Tichys Einblick
Drahtseilakt Brexit

Durchs Chaos zur Entscheidung

Großbritannien steuert auf Neuwahlen zu. Wann genau sie stattfinden, könnte über den Sieger entscheiden. Durchs Chaos will Boris Johnson sein Land – und dessen Politiker – zur Klarheit zwingen.

Peter Summers/Getty Images

Langsam nehmen die Lager wieder Formen an. In der vergangenen Woche standen sich Konservative und Labour-Partei in einem paradoxen Wettkampf um die Frage gegenüber, wer am besten in die Rolle des jeweils anderen schlüpfen kann. Die Tories von der Regierungsbank schienen sich nichts sehnlicher zu wünschen als Neuwahlen, während die Sozialisten von der Opposition sich gezwungen sahen, die Regierung Ihrer Majestät zu stützen, da sonst ein Brexit ohne Austrittsabkommen droht.

Inzwischen hebt sich der Rauch über dem Schlachtfeld, und die Konturen werden klarer. Mit einigem Geschick hat Johnson die Initiative, die ihm sein Amt verschafft, dazu genutzt, Labour unter Zugzwang zu setzen – nicht in dem offensichtlichen Sinne, als ob Corbyn einem Ansinnen Johnsons direkt nachgegeben hätte (dem hat sich der Oppositionsführer mal um mal entzogen und so dem frischgekürten Premier vier saftige Niederlagen zugefügt), wohl aber in jenem entfernteren Sinne, dass die Bedingungen des nun auszufechtenden Kampfes im wesentlichen von Johnson und seinem Team gewählt und vorgegeben wurden. Psychologisch ist dabei interessant, wie die europäischen Partner als die einstigen Hauptgegner, die sich in Biarritz schon etwas gesprächsbereiter als sonst gezeigt haben, in den Hintergrund treten. Ins Zentrum des Interesses sind nun die einheimischen Gegner eines Austritts gerückt.

In wohlinformierten Kreisen gilt als ausgemacht, dass jede Bewegung Johnsons sorgfältig geplant oder doch im Voraus bedacht ist. Eine Schlüsselrolle spielt dabei angeblich der Politikberater Dominic Cummings, der schon die Brexit-Kampagne instrumentiert hatte, unter anderem – angeblich inspiriert durch einen Ratgeber für junge Eltern – mit dem Schlachtruf »Take back control« (etwa »Übernehmt wieder die Kontrolle über euer Leben«). Von einem kühl geplanten Vorgehen geht auch der Churchill-Enkel Nicholas Soames aus, selbst einer der geschassten Abweichler in der jüngsten parlamentarischen Auseinandersetzung. Vorauszusehen war in der Tat die Tory-Rebellion, die nur durch die Drohung des Fraktionsausschlusses im Zaum gehalten werden konnte. Durch diese Destabilisierung der Regierung von innen – die inzwischen weiter denn je von einer eigenen Parlamentsmehrheit entfernt ist – führt der Weg nun logisch auf baldige Neuwahlen zu. Dass Corbyn sich diesen für ihn in mehrerlei Hinsicht unbequemen Wahlen zunächst entziehen würde, lag auf der Hand und konnte ins Kalkül mit einbezogen werden. Insofern verfolgen wir offenbar nur die ersten Schritte des »großen Plans« der Herren Johnson und Cummings.

Johnson will Neuwahlen, Corbyn fürchtet sie
Tag des Gerichts, Tag des Verzichts
Die Frage ist nun, ob Neuwahlen vor dem neuen Brexit Day, dem 31. Oktober, oder danach stattfinden werden. Eine neue Umfrage gibt Johnson für eine Oktober-Wahl bessere Chancen. Im November würde er demnach deutlich an die Brexit-Partei von Nigel Farage verlieren. Dass dies wirklich so käme, scheint indes nicht ausgemacht. Denn indem er die 21 Abweichler – teils von höchsten Ehren und Würden – aus seiner Fraktion ausschloss und dieselbe so von jeglichem Remain-Geist reinigte, hat Johnson ja bereits große Schritte auf Farages Wählerschaft zu gemacht. Eine November-Kampagne des fähigen Wahlkämpfers könnte das Ihrige tun und dem Premier zu einem – vielleicht knappen – Sieg verhelfen. Dann hätte er zwar sein eigentliches Ziel, Großbritannien zum 1. November aus der EU zu führen, verfehlt, doch könnte er dies auf das Konto seiner politischen Gegner in Partei und Parlament setzen.

In der aufgeheizten, gewissermaßen süchtig nach einer Lösung des Parteienstreits schielenden Stimmung, in der das Königreich sich derzeit befindet, dürften Wahlen zu jedem Zeitpunkt eher den Antreibern Johnson und Farage als dem unbeholfen in der Mitte des Sees paddelnden Corbyn nützen, zumal das Anti-Brexit-Votum zum Teil an Liberaldemokraten, Grüne und die schottische Nationalpartei gehen wird. Wirklich gefährlich könnte den Austrittsbefürwortern nur ein festes Bündnis dieser Gegenkräfte werden. Allmählich beginnt sich das britische Parteiensystem entlang der Linien des Brexit-Konflikts neu zu ordnen. Nigel Farage hat seine Unterstützung für Boris für den Fall zugesagt, in dem dieser das Austrittsabkommen gänzlich hinter sich ließe und einen klaren Schnitt setzte. Es könnte also Johnsons Tun sein, die Konservativen erneut – und dieses Mal »for good« – mit der Anhängerschaft Farages zu vereinen, während sich auf der Gegenseite irgendwann eine erneuerte Labour-Partei oder auch die Liberaldemokraten als mehr oder minder ›pro-europäische‹ Partei breit machen würden.

Der wunderbar altmodische Jacob Rees-Mogg, immer für eine apodiktische Formulierung gut, erinnerte dieser Tage an die Rolle des Parlaments im Leben der britischen Nation: »Souveränität kommt dem Parlament nur durch das Volk zu, sie entstammt keinem Vakuum. Wenn das Parlament sich entschließt, das Volk herauszufordern, dehnt es das Band unserer Verfassung bis zum Zerreißen. Wir sollten das Volk als unseren Herrn anerkennen.« – Von jetzt an wird dies das Lied der Brexiteers um Johnson sein: »Gebt dem Volk, was es verlangt hat. Und wenn ihr das nicht wollt oder könnt, dann gebt ihm zumindest das Wort!«

Angesichts des herrschenden Chaos geht nun sogar eine Dolchstoßlegende in der britischen Presse um, nach der ein sinister-jagohafter Cummings mit Michael Gove, dem alten Johnson-Rivalen, an der endgültigen Ausschaltung des Premierministers arbeitet. Doch das ist wohl bloße Spekulation, scheint im Grunde auch weniger erfolgversprechend als andere Handlungsvarianten. Vielleicht ist es aber auch Johnson selbst, der auf diese Weise einen politischen Märtyrertod als Premier sterben will, um in den unweigerlich folgenden Wahlen triumphal wiederaufzustehen. Immerhin schloss er die Möglichkeit, selbst um eine Fristverlängerung in Brüssel nachzusuchen, jüngst mit finster entschlossener Miene aus: »Lieber läge ich tot in einem Graben.« Alles scheint möglich, und das ist der Plan.

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