Tichys Einblick
Von wegen kaum Inflation

Geldentwertung findet da statt, wo die Statistiker nicht hinblicken

Die niedrigen offiziellen Inflationsraten vermitteln ein falsches Bild von den Folgen der EZB-Politik. Denn die Geldentwertung findet sehr wohl statt: bei den Vermögenspreisen. Das befördert die soziale Spaltung.

© DANIEL ROLAND/AFP/Getty Images

Bei Betrachtung der aktuellen Inflationsrate im Euro-Raum und in Deutschland, könnte man auf die Idee verfallen, dass es für die Urangst der Deutschen vor Inflation – nach zwei fast vollständigen Geldentwertungen im 20. Jahrhundert – derzeit keinen realen Grund gibt. Schließlich hat die Kaufkraft des Euro laut der Europäischem Statistikbehörde Eurostat im September nach einer ersten nur um 0,9 Prozent verloren, nach 1,0 Prozent im Vormonat. Das lag vor allem an den relativ niedrigen Energiepreisen. Der kurzzeitige Ölpreisanstieg nach dem Drohnenangriff in Saudi-Arabien war offensichtlich nur eine Panikreaktion und, nachdem klar war, dass die Schäden schnell reparierbar sind, auch ebenso schnell wieder korrigiert. 

Für EZB-Präsident Mario Draghi kommen diese Daten vermutlich gerade recht. Er predigt seit Jahren ein „Inflationsziel“ von „unter, aber nahe bei zwei Prozent“. Das gilt nach vorherrschender Lehre als besonders investitions- und wachstumsfreundlich. Mit einer weit darunter liegenden Rate lässt sich daher die expansive, lockere Geldpolitik wunderbar rechtfertigen. Erst vor einigen Tagen hatte die EZB angekündigt, ihre umstrittenen Anleihezukäufe mit monatlich 20 Milliarden Euro wieder aufnehmen, die Leitzinsen gesenkt und klargemacht, dass es auf absehbare Zeit bei den extrem niedrigen, de facto sogar oft negativen Zinsen bleiben wird.

„Mama, wirf mir mal eine Millionen runter“

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Wer beim Begriff „Inflation“ stets an Geldscheine mit vielen Nullen drauf denkt, für die man sich dann kaum eine Kleinigkeit kaufen kann, mag sich anhand der aktuellen Zahlen beruhigt fühlen. „Mama, wirf mir mal eine Million runter, ich will mir ein Abziehbildchen kaufen.“ Dieser sarkastische Witz der Zwanzigerjahre wird noch nicht wieder aktuell. Im Gegensatz zu 1923 kann der deutsche Normalverbraucher der Gegenwart in der Bäckerei oder beim Klamotten-Shopping zwar durchaus den Eindruck gewinnen, dass er mit seinen Euros in der Tasche nicht viel weniger kaufen kann als vor fünf oder zehn Jahren. Aber wenn er auf dem Heimweg vom Supermarkt am Schaufenster eines Immobilienmaklers oder seiner Bank vorbeikommt, wird er merken, dass das eben doch nicht so ganz stimmt. 

Die Nachrichten von Eurostat und der EZB fallen nämlich mit einer Preisentwicklung zusammen, die zwar nicht in der offiziellen Inflationsrate der Statistikbehörden erfasst wird, aber dennoch zeigt:  Der Euro verliert sehr wohl an Wert, und zwar dort, wo das neu geschaffene Geld eben in erster Linie landet: nicht im Konsum, sondern in der Vermögensanlage. Die Entwertung findet ihr Ventil vor allem bei Immobilienpreisen, die weder von der offiziellen deutschen noch der europäischen Statistikbehörde erhoben werden.

Wer will ernsthaft behaupten, dass da keine Entwertung, das heißt Inflation der europäischen Einheitswährung stattgefunden habe, wenn der Kaufpreis pro Wohnquadratmeter in München zwischen 2008 und dem zweiten Quartal 2019 um 192 Prozent gestiegen ist, in Berlin sogar um 203 Prozent. So berichtet das Immobilien-Forschungsinstitut Empirica. 

Wer ein komplexeres Bild von den Folgen der EZB-Geldpolitik für sein Geld gewinnen möchte, sollte daher neben der offiziellen Inflationsrate stets auch den Vermögenspreisindex beachten, den das Flossbach von Storch Research Institute in Köln quartalsweise  veröffentlicht. Zum Ende des zweiten Quartals 2019 war die Vermögensinflation mit 2,7 Prozent zwar bedeutend niedriger als in den letzten Jahren – was vor allem durch relativ schwache Aktienkurse zu erklären ist – liegt aber weiterhin deutlich oberhalb der Verbraucherpreisinflation von 1,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal.

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Natürlich gibt es gute Gründe, die Preisentwicklung von Vermögenswerten – Immobilien, Produktivvermögen, Wertpapiere, Edelmetall und anderes – nicht in die offizielle Inflationsrate einzubeziehen. Vor allem, weil Gold, Aktien und Eigentumswohnungen eben nicht konsumiert werden, sondern als Anlagen starken spekulativen Schwankungen unterworfen sind.
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Doch die Tatsache bleibt davon unberührt: Auch steigende Aktien-, Immobilien- oder Goldpreise bedeuten, dass die Kaufkraft des Geldes abnimmt. Und dass all jene, die (noch) keine Vermögenswerte gekauft haben, gegenüber jenen, die diese (schon) besitzen, ins Hintertreffen geraten. Das Flossbach von Storch Institut veranschaulicht diese Entwicklung so: „Seit Q1-2015 stiegen Vermögenspreise um 22,6 Prozent, Verbraucherpreise hingegen nur um 6,4 Prozent und das nominale Bruttoinlandsprodukt nur um 14,6 Prozent. Wer Anfang 2015 einen Euro zur Vermögensbildung beiseite legte, kann sich Ende des zweiten Quartals 2019 damit Konsumgüter im Wert von 1,15 Euro kaufen. Wer dagegen einen Euro auf das zinslose Girokonto einzahlte oder in bar aufbewahrte, konnte sich dafür nur noch Konsumgüter im Wert von 94 Cent kaufen. Wer im gleichen Zeitraum einen Verdienst erhielt, dessen Wachstum dem des nominalen Bruttoinlandsprodukts entspricht, kann sich nach der gleichen Rechnung nun Konsumgüter in Höhe von 1,08 Euro leisten. Im Vergleich ist die Kaufkraft des Vermögensinhabers bedeutend höher als die der beiden anderen Gruppen angestiegen.“

Anders gesagt: Steigende Vermögenspreise verschärfen in aller Regel soziale Gegensätze zwischen Vermögenden und Nichtvermögenden. Eine lockere Geldpolitik, wie die von Draghi und der EZB betriebene, die den Anstieg der Vermögenspreise befördert und mit ihrer Fixierung auf die Konsumentenpreise diese Wirkung verschleiert, ist also auch eine verkappte Umverteilungspolitik von den Unvermögenden zu den Vermögenden. Sie dient nicht der Stabilität der Währung und erst recht nicht der Stabilität in der Gesellschaft. 

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