Selten, aber dennoch können die Sprechschauen der Medien gelegentlich Erkenntnisgewinn bringen. Einen solchen lieferte die Vorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, in der Sprechschau von Maybrit Illner am Abend des 5. September 2019. Dort lieferte die Chefin der einstmals als christlich-konservative Partei gegründeten CDU für sich die folgende Definition.
„Ich kann mit diesem Begriff, die CDU ist nach links, nach oben-unten verschoben worden, ehrlich gesagt nichts anfangen.
Wenn konservativ bedeutet zu sagen, dass jemand, der hart arbeitet, von diesem Gehalt doch seine Familie ernähren soll und dass wir deshalb einen Mindestlohn brauchen, dann bin ich konservativ.
Wenn konservativ bedeutet, eine Familienpolitik, eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu machen, damit Familien noch Zeit haben für ihre Kinder, dann bin ich konservativ.
Wenn konservativ bedeutet, dass wir einen Staat haben, der die Sicherheit gewährleistet, der Recht schützt, aber sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt, dann bin ich konservativ.
Und wenn konservativ bedeutet, dass ich mich für den Frieden in der Welt einsetze, aber nicht glaube, dass es nur mit guten Worten geht, sondern dass wir auch eine einsatzfähige Bundeswehr brauchen, dann bin ich konservativ – und wenn konservativ für manche heißt, dass es reaktionär ist oder rechts oder rechtsextrem, dann bin ich alles, aber nicht konservativ.“
Kramp-Karrenbauers politiktheoretischer Ansatz
Es sei, da in der Spontaneität dieser Sprechschauen wohlformulierte Aussagen nicht immer möglich sind, darauf verzichtet, sprachliche Unschärfen zu kritisieren. Nur so viel: Die Aussage, die CDU sei „nach links, nach oben-unten verschoben worden“, ist sicherlich kein Begriff. Sie kann eine Feststellung sein. Oder eine Behauptung. Sie kann auch einen Vorwurf darstellen. Eines allerdings ist sie eben nicht: Ein „Begriff“.
Es sei auch der Hinweis nur am Rande erwähnt, dass Politiker nicht selten die Neigung entwickeln, das Füllsel „ehrlich gesagt“ dann einzusetzen, wenn das nun folgende eben nicht ehrlich gemeint ist. Nehmen wir die Floskel als Denkpausenfüller – will sagen: Sie sollte der geborenen Kramp-Karrenbauer Zeit verschaffen, um im Geiste das Nachfolgende zu formulieren.
Keine Definition des Konservativen
Kramp-Karrenbauer mogelt sich um eine solche Definition herum, indem sie sich selbst als Koordinatensystem beschreibt und daran Kernelemente des Konservativen zu beschreiben sucht – bei dem gleichzeitigen Versuch, diese Definition über die Abgrenzung von dem, was aus ihrer Sicht nicht konservativ ist, zu ergänzen. Ein solcher Weg mag dann hilfreich sein, wenn der Agierende sich außerstande sieht, Besagtes tatsächlich sachgerecht zu beschreiben. Wofür, wie wir sehen werden, beim Begriff „konservativ“ selbst bei einem Studierten der Politischen Wissenschaft ein gewisses Verständnis aufzubringen ist. Doch stellen wir die Kramp-Karrenbauer’sche Definition erst einmal zurück und unternehmen wir den Versuch, „konservativ“ zu definieren.
Die Ideengeschichte des Konservativen
Ideengeschichtlich ist der Begriff im Zuge der Aufklärung entstanden. Tatsächlich aber beschreibt er eben kein in sich geschlossenes Weltbild, sondern ein Staats- und Gesellschaftsverständnis. Einen „Konservatismus“ vergleichbar dem Sozialismus oder dem Kommunismus gibt es nicht. Der Konservative unterliegt – anders als die beiden benannten ~ismen – keinem in sich geschlossenen, politischen Weltbild mit fest definierter Zukunftsperspektive. Vielmehr können wir ihn im Gegensatz zum Illusionisten des Zukünftigen als den Pragmatiker des Gegenwärtigen verstehen. Sein Grundverständnis von Gesellschaft und Politik basiert auf der Auffassung, dass es nicht Aufgabe des Politischen sein kann, mit visionären Zukunftsidealen vorzustreben, sondern sich auf die Optimierung der Funktionsfähigkeit des Bestehenden zu konzentrieren.
