss an Mobilisierungen von Aktivitäten und die fortgehende Auslösung tatbewegter Ereignisströme, die sich in objektiven Relikten niederschlagen, treibt das Weltverhältnis und Wirklichkeitserlebnis der Modernen in stetig wachsenden Asymmetrien voran.“ Kurzum, so Sloterdijk, übersteige die massenhafte und unkontrollierbare Anzahl an Nebenwirkungen von Akteuren, Ideen, Technologien und neuen agierenden Subjekten, die Möglichkeit, diese zu beherrschen, um ein Vielfaches. Man beginne zu begreifen, „dass das Chaos die Regel ist, von der die Ordnung die unwahrscheinlichste aller denkbaren Ausnahmen darstellt.“
In diesem Kontext wandelt sich auch das Wesen der Politik in zuerst unscheinbarer, letztendlich aber folgenreicher Art und Weise. Konnte man im 20. Jahrhundert noch behaupten, die Ordnung sei repressiv, eine Art strukturelle Gewalt, und folgerte daraus, man müsse die Politik dazu bewegen, nach eigenen Vorstellungen und Wunschregungen zu „gestalten“, so ist die Politik des anbrechenden 21. Jahrhunderts vornehmlich mit „Kompensation“ im Kielwasser der Dauerkrise beschäftigt.
Politik: von Gestaltung zur Kompensation
Wir erleben nichts geringeres als den Wandel von der Gestaltungs- zur Kompensationspolitik. Gemäß dem Carl Schmitt’schen Mantra, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, ist es die, nur so von „Ausnahmen“ durchsetzte, schwer begreifbare Wirklichkeit selbst, die Entscheidungen mit Konsequenz für Gemeinschaft und Individuum trifft. Das existente Chaos ist der Souverän, wohingegen dem Staat, als Akteur 1. Ordnung, die Rolle des Inkompetenz-Kompensationsinstruments zukommt. Von staatlicher oder gar nationalstaatlicher „Souveränität“ zu sprechen, ist lachhaft obsolet geworden, wie die Politikwissenschaft bereits seit einigen Jahren konstatiert.
Oder um es ganz ungeniert zu formulieren: Der Staat wird dann als legitim und unterstützenswerter Stabilitäsanker betrachtet, wenn er sich als erfolgreicher „Krisenmanager“ hervortut, wobei „Krise“ hier mehr Regel als Ausnahme bedeutet. Regierung und Staat müssen sich das Hamlet’sche Motto zu eigen machen: „The time is out of joint. O cursed spite that ever I was born to set it right.“ („Die Zeit ist aus den Fugen. Verfluchter Hohn, dass ausgerechnet ich geboren wurde, das schiefe Ding zurechtzurücken.“)
Erleben Gesellschaften wie die westlichen, und konkret die deutsche, eine derartige Häufung von chaotischen Kräften, namentlich in ihren medial-erregend-terroristischen, ökonomisch-finanziellen, arbeitsweltlichen, technologischen und globalisiert-migrationsreellen Erscheinungsformen, ist umgreifende Angst und die Sehnsucht nach zumindest einigermaßen stabiler Ordnung, logische Konsequenz.
Den längst kosmopolitischen Eliten in Kultur, Medien, Unternehmen und Politik mag dies fremd erscheinen, sind sie doch längst selbst Subjekte chaotischer Energien geworden, doch an der Grundtendenz ändert dies nichts. Behaupteter, strikt positiver Progressivismus in die, zwar unkontrollierbare, aber irgendwie trotzdem „goldglänzende Zukunft“, ist unglaubwürdig geworden. Kommt noch das offizielle Postulat hinzu, man handle nach „humanitären Imperativen“, könne nicht einmal einigermaßen kompensierende Souveränität versuchen und sei Sklave irgendeines seinsgesetzlich-alternativlosen Fortschritts, verstärken Entfremdung, Angst und Misstrauen. Die Gesellschaften haben verstanden, dass Politik nicht gestalten, nur kompensieren kann, doch sie weigern sich auch den Posten des erfolgreichen „Krisenmanagers“ aufzugeben.
Die „Heile German Welt“, wie der „Economist“ sie kürzlich taufte, ist der Windstufe 8 ausgesetzt: „Sturmalarm“ ist angesagt. Haben zunehmend größere Teile der Bevölkerung das Gefühl, „die Oberen“, die es so freilich nicht gibt, könnten oder wollten gar keine erfolgreichen „Krisenmanager“ mehr sein, gerät die populistische Versuchung an eine Art revolutionäre Wiederherstellung der „alten Ordnung“, der „Heilen Welt“, der „guten alten Zeit“, zu glauben, sehr nahe ans Reihenhaus. Das Abendland wird nicht untergehen, weder wegen Finanzkrisen, Terroranschlägen, Digitalisierung oder einigen Millionen Migranten, doch es ist windiger geworden, chaotischer. Verlieren Regierungen und Volksparteien das Vertrauen ihrer Gesellschaften, ordnungserhaltene Windmauern zu sein, werden sie schneller weggefegt, als ihnen lieb sein kann. Für die Erhaltung der funktionsfähigen Demokratie, ein bedenkliches Unterfangen.
Parallel zu seinem Abitur schreibt Oliver Weber als Autor und freier Journalist über Themen aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Als Schüler steht für ihn der Blick auf die Zukunft der Republik im Zentrum seiner Überlegungen.