Tichys Einblick
100 Staatsrechtslehrer fordern Reform

Wahlrecht: Offener Brief an den Deutschen Bundestag

Die beiden Parlamentspräsidenten, Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble, haben es immer wieder beklagt, aber nichts dagegen unternommen. Sie hätten im Bundestag für Recht und Ordnung zu sorgen, haben es aber nicht getan.

© Carsten Koall/Getty Images

Jetzt ist es also doch passiert – endlich! 100 Staatsrechtslehrer haben in einem Offenen Brief an den Deutschen Bundestag eine baldige Reform des Wahlrechts verlangt. Der Bundestag, der z. Z. 709 Mitglieder hat, müsse wieder auf die Normalgröße von 598 Mandaten gebracht werden. Das wäre auch ohne Vergrößerung der Wahlkreise möglich. Einschränkungen bei den Abgeordneten müssten in Kauf genommen werden. Auf keinen Fall dürfe der Eindruck entstehen, dass den Abgeordneten das eigene Hemd wichtiger sei als der Rock. Das würde das Vertrauen der Menschen in der Demokratie „schwer erschüttern“.

Man mag diese Ausführungen der 100 Staatsrechtslehrer in der Sache als zu dürftig und enttäuschend empfinden. Und das sind sie auch. Sie zeigen gleichwohl einen Stimmungsumschwung. Die herrschende Auffassung, das Wahlrecht habe sich bewährt, verliert zunehmend an Boden. Zu den 100 Unterzeichnern, die von zwei Jura-Professoren der Universität Trier, nämlich Prof. Reinhard Hendler und Prof. Meinhard Schröder, angeführt werden, gehört u. a. auch Prof. Christoph Schönberger, Universität Konstanz. Er hat zusammen mit Prof. Sophie Schönberger, Universität Düsseldorf, in der FAZ v. 9.5. 2019 „die Lebenslüge im deutschen Wahlrecht“ beklagt. Ein hartes Wort.

Ein hartes Wort

Der Hauptpunkt der Kritik bleibt jedoch: Keiner von den 100 Professoren aus dem Gebiet des Staatsrechts hat gegen die Mängel des Bundeswahlrechts vom 3. Mai 2013 – das bereits unter diesem Datum im Bundesgesetzblatt I, Seite 1084, veröffentlicht wurde – nach Art. 41 GG im Wege der Wahlprüfung Front gemacht. So sind zwei Bundestagswahlen vergangen, nämlich die vom 22.9.2013 und die vom 24.9.2017, ohne dass einer von den 100 Professoren Einspruch gegen die Wahl eingelegt hätte.  Eine Unterlassung, für die es kein Pardon geben kann. Die geistige Elite hat versagt.

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Ein kurzer Blick in das Wahlgesetz des Bundes kann keinen Zweifel daran lassen. Das Gesetz ist mit der Verfassung unvereinbar. Nach dem dualen Wahlverfahren mit Erst- und Zweitstimme, das allgemein als „personalisierte Verhältniswahl” bezeichnet wird, werden seit 2002 bundesweit 299 Abgeordnete in 299 Wahlkreisen unmittelbar gewählt. Insoweit wird in Deutschland genauso gewählt wie in Großbritannien. Nicht so bei dem verbleibenden Rest der 410 Mitglieder des Bundestages.

Von ihnen gelangen 299 über die Listen der Parteien in den 16 Bundessländern in das Berliner Parlament. Hinzu kommen 46 Überhänge und – man glaubt es nicht – 65 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich ist sogar noch größer als der Überhang. Eine große Strapaze für die Logik in der Jurisprudenz. Über die Listen der Parteien wird mit der Zweitstimme „en bloc“ abgestimmt. Die Wähler können aus den Listen keine Auswahl treffen und haben auch keinen Einfluss auf die alles entscheidende Reihenfolge in der Liste. Die Abgeordneten werden indirekt gewählt. Die Listenwahl ist weder unmittelbar noch ist sie frei. Das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat schon vor längerer Zeit festgehalten: „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verbietet (…) die indirekte Wahl (…)“. (Vgl. BVerfGE 4, 253 (279 ff)). – Gleichwohl gehört sie zum festen Bestandteil aller Wahlen seit 1949. Daher ist es nicht übertrieben, hier von einer „Lebenslüge“ im deutschen Wahlrecht zu sprechen.

Seit 2002 hat der Bundestag im Normalfall 598 Mitglieder. Dieser Normalfall ist seither aber niemals eingetreten. Regelmäßig kamen sog. Überhang- und Ausgleichsmandate hinzu.

Die Ausnahme ist also zur Regel geworden. Im Bundestag sitzen regelmäßig „zu viele“ Abgeordnete. Deutschland ist weltweit der einzige Staat, in dem mehr Abgeordnete geduldet werden, als das Parlament Sitze hat. Die beiden Parlamentspräsidenten, Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble, haben das immer wieder beklagt, aber nichts dagegen unternommen. Sie hätten im Bundestag für Recht und Ordnung zu sorgen, haben es aber nicht getan. Werden ihnen in amtlicher Eigenschaft Umstände bekannt, die einen Wahlmangel begründen könnten, können sie innerhalb eines Monats selbst Einspruch gegen die Wahl einlegen. Sowohl Lammert als auch Schäuble hätten ein neues Wahlrecht haben können, wenn sie es gewollt hätten. – Doch wo kein Wille, findet sich auch kein Weg. (Vgl. „Schäuble, der Wahlrechtsveränderer“ in Tichys Einblick Magazin.)