Dennoch wird der sogenannte Konservatismus vor allem von seinen Gegnern gern als Gegenbewegung zu Liberalismus und politischem Radikalismus als „linkem Liberalismus“ (faktisch Sozialismus) definiert. Damit sollte bereits in Folge der Französischen Revolution eine Stigmatisierung der „Konservativen“ als Anhänger des Absolutismus und des Autokratismus erfolgen; der „Konservative“ als letztlich reaktionär-totalitärer Verfechter einer gesellschaftlich überholten, antidemokratischen Staatsform beschrieben werden.
Die Idee eines „Konservatismus“ als politischer Ideologie basiert insofern auf der gezielten Abgrenzung durch seine Gegner.
Übernimmt man im politischen Geschäft diese Unterscheidung, dann ist „rechts“ zwangsläufig „konservativ“ und „konservativ“ zwangsläufig „rechts“. Insofern kann Kramp-Karrenbauer allein schon dann nicht konservativ sein, wenn sie „alles, aber nicht konservativ“ ist, wenn „für manche konservativ rechts heißt“. Das gilt selbst dann, wenn man mit rechts-links und oben-unten in der politischen Standortbeschreibung nichts anfangen kann – denn „konservativ“ und „rechts“ sind nun einmal in diesem System identisch.
Die Unterscheidung zwischen, rechts, rechtsradikal und rechtsextrem
Hierbei sei jedoch unterstrichen, dass „rechts“ und jene heute genutzten Definitionen von „rechtsradikal“ und „rechtsextremistisch“ miteinander nicht das Geringste zu tun haben. Vielmehr wären vor allem die extremistischen Positionen allein schon aufgrund des ihnen innewohnenden Charakters der Systemüberwindung im Sinne der klassischen Definition ebenfalls als links zu bezeichnen. Allerdings soll hier eine Differenzierung dargelegt werden, die bei der Betrachtung von radikal und extrem durchaus zu berücksichtigen ist. Uneingeschränkt gilt die oben erfolgte Feststellung für rechtsextremistische Bewegungen aufgrund ihres systemüberwindenden Charakters, mit dem sie in diametralen Gegensatz zu Konservativen stehen. Eingeschränkt können sie für rechtsradikale Positionen insofern gelten, als diese, verstehen wir sie als radikalkonservativ, auch jegliche evolutionäre Weiterentwicklung des bestehenden Systems ablehnen müssten.
Dafür jedoch kennt die politische Wissenschaft den Begriff des Reaktionären, wobei auch dieser bereits ein Narrativ der politischen Linken insofern ist, als er eine konservative Reaktion auf die progressive Systemüberwindung beschreiben soll mit dem Ziel, dass er den gesellschaftlichen Status quo ante im Sinne der durch die Linke überwundenen Ordnung wiederherstellen soll. Insofern ist in einer revolutionären Dynamik der Systemüberwindung durchaus vorstellbar, dass Konservative zu „Reaktionären“ im Sinne der Systemüberwinder werden und als „Konterrevolutionäre“ den Versuch unternehmen, die von ihnen präferierte „alte“ Ordnung zu restaurieren.
Diese Mutation vom Konservativen zum Reaktionär setzt zwangsläufig die zuvor in Gänze oder in Teilen erfolgte „Überwindung“ der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung durch linke Kräfte voraus. In einer funktionierenden, liberalen Demokratie jedoch kann ein Konservativer kein Reaktionär oder Rechtsradikaler sein, so wie er als „Rechter“ auch kein systemüberwindender Rechtsextremist sein kann. Wird der in der Sache Konservative dennoch zum „Rechtsextremisten“, so setzt dieses wiederum zwangsläufig voraus, dass die von ihm gestützte Ordnung zuvor im politischen Sinne überwunden und durch eine neue, nicht seinem konservativen Wertesystem entsprechende Ordnung ersetzt worden ist. Der Konservative kann in einer solchen Situation dann zum „Rechtsextremisten“ werden, wenn die Systemüberwindung von der sich selbst als politische Linke definierenden Gruppe erfolgreich durchgesetzt wurde – und er wäre notwendig „Linksextremist“, sollten sich die Systemüberwinder selbst als „rechts“ definieren – was Letzteres jedoch im Sinne des Oben dargelegten wenig Sinn macht.
Die sinnvolle Unterscheidung zwischen „Konservativen“ und „Progressiven“
Gleichwohl machte und macht daher – unabhängig von der Links-Rechts-Dialektik – die Unterscheidung zwischen den selbsternannten „Progressiven“ – also jenen, die die bestehende Gesellschaftsordnung überwinden wollen – und den „Konservativen“ als jenem, die diese im Kern zu erhalten suchen, durchaus Sinn, weshalb auch die bürgerlichen Liberalen in Abgrenzung zu den sogenannten „Linksliberalen“ in ihrer Kernsubstanz des Systemerhalts als konservativ und somit „rechts“ zu verstehen sind. Ursächlich dafür ist dabei auch die Tatsache, dass jegliche politische Ideologie als Weltanschauung mit fixiertem Endziel unter linear-geschlossener Zukunftsperspektive und dem darauf basierenden Ziel der Überwindung der bestehenden Ordnung zwangsläufig in ein totalitäres System münden muss, da anders die bürgerlichen, also konservativen und liberalen Widerstände gegen dieses Ziel nicht überwunden werden können.
Die Annäherung von Konservativen und Liberalen
Spätestens seit der vorläufig finalen Überwindung des klerikal geprägten Gottesgnadentums zur Mitte des 19. Jahrhundert – in Deutschland manifestiert über die Verfassungen von 1866 und 1871 – wandelte sich der ursprünglich von seinen Gegnern als Kampfbegriff geprägte „Konservatismus“ zur Grundauffassung der im Kern staatsbestätigenden Bürgerschaft. Dadurch näherten sich die Ziele der konservativen und der liberalen Demokraten einander zunehmend an und können nun gemeinsam als „bürgerlich“ bezeichnet werden. Die Schnittmengen dieser Gruppen, die wir auf der Grundlage ihres Staats- und Verfassungsverständnisses als liberale Konservative und konservative Liberale bezeichnen können, liegen in der Auffassung, dass der Staat als Instrument der Organisation des Gemeinwesens sich auf seine Kernaufgaben zu beschränken hat. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass der Bürger als freies Individuum sich ungegängelt von staatlichen Zielen und Aufgaben entfalten und seinen individuellen Perspektiven folgen kann.
Die in diesem Sinne freiheitlichste Verfassung, die die Deutschen jemals hatten, ist jene bereits erwähnte Reichsverfassung von 1871, die sich weitgehend darauf beschränkte, die staatliche Organisation des bundesstaatlich organisierten, repräsentativen Parlamentarismus zu definieren und die Rechte des Bürgers im Wesentlichen darüber manifestierte, dass sie festschrieb, welche Eingriffsmöglichkeiten „dem Staat“ nicht zu gewähren sind – und das waren seinerzeit so ziemlich alle außer dem Anspruch, männliche Bürger zur Wehrpflicht zwangsverpflichten zu können. Außerhalb dieser Dienstverpflichtung und der Notwendigkeit der Befolgung der durch das Parlament zu verabschiedenden Gesetze oblag dem Bürger die Gestaltung seiner individuellen Existenz auf der Grundlage der Selbstbestimmung ohne staatliche Vorgabe selbst.
Die Tatsache, dass zwischen 1871 und 1918 durch ein Versagen der Repräsentanten des Volkes zunehmend mehr Machtbefugnisse an die Exekutive gingen – ein Vorