Den 11. September als Epochenbruch gibt es zwei Mal. In beiden Fällen bestimmte das, was in kurzer Zeit und auf begrenztem Raum geschah, den Lauf weltweiter historischer Linien. Um Null Uhr in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 öffnete Ungarns Regierung endgültig den Eisernen Vorhang. Der Tag vor 30 Jahren markierte das Ende des Ostblocks und den Beginn einer neuen Zeit in Europa, von der damals fast alle hofften, es würde eine Ära des Friedens werden.
Am 11. September 2001 um 7 Uhr 49 hob der Flug der American Airlines11 in Boston ab, um 8 Uhr 46 schlug die Maschine, in der islamische Terroristen das Kommando übernommen hatten, im Nordturm des World Trade Center ein. Siebzehn Minuten später traf der entführte United Airlines-Flug 175 aus Boston den zweiten Turm. Ein drittes Flugzeug schlug im Pentagon-Gebäude ein, ein viertes explodierte über Shanksville. Die Anschlagserie beendete eine relativ friedliche Ära in den westlichen Ländern und markierte den Beginn eines asymmetrischen Krieges mit dem militanten Islam, der bis heute anhält.
Bis heute zirkulieren zum 11. September 2001 Verschwörungstheorien über einen angeblichen „Inside Job“ – alle widerlegt, was allerdings diejenigen, die an geheime Weltlenkung glauben, nicht beeindruckt.
Anders als der Anschlag 2001 kam das Ende des Eisernen Vorhangs am 11. September 1989 für die wichtigsten politischen Mitspieler nicht überraschend. Im Sommer 1989 waren Tausende DDR-Bürger nach Ungarn gereist, in der Hoffnung, von dort über Österreich in den Westen Deutschlands zu kommen. In Ungarn nutzte die damalige Reformregierung von Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn den Spielraum, die Gorbatschows Politik ließ, um sich vorsichtig vom Kommunismus und dem Ostblock zu lösen. Am 19. August 1989 zerschnitten Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock symbolisch den Grenzzaun bei Sopron. Hunderte Ostdeutsche nutzten die Stunden des „Paneuropäischen Picknick“, in der sich die Lücke auftat, um auf die andere Seite zu kommen. Die ungarischen Behörden schlossen die Grenze vorübergehend wieder. Aber die Geschichte vom Loch im Zaun brachte erst Recht Tausende weitere DDR-Insassen dazu, nach Ungarn aufzubrechen.
„Hier muss eine radikale Lösung her, die ermöglicht, dass alle DDR-Bürger Ungarn legal verlassen können. Und das geht nur, wenn wir das sogenannte Reiseverkehrsabkommen zwischen Ungarn und der DDR aus dem Jahre 1969 außer Kraft setzen. Wir ermöglichen den DDR-Bürgern, ungehindert in alle Länder auszureisen, die bereit sind, sie aufgrund ihrer Reisedokumente durch- bzw. einreisen zu lassen“, erinnert sich Horn später in seinem Buch „Freiheit, die ich meine“.
Am 25. August fliegen Németh und Horn nach Bonn, um sich mit Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher insgeheim auf Schloss Gymnich zu treffen. Sie teilen dem Kanzler und seinem Außenminister mit, dass Ungarn nicht mehr gedenke, Grenzpolizei für Honecker zu spielen. Kohl sagt Ungarn einen Kredit über 500 Millionen D-Mark zu, über den allerdings schon länger verhandelt wurde, und verspricht, Ungarns Beitritt in die EU zu unterstützen.
Sechs Tage später sitzt Horn wieder im Flugzeug, einer kleinen Maschine nach Ostberlin. Da Honecker und Ministerpräsident Willi Stoph krank sind, empfangen Außenminister Oskar Fischer und das Politbüro-Mitglied Günter Mittag den Ungarn. Erst redet Horn nur mit Fischer. Der reagiert mit Entsetzen und Wut auf Horns Ankündigung, die Grenze zu öffnen, denn er versteht genau so wie später Mittag: der Eiserne Vorhang erfüllt nur so lange seine Funktion, wie er durchgängig existiert. Eine Lücke macht die gesamte Sperranlage obsolet. „Aber das ist ja Erpressung! Ja, sogar Verrat!“, ruft Fischer: „Wissen Sie denn, dass Sie damit die DDR im Stich lassen und zur anderen Seite überwechseln? Das wird schwerwiegende Folgen für Sie haben.“
Horn, nicht mehr sonderlich um Höflichkeit bemüht, nennt Fischer dafür einen „Quadratschädel“. Ungarns Regierung gesteht der DDR-Führung nur einen Punkt zu: bis zum 11. September zu warten.
