Donaueschingen liegt im südwestlichen Zipfel von Deutschland im Grenzgebiet zur Schweiz. Kaum mehr als zwanzigtausend Einwohner leben dort. Die Menschen sind traditionell mehrheitlich katholisch und die FDP kommt hier auf über vierundzwanzig Prozent der Wählerstimmen, die Grünen auf über 17 Prozent. Der Christdemokrat Thorsten Frei war hier fast ein Jahrzehnt lang Bürgermeister im Land von „Hansel“ und „Gretle“. Mozart wäre hier beinahe einmal fürstlicher Hofkompositeur geworden, wanderte dann aber doch nicht ein und zog leider weiter.
Nun ist auch in diesem verschlafenen baden-württembergischen Städtchen mit dem wohlklingenden Namen die Neuzeit angekommen: Googelt man den Ortsnamen gemeinsam mit dem Begriff „Flüchtling“ (warum man das einmal tun sollte, im Folgenden), dann erfährt man, dass die Verwerfungen einer neuen Zeit auch hier bereits angekommen sind.
An vorderster Stelle stehen nicht etwa erfolgreiche Integrationsprojekte, eine dank Migration florierende Wirtschaft oder sonst eine vielfältige Erfolgsgeschichte, an erster Stelle steht ein Bericht im Schwarzwälder Boten über eine Vergewaltigung aus August 2019 und der Südkurier berichtet über „Tumulte in der Flüchtlingsunterkunft“. Dann aber doch noch eine positive Vermeldung im google-Ranking, wenn von einem Zuwanderer berichtet wird, der einen Geldbeutel gefunden und abgegeben hätte. Es gibt sie also noch, es will gerne extra erwähnt werden, wenn die Überschrift zum Artikel lautet: „So eine Freude: Ehrlicher Flüchtling gibt gefundenen Geldbeutel ab“.
Diese kurze Vorgeschichte will verdeutlichen, woher Thorsten Frei, der neue Unionsvize (seit Ende 2018) im Deutschen Bundestag ursprünglich kommt. Wo der ehemalige Bürgermeister von Donaueschingen, der mit Direktmandat in den Bundestag einzog, seine Wurzeln hat. Frei wohnt nach wie vor in seinem Donaueschingen und pendelt also nach Berlin. Inklusive Kulturschock? Als Vize der Bundestagsfraktion hat Frei jedenfalls ein paar neue Themengebiete dazubekommen, die er nun beackern soll: „Künftig zählen Themen wie Zuwanderung, Asyl und innere Sicherheit zu seinen Schwerpunkten“.
Und hier weiß man jetzt nicht genau, in wie weit Absprachen vorliegen in der Fraktion selbst, mit dem Innenminister der CSU oder mit der Unionsspitze, jedenfalls sorgt dieser bodenständige Mann aus Donaueschingen in Berlin gerade für eine gewisse Verwirrung, wenn er der Welt ein Interview gibt, dass in seiner Deutlichkeit nicht so recht zusammenpassen will mit dem schlingernden Kurs des Bundesinnenministers Horst Seehofer, der in Fragen zukünftiger Massenzuwanderung die weiße Fahne schwingt, wenn Frei jetzt gegenüber der Welt eine neue Zahl ins Spiel bringt, wie viele Personen Deutschland pro Jahr maximal aufnehmen kann, bis es an seine Grenzen stößt.
Wir erinnern uns: Horst Seehofer hatte im Koalitionsvertrag lautstark und unter großem Medienecho um die Zahl 200.000 gekämpft, später war davon nicht einmal mehr die Rede, als eine Ausnahme die nächste jagte, der Familiennachzug dazu kam, zusätzliche Aufnahmen nach Bedarf (Mittelmeer) anvisiert wurden und auch die UN via Resettlement selbstverständlich nachlegen durfte. Die Diskussion um die Obergrenze wurde noch dadurch befeuert, dass die grüne und linke Opposition im Bundestag diese Zahl offensichtlich als geradezu verpflichtend zu erreichen verstand und auch die SPD diesem Kurs gegenüber zugeneigt war, als die Obergrenze so zu einer Art festen Kontingent für Deutschland wurde.
Für den Süddeutschen Thorsten Frei sind seit gestern im Interview mit der Welt nur noch „75.000 Asylbewerber pro Jahr gesellschaftlich verkraftbar“, wie die Zeitung titelt. Nun muss man sich tatsächlich fragen, ob Frei hier in echter Opposition zu Horst Seehofer steht, der zum einen neuerdings für eine Art Wiedereröffnung der Migrationsroute über das Mittelmeer wirbt und zum anderen aktuell vor einer neuen Massenzuwanderung gewarnt hat, die jene von 2015 noch übertreffen können soll, und der gleichzeitig in Ankara Lobeshymnen auf die Zusammenarbeit der Türkei und der EU anstimmt. Ja, wie kann man überhaupt zu etwas in Opposition stehen, dass so wenig konturiert ist und bei Seehofer davon zu leben schient, aus sich heraus gleich die Gegenposition mitzuliefern, um bloß niemanden zu verschrecken und am Ende alle völlig verrückt zu machen.
Was reitet einen Horst Frei, dieses sensible Thema jetzt anzufassen? Liegt es daran, dass die Verwerfungen der Massenzuwanderung nun auch an der Basis seines Heimatortes angekommen sind, wo vergewaltigt und in den Unterkünften randaliert wird? Oder geht es Frei hier lediglich darum, weitere Verwirrung zu stiften und den Wähler im Unklaren zu lassen, was die Union eigentlich wirklich für Deutschland in der Zuwanderungsfrage schon so lange plant?
Frei erklärt, er kenne die „Defizite des bestehenden“ Asylsystems in Europa. Und Frei warnt ausdrücklich davor, die 1,5 Millionen Antragsteller, die Deutschland seit 2015 aufgenommen hat, in Ankerpersonen zu verwandeln. Dann würden „weitere Antragsteller nachziehen“, was für die Unionsfraktion unter keinen Umständen zustimmungsfähig sei. „Den Plan, Neuankömmlinge von den EU-Außengrenzen dorthin zu bringen, wo Verwandte leben, hat bereits einmal das EU-Parlament formuliert. Da kann ich nur sagen: nicht mit uns.“ Aber wie glaubwürdig ist das im Oktober 2019? Welche Zustimmungslücke für die Union soll Frei hier und warum eigentlich füllen? Geht es etwa um eine unionsinterne Konkurrenz zur Werteunion? Auf jeden Fall ist das Desinformation auf höchstem Niveau: Was will die Union in der Zuwanderungsfrage? Die einen sagen so, die anderen so. Zwischenzeitlich wird weiter fleißig eingewandert.
Thorsten Frei will, dass von deutscher Seite aus keine Zugeständnisse mehr an Griechenland und Italien gemacht werden, was die Zahl der aufzunehmenden Antragsteller angeht, das würde nur „den Anreiz für diese Staaten“ erhöhen „den Grenzschutz schleifen zu lassen und durchzuwinken. Eine gute europäische Asylpolitik beginnt mit einem wirksamem Außengrenzschutz und raschen Verfahren in den Ankunftsstaaten. Jede Reform auf europäischer Ebene muss zudem die rechtliche Klarheit schaffen, dass Deutschland an seinen Grenzen zurückweisen kann.“
Was erzählen solche Sätze eigentlich über das Verhältnis der EU-Staaten zueinander, wenn Deutschland nach Frei also immer nur schauen muss, wo es nicht hintergangen wird?
Frei fährt damit nicht nur Angela Merkel in die Parade, er klärt gleich einmal auf, was von Seehofers „Seenotrettung“ in Wahrheit zu halten ist, wenn er von einem „Notfallmechanismus“ spricht, der angeblich dafür sorgen würde, das Deutschland bei einem „Anstieg der aktuell sehr geringen Zahlen jederzeit aussteigen“ könne. Jetzt ist ein Anstieg dieser Zahlen aber aus sich heraus schon gegeben, wenn die Zahl der Schiffe der Nichtregierungsorganisationen mit Billigung der Kanzlerin und des Innenministeriums wieder ansteigt. Wozu also überhaupt solche Pläne, wenn der Notfallmechanismus doch automatisch eintreten wird? Hier ist der Begriff „Notfall“ ebenso missbräuchlich, wie der Begriff „Seenot“ für Migranten, die sich wissentlich in eine solche bringen, um nach Europa umzusteigen.
Thorsten Frei bringt im Interview die Ausschiffungsplattformen wieder ins Gespräch. Über Asyl müsse außerhalb der EU entschieden werden. Dafür müsse ein afrikanischer Staat gewonnen werden und wenn solch ein Unternehmen Milliarden kosten wird, so rechne sich das am Ende doch: „Auch ein Milliardenbetrag wäre gut investiert, weil wir dadurch deutlich höhere Ausgaben für sich unberechtigt in Europa aufhaltende Migranten vermeiden würden.“
Sie reden und reden und reden. Vorschläge wie im Hamsterrad aufgeschrieben, wenn solche Ideen doch schon seit 2015 immer wieder neu debattiert, aber nie couragiert umgesetzt werden. Potemkinsche Dörfer für die Menschen, die schon länger in den echten Dörfern wohnen oder in den beschaulichen Städtchen wie Donaueschingen? Die Großstädter wissen ja längst, was die Stunde geschlagen hat.
