In Matthäus 18, Vers 20 sagt Jesus: »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.« – Warum weist Jesus extra darauf hin, dass es von Vorteil sei, in Gemeinschaft zu sein?
Es ist gewiss kein Plädoyer gegen das heimliche Gebet des einzelnen Gläubigen in seiner stillen Kammer; es ist der Hinweis darauf, dass die Gemeinschaft von Gläubigen eine eigene, eine neue Qualität hat.
Jesus war, so das christliche Verständnis, auch selbst ein jüdischer Schriftgelehrter. Der Gedanke ist nicht neu, dass die Gemeinschaft der Gläubigen, vor Gott versammelt, eine eigene Qualität hat. Bereits im Judentum existiert die Regel des Minjan. Damit bestimmte Gebete stattfinden können, müssen sich mindestens zehn Juden zusammenfinden. (Es kann dem Flaneur passieren, dass wenn er an einem ruhigen Tag an einer kleineren Synagoge in einem jüdisch geprägten Stadtteil vorbeigeht – in Europa werden es weniger – er dann freundlich gefragt wird, ob er jüdisch sei: Ohne den »zehnten Mann« kann das anstehende Gebet nicht stattfinden.)
Man muss kein gläubiger Mensch sein – ich selbst bin ja sicher, dass es vorbei ist, wenn es vorbei ist – um mit dem Kopf zu verstehen und mit dem Herz zu fühlen, dass und warum es wichtig ist, als Gemeinschaft eine Harmonie mit dem Weltganzen zu suchen.
Jeder Gottesdienst ist der Versuch sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinschaft, derer Teil der Einzelne ist, mit der »Essenz der Welt« in Harmonie zu gelangen. Wenn Menschen sich zu einem Gottesdienst versammeln (ob gläubig oder nicht), dann suchen sie nach ihrem Platz in der ganz großen »Ordnung der Kreise«. Ein Gottesdienst ist das organisierte Bemühen, eine Ordnung herzustellen zwischen sich, der eigenen Gruppe und der Welt insgesamt.
So kurz nach der Tat
In Halle (Saale) hat ein Täter (eventuell auch mehrere, noch ist die Nachrichtenlage unklar) einen tödlichen Anschlag vor einer Synagoge verübt, wobei er eine Frau vor dem Gotteshaus tötete, wohl auch Sprengsätze legte und den Gast eines Schnellimbisses tötete (bild.de, 9.10.2019). Laut bild.de, 9.10.2019 soll es »Neonazi Stephan B. (27)« (meine Kürzung des Nachnamens) gewesen sein. Ursprünglich versuchte er, in die Synagoge einzudringen. Laut Medienberichten waren zu dem Zeitpunkt etwa 70 bis 80 Betende in der Synagoge versammelt. Yom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag, ein Tag der Versöhnung, des Fastens und der inneren Einkehr, als Einzelner wie auch als Volk vor seinem Schöpfer.
Man muss davon ausgehen, dass es sich um einen antisemitischen Anschlag handelte. Es gibt bewegte Bilder vom Anschlag. Der Täter wirkt wie jemand, der professionell erscheinen will, es aber nicht wirklich ist. Wenige Stunden nach der Tat taucht in den sozialen Medien ein Manifest auf, das vom Täter stammen soll und Bilder seiner mit viel Mühe selbstgebauten, aber eher rustikalen Waffen enthält.
Nein, es war nach den veröffentlichten Bilder kein »Profi« (anders als die erschreckend professionell wirkenden Attentäter von Charlie Hebdo) – eher ein irrer Typ, der – warum auch immer – wie ein Profi aussehen will. Die Polizei geht aktuell von einem Einzeltäter aus.
Bewusst und aktiv
2019 ist kein »normales« Jahr, was auch immer »normal« bedeuten soll – bedeuten kann. Die gesellschaftliche Stimmung kocht hoch. Es wird zum neuen »Normal«, dass Abweichler etwa als »Ratten« bezeichnet werden. Im Bundestag werden die Abzeichen gewalttätiger politischer Schlägertrupps getragen, man bekennt sich (wieder) zur politischen Gewalt. Der mutmaßliche Attentäter von Halle bringt die Hass-Rhetorik deutscher Meinungsmacher zu ihrer tragischen Konklusion.