Gyula Horn weiß zu dem Zeitpunkt mehr als sein Ostberliner Kollege: am 26. August hatte Kohl mit Gorbatschow telefoniert und vorgefühlt, wie Moskau auf die Grenzöffnung reagieren würde. Gorbatschow sah den Ostblock zu der Zeit ohnehin als mit friedlichen Mitteln nicht mehr haltbar an. Sein Plan lautete: Wenigstens die Sowjetunion retten, durch eine Reduzierung der Rüstung und mit Krediten aus dem Westen. Er signalisiert Kohl, dass er keine Einwände hat: „Die Ungarn sind gute Leute.“
Als die Nachricht von der Grenzöffnung am 11. September die Runde macht, schwillt nicht nur der Strom von DDR-Müden nach Ungarn an. Es wachsen auch die Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderswo. Am 25. September laufen erstmals 8.000 Demonstranten über den Leipziger Innenstadtring, am 9. Oktober 70.000. Am 9. November fällt die Mauer. Der amerikanische Philosoph und Autor Francis Fukuyama prägt für das, was viele damals hofften, einen Begriff: Das „Ende der Geschichte“. Nach dem Kollaps des Kommunismus werde sich jetzt weltweit das liberale westliche Modell durchsetzen.
Als Osama Bin Laden den Befehl gibt, die USA anzugreifen, lässt er sich von einem Grundgedanken leiten. Das amerikanische Imperium, glaubt er, ist viel schwächer, als es nach außen scheint. Wird es auf seinem eigenen Territorium getroffen, werde es sich aus dem mittleren Osten zurückziehen. Bin Ladens Nahziel besteht darin, seine Al-Kaida-Herrschaft in Saudi-Arabien zu errichten. Das geht nur, wenn der Schutzpatron des Hauses Saud weicht – die USA. Er und seine Anhänger fühlen sich beflügelt vom Ende der Sowjetunion und ihres Imperiums. Sie glauben die selbstgeschaffene Legende, der (allerdings von den USA massiv unterstützte) Widerstand gegen die sowjetische Armee in Afghanistan habe den gesamten Ostblock zu Fall gebracht.
Am 11. September 2001 sterben in New York, Washington und über Pennsylvania 2.750 Menschen, darunter mehr als 400 Polizisten und Feuerwehrleute, und alle 19 beteiligte Al-Kaida-Terroristen. Die Attacken bilden den Beginn einer blutigen Invasions- und Bürgerkriegsetappe mit Millionen Opfern, erst in Afghanistan, dann im Irak, schließlich in Syrien und wieder im Irak, wo sich vorübergehend Bin Ladens Traum verwirklicht: ein „Islamischer Staat nach Art des Propheten“. In europäischen Ländern mit starkem muslimischen Bevölkerungsanteil kommt es zu blutigen islamistischen Terroranschlägen. Für das, was geschieht, prägte Hans Magnus Enzensberger schon hellsichtig früh den Begriff vom „molekularen Bürgerkrieg“.
Wie lautet die bisherige Bilanz? Von der Agenda der deutschen und der französischen Regierung ist die Bekämpfung des militanten Islam völlig verschwunden. Vor allem die muslimische Migration hat Europa tief gespalten, ziemlich genau entlang der Linie, auf der früher der Eiserne Vorhang verlief.
Der „molekulare Bürgerkrieg“ hat sich als Prinzip gegen das „Ende der Geschichte“ durchgesetzt.
Dreißig Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs feiern sozialistische Ideen vor allem in Westdeutschland ein Revival. Und die EU-Spitzen ebenso wie die linken Parteien Deutschlands fordern den Ausschluss Ungarns aus der EU.
Es gibt kein Ende der Geschichte, und kein Ende für diese Doppelgeschichte des 11. September. Wir stecken noch mittendrin. Es gibt höchstens ein vorläufiges Fazit: Die Zeit nach dem Fall des Ostblocks und vor dem Aufstieg des radikalen Islam war, von heute aus betrachtet, eine kurze hoffnungsvolle Epoche. Von einem 11. September zu dem 12 Jahre später.