Und um noch einmal auf diese außereuropäischen Satellitenstellungen zum Asylentscheid auf dem afrikanischen Kontinent zurückzukommen: Was für eine monströse Pilgerroute muss da entstehen, wenn erst einmal bekannt wird, was dort möglich ist? Wie viele hunderttausende Afrikaner werden sich in der Minute auf den Weg machen, wenn die Nachricht ihre gesponsorten Handys erreicht? Und wer würde hier noch ernsthaft den Pullfaktor leugnen wollen?
Der Unionsvize im Deutschen Bundestag möchte die Obergrenze ausschließlich als Grenze in „Notzeiten“ verstanden wissen: „Keinesfalls darf das zu einer dauerhaften Größenordnung werden. (…) Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass in Deutschland jährlich 780.000 Kinder geboren werden, wäre es nicht akzeptabel, dauerhaft ein Viertel der Bevölkerung allein durch das Asylverfahren aufzunehmen.“
Frei erklärt auch, wie er die Verteilung von Asylanten in die EU-Länder berechnet haben will, wenn er daran erinnert: „Jeder, der es wissen möchte, kann übrigens in den Zahlen des Statistischen Amtes der Europäischen Union nachlesen, dass von allen in Europa angekommenen Asylbewerbern Deutschland seit 2010 jedes Jahr mehr aufgenommen hat, als es unserem Bevölkerungsanteil an der EU entspricht.“
Offenbar ist Frei auch das Gejammer der südlichen EU-Mitgliedsstaaten über zu viel Migranten leid, wenn er fordert: „Eine Neuordnung des europäischen Asylsystems muss sicherstellen, dass sich weniger und nicht noch mehr Migranten im Norden niederlassen.“
Auch für die steigenden Zahlen von Migranten in der Ägäis bietet Frei eine Lösung an: „Entweder muss die türkische Küstenwache sich hier noch stärker bemühen, oder es muss möglich werden, dass Frontex Bootsflüchtlinge zum türkischen Ufer zurückbringt. Im Zweifel muss dafür eine neue rechtliche Grundlage geschaffen werden.“
Aber auch hier müsste man nachfragen: Wozu das alles, wenn doch gemäß Türkei-Deal sowieso für jeden Zurückgebrachten einer legal nach EU-Europa einreisen soll? Es kann doch demnach, wenn man die Zahlen wirklich ernsthaft reduzieren will, nur darum gehen, die türkische Küste so weit zu schützen, dass sich überhaupt niemand mehr in die Boote in Richtung griechische Inseln setzen kann.
Die Türken wollen zwei Millionen Syrer in Nordsyrien ansiedeln. Bislang bietet die EU dafür keine Unterstützung an, die Kurdenfrage ist im Wege und die aktuellen militärischen Intervention der Türkei in diesem Gebiet verbieten eine Zusammenarbeit eigentlich sowieso.
Ein ehemaliger Bürgermeister von Donaueschingen will EU-Geschichte schreiben. Und ganz gleich, ob er das als OB oder als Unionsvize im deutschen Bundestag macht, wer soll damit eigentlich beeindruckt und wer eventuell sogar überzeugt werden? Horst Seehofer oder gar die Bundeskanzlerin der Massenzuwanderung selbst?
Fest steht hier doch vor allem eines: Die Unionsfraktion und die Bundesregierung spielen Katze und Maus mit den Bürgern. Und so interessant die Vorschläge von Unionsvize Thorsten Frei auch sein mögen, so wenig neu sind sie doch. So oft schon in den letzten Jahren wurden sie für die Medien durchgehechelt und wie wahrscheinlich ist es, das es hier gar nicht um eine unionsinterne Debatte geht, sondern lediglich um eine völlig wertlose, weil abgesprochene Pseudovielfalt der unterschiedlichen Meinungen innerhalb der Union?
Eigntlich doch ist die Zeit der dicken Backen und großen Reden längst abgelaufen. Oder reichen markige Worte immer noch als Sedativum aus bis hin zu den Bürgern an der Donauquelle in Donaueschingen, dort, wo Thorsten Frei zu Hause ist?