Der Bundestag gleicht einem überfüllten Fahrstuhl. Die Türen lassen sich nicht mehr schließen. Doch niemand ist bereit, den überlasteten Aufzug zu verlassen. Da hilft ein offener Brief nicht weiter. Da muss der Wahlgesetzgeber eingreifen. Wenn es aber nicht anders geht, muss der Rechtsweg beschritten werden, um Abhilfe zu schaffen. Aber dabei will sich niemand die Hände schmutzig machen, Norbert Lammert nicht, Wolfgang Schäuble nicht, auch den Verfassern des Offenen Briefs an den Bundestag fehlen dazu Tatkraft und Entschlossenheit.

Wie ein überfüllter Fahrstuhl

Bei den Ausgleichsmandaten ist die Verfassungswidrigkeit besonders augenfällig. Die sog. Überhangmandate können erst ermittelt werden, wenn die Wahllokale geschlossen und die Stimmen ausgezählt sind. Erst dann kann festgestellt werden, ob die Listenplätze, die eine Landespartei errungen hat, hinter den von ihr im Land erzielten Direktmandaten zurückbleibt und sog. „Überhänge“ entstanden sind. Der „Überhang“ ist also kein Mandat, und schon gar nicht ein Mandat, dass einem direkt gewählten Abgeordneten nicht zusteht. Der Überhang ist eine Differenz. Und wenn man Äpfel von Birnen abzieht, sind das dann Äpfel oder sind das Birnen?

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Wie auch immer kann der Ausgleich durch weitere Aufstockungsmandate erst erfolgen, wenn die Wahllokale schon geschlossen sind. Bei den nachgeschobenen Ausgleichsmandaten fehlt deshalb die demokratische Legitimation durch eine unmittelbare Wahl. Die Wähler sind gar nicht gefragt worden, wer, in welchem Bundesland, von welcher Partei ein Ausgleichsmandat erhalten soll. Dafür wäre wenigsten eine Eventualstimme oder aber eine richtige Nachwahl speziell über die Ausgleichsmandate notwendig gewesen. Beides hat es weder 2013 noch 2017 gegeben. Abgeordneter wird man durch Wahl und nur durch Wahl, nicht aber durch hoheitlichen Oktroy. Es führt kein Weg daran vorbei: Die 65 Ausgleichsmandate, die nach der Wahl verteilt wurden, sind grob verfassungswidrig.

Wenn man sich die Frage stellt: Wie konnte es zu diesen hochgradig mandatsrelevanten Fehlern im Wahlrecht überhaupt kommen, dann steht man vor einem Rätsel, für das es keine andere Lösung gibt. Einmal mehr hat sich gezeigt: Alle hatten sie Tomaten auf den Augen. Stückwerk ist unser Erkennen, heißt es in der Bibel. Man muss daher stets auf der Hut sein: Herrschende Meinungen können sehr wohl auch herrschende Irrtümer sein. Und das Wahlrecht ist voll davon.

Der Fall Marlene Mortler

Der Fall Marlene Mortler (CSU) ist der neueste Prüfstein für die Indolenz des Deutschen Bundestages. Ähnlich wie zuvor Stephan Harbarth (CDU) ist Mortler in ihren bayerischen Wahlkreis Nr. 246 (Roth) mit den Erststimmen direkt gewählt worden. Sie hat ihr Direktmandat am 1.7.2019 niedergelegt. Der vakante Sitz ist am 2.7.2019 durch die bayerische Listenbewerberin, Dr. Astrid Freudenstein, nachbesetzt worden. Es wurde also ein Direktmandat durch einen Listenplatz ausgetauscht. Mit dem Wegfall des Direktmandats fällt in Bayern auch einer der 7 bayerischen „Überhange“ weg. Das kann nicht ohne Rückwirkung auf die 8 bayerischen Ausgleichsmandate bleiben. Sie müssen, ähnlich wie schon im Fall Harbarth, neu berechnet und um mindestens ein Ausgleichsmandat herabgesetzt werden. Das ist bis jetzt nicht geschehen und auch nicht zu erwarten.

Der Bundestag hat schon im Fall Harbarth auf die Verkürzung der Überhangmandate nicht mit einer entsprechenden Rückführung der Ausgleichsmandate reagiert. Wie im Fall Harbarth geht es auch im Fall Mortler um den Austausch eines Direktmandats durch einen Listenplatz. Das mindert nicht nur die Vollzähligkeit der 299 direkt gewählten Abgeordneten, wie sie in § 1 BWahlG angeordnet wird. Das auch! Es führt außerdem zu einer weiteren Verkürzung der Überhänge, die eine weitere Neuberechnung und Anpassung der Ausgleichsmandate verlangt, wenn nicht die ohnehin höchst zweifelhafte Regelung von Überhang und Ausgleich vollends zur Willkür verkommen soll.


Manfred C. Hettlage lebt in München und hat als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist und Blogger mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht, zuletzt „One man one vote – eine Stimme ist genug“, 2019 (ISBN 978-3-96138-100-5) und „BWahlG Gegenkommentar, 2. Auflage 2018, (ISBN 978-3-96138-053-4).

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