Der verabscheuungswürdige Mörder von Halle hat versucht, wovon mancher Teilnehmer der antisemitischen Demonstrationen in Berlin »nur« phantasiert – den Mord an Menschen, weil sie jüdisch sind. In den Sozialen Medien liest man, dass er Dinge wie »Die Wurzel aller Probleme sind die Juden« sagte, als er seinen Mord durchführte – in gewissen Kreisen würde man der Höflichkeit halber »Juden« durch »Israel« ersetzen, und ansonsten weitgehend zustimmen. Er wollte vollbringen, was mancher sogenannter »Israelkritiker« nur praktisch impliziert, nämlich einen neuen Massenmord an Juden – es gelang ihm »nur« ein Doppelmord. Er wollte Betende angreifen, doch es gelang ihm wohl nicht. Er scheiterte an der Tür der Synagoge, so die aktuellen Berichte.
Der Mensch sehnt sich danach, mit dem, was er Gott nennt, eins zu werden. Jede einzelne Auslöschung menschlichen Lebens ist das maximal Schlechte, und doch ist ein Angriff auf Betende eine spezielle Kategorie – und der Angriff auf Juden in Deutschland noch einmal eine ganz eigene. Wer Juden in Deutschland angreift, der setzt sich bewusst und aktiv in die unmittelbare Tradition des abscheulichen Verbrechens des Naziregimes. (Wer die Existenz Israels auch nur indirekt oder implizit zur Disposition stellt, der tut dasselbe, nur hinter der fadenscheinigen Hülle politischer Höflichkeit.)
Wir sehnen uns danach, mit dem »großen Ganzen« in Verbindung zu treten, unsere Kreise zu ordnen und dann zum Teil weit größerer Kreise zu werden.
Verweigere die Annahme
Ein Angriff auf Betende ist ein Angriff auf das Menschlichste im Menschen, auf seine Eigenschaft als »Abbild Gottes«, und das gilt, ob man selbst glaubt und betet – oder nicht, wie ich. Im gemeinsamen Gebet wendet der Mensch all seine Kraft auf, Teil eines Größeren zu sein. Mir fiele wenig Barbarischeres ein, als einen Menschen im Moment des Gebets anzugreifen.
Ja, der Angriff auf die betenden Juden von Halle ist ein Angriff auf uns alle. Gestern schrieb ich davon, dass das »Nichts« auf uns zukommt, und der Anschlag auf Betende widerspricht dem wahrlich nicht.
Ganz gleichgültig, ob der Anschlag von Halle vom Staatsfunk und Propaganda zynisch instrumentalisiert wird, um Demokratie und Freiheit anzugreifen, oder ob er ganz schnell wieder aus den Schlagzeilen verschwindet, weil der Angreifer der Propaganda nicht ins »Täterschema« passt, die naheliegende Konsequenz bleibt die Gleiche: Schützt euch und Eure Lieben. Nehmt nicht den Hass an, der euch von Staatsfunk und Propaganda entgegenschallt – schaltet den aus. Kurz: Ordnet eure Kreise!
Leonard Cohen sang eine Zeile, an die ich in den letzten Jahren wieder und wieder denken musste, heute wieder:
When hatred with his package comes, you forbid delivery.
(Leonard Cohen, You have loved enough)
Übersetzung: Wenn Hass mit seinem Paket ankommt, verweigere die Annahme.
Jeder Gottesdienst ist der Versuch des Einzelnen, mit dem Großen und Ganzen in Beziehung zu treten, die geheimsten Kreise der Seele wie auch die ganz großen äußeren Kreise der Welt zu ordnen.
Der mörderische Yom-Kippur-Anschlag von Halle hat Kontext. In Berlin marschieren antisemitische Hass-Demos. Die »Guten« nennen Gegner wieder »Ratten«, machen Hass »normal«.
Yom Kippur ist ein Fest der Versöhnung. Wie kann Deutschland wieder Versöhnung finden? Wie können wir selbst zur inneren Ruhe finden? Es liegt an uns selbst.
Macht heute Abend bitte die Glotze aus – bitte! Nehmt euch Zeit für eure Freunde und Familie. Sucht die Gemeinschaft lieber Menschen, es müssen ja nicht gleich 10 Leute auf einmal sein. Und, vor allem: Wenn der Hass mit seinem Paket an eure Türe klopft, verweigert ihm die Aufnahme, schaltet ihn aus, selbst wenn ihr ihn bezahlen müsst. Das Leben ist kurz, viel zu kurz.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.