„Du bist immer gut für eine abweichende Meinung.“
(Christian Lindner zu Boris Palmer)
Boris Palmer und Christian Lindner duzen sich. Das wäre reine Privatsache und nicht weiter erwähnenswert – wenn man an diesem Abend nicht nebenbei auch erführe, dass Boris Palmer und Claudia Roth gar nicht mehr miteinander reden (seitdem die Bundestagsvizepräsidentin den Tübinger Stadtvater öffentlich indirekt des Rassismus bezichtigt und direkt zum Verlassen der grünen Partei aufgefordert hat).
„Das edle Motiv rechtfertigt nicht, die Regeln des freien Diskurses auszusetzen. Das mache ich nicht mit,“ erklärt Palmer bei der Vorstellung seines neuen Buches. Das setzt den Grundton auf dem Podium, und die etwa 150 Zuschauer im überfüllten Debattensaal des Berliner „Tagesspiegels“ ahnen spätestens jetzt, dass sie keine der üblichen Wahlkampfparolen hören werden. Hier ist einer gekommen, der sich parteiübergreifend grundlegende Gedanken macht.
Auf 240 Seiten beschreibt er darin den politischen Zustand des Landes und den Meinungsstreit im öffentlichen Raum. Es ist kein vorteilhaftes Bild, das Palmer da zeichnet.
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„Die Staatsbürger wandeln sich zu NIMBYs.
NIMBY ist die Abkürzung für ‚Not In My Backyard‘ („Nicht in meinem Garten“, Anm. d. Red.). Ein Staatsbürger akzeptiert, dass Rechten auch Pflichten gegenüberstehen. Ein NIMBY beruft sich nur auf Rechte und verzichtet gerne auf die Pflichten.“
Boris Erasmus Palmer: 47 Jahre, zweifacher Vater, Waldorfschüler, Historiker und Mathematiker, Mitglied von Bündnis‘90/Grünen, Ex-Landtagsabgeordneter, seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen. Zehn Thesen stellt er ans Ende seines Buches, ein paar davon lässt „Tagesspiegel“-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff seine beiden Podiumsgäste anhand von konkreten Beispielen durchdeklinieren.
Palmer widerspricht: „Ich kann nicht mit validen Zahlen herleiten – und mir deshalb auch nicht vorstellen – wie wir den Ausstieg aus der Kernkraft und aus der Kohle ohne massiven Ausbau der Windkraft ausgleichen sollen.“ Die Behauptung der Windkraftgegner, Windkraft sei nutzlos, sei faktisch falsch. Tatsächlich werde dieses Argument auch nur vorgeschoben. In Wahrheit gehe es vielen schlicht darum, dass sie kein Windrad bei sich in der Nähe haben wollten.
Das sei ein Beispiel für NIMBY.
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„Höhere Ebenen der Politik nutzen Erfahrungswissen aus den Kommunen zu wenig.
Der Abbau von Bürokratie gelingt so gut wie gar nicht, weil diejenigen, die Normen erfinden, sich nicht im Alltag mit deren Konsequenzen plagen müssen.“
Das Leben eines Oberbürgermeisters muss manchmal furchtbar frustrierend sein.
Wussten Sie, dass Tübingen als stark erdbebengefährdet gilt? Kein Witz. 1979 wurde das Städtchen zuletzt etwas durchgeschüttelt (wegen eines Ausläufers des seismischen Zollerngrabens, Details seien Ihnen hier erspart). Wegen der Einstufung als Erdbebenzone der höchsten Risikostufe müssen seit 2005 alle Häuser (alle!) in Tübingen so gebaut werden, dass sie ein sogenanntes „Bemessungserdbeben“ (Bürokratendeutsch ist eine silbenreiche Sprache) unbeschadet überstehen würden – also ein Beben, das so stark ist, wie es nur einmal alle 475 Jahre vorkommt.
Behutsam, aber deutlich plädiert Palmer dafür, Angst nicht als Leitbild von Politik zuzulassen: „Wenn Greta sagt: ‚I want you to panic,‘ dann ist das für eine 16-jährige Aktivistin völlig in Ordnung – aber nicht für einen erwachsenen gewählten Politiker.“
Wörtlich spricht Palmer von „Feigheit der Politiker“.
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„Komplexe Probleme werden an Experten delegiert.
Dann werden Milliarden investiert – ohne realen Zuwachs an Sicherheit für die Menschen, sondern nur mit Zuwachs an Sicherheit vor Verantwortlichkeit für die Entscheider.“
„Immer neue Vorschriften für immer kleinere Risiken“ würden von Spezialisten erdacht, die ihre Existenzberechtigung maßgeblich aus eben diesen (überzogenen oder auch ganz überflüssigen) Vorschriften zögen. Die gewählten Politiker dürften sich nicht länger hinter diesen nicht gewählten Experten verstecken. „Wir müssen wieder bereit sein, politische Verantwortung für Risiken zu übernehmen.“
Zu einem Seitenhieb gegen die Konzerne holt er dann aber auch noch aus: „Die grüne Wut aufs Auto ist durchaus auch eine Folge des monumentalen Betrugs am Kunden durch die Autoindustrie. Das kann man falsch finden, aber ich kann es auch verstehen.“
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„Empörungskultur und Identitätspolitik lenken von den wichtigen Problemen ab.
Grundlegende Probleme und Tatsachen bleiben unbeachtet und unbearbeitet, solange es niemandem gelingt, sie zum Gegenstand von Empörung zu machen.“
Palmers Buch ist voller konkreter Beispiele, die teils verblüffen und teils verstören.
Am stärksten ist er aber da, wo er den deutschen Politikbetrieb als Ganzes aufs Korn nimmt. „Man tut den Grünen wohl kein Unrecht, wenn man sie als die moralischste aller deutschen Parteien bezeichnet,“ schreibt er. Es ist nicht als Lob gemeint.
Immer öfter gehe es nur noch um Meinung und nicht mehr um Wissen. „Der Aberglaube feiert fröhliche Urstände.“
Unerwünscht seien Tatsachen besonders häufig dann, wenn sie von unerwünschten Personen ausgesprochen würden. Linke würden schlichte Fakten einfach leugnen, wenn ein Rechter sie vorträgt – und umgekehrt. Das sei absolut fatal: „Wir bauen Diskriminierung nicht dadurch ab, dass wir sie nur umkehren und jetzt einfach die diskriminieren, von denen wir glauben, dass sie bisher selbst diskriminiert haben.“
Oder anders: Ein Argument darf nicht danach bewertet werden, von wem es vorgebracht wird.
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Moderator Casdorff führt die Diskussion immer wieder zu Einzelthemen, dabei ist Palmers Grundthese eigentlich viel umfassender.
Ein Wortwechsel über so ein aktuelles, praktisches Einzelthema dauert aber besonders lange – und schlägt trotzdem alle in seinen Bann. Es fängt damit an, dass Lindner sagt: Nicht der Markt habe versagt beim Wohnungsbau, sondern der Staat habe den Markt zerstört (z. B. durch Nullzinsen).
Palmers Replik ist bemerkenswert – und ein Beispiel für seine praktische (und eben nicht ideologische) Herangehensweise. Zunächst stimmt er Lindner zu: Die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank EZB sei maßgeblich verantwortlich für die Kapitalblase bei Immobilien und damit auch für hohe Mieten. Außerdem machten die europa- und bundesgesetzlichen Regeln Bauen teuer und langwierig, das verteuere die Mieten weiter.
Als kommunalpolitischer Praktiker widerspricht Palmer also nicht der Analyse, hat aber einen anderen Lösungsvorschlag: Weder die Politik der EZB noch die EU-Richtlinien noch die Bundesgesetze könne er als Oberbürgermeister ändern. Auch Bauland könne er nicht vermehren, also das Angebot nicht ausweiten. Palmers Schlussfolgerung: „Wenn ich als OB am Mietenproblem innerhalb der kommenden fünf bis zehn Jahre etwas ändern will, habe ich also nur die eine Chance: Ich muss in den Markt eingreifen.“
Da widerspricht Lindner nicht mehr.
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Insgesamt gehen die beiden Politiker auf dem Podium inhaltlich kontrovers, aber menschlich pfleglich miteinander um. Das taugt durchaus als Vorbild, verleitet Moderator Casdorff aber dann auch noch zu der Frage: „Wann kann Boris Palmer in die FDP aufgenommen werden?“ FDP-Chef Lindner zögert nur kurz und sagt dann: „Ich bin zufrieden mit dem Wirbel, den er in seiner eigenen Partei macht.“
Man glaubt es ihm sofort.
Boris Palmer, Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss. Siedler, 240 Seiten, 20,00 €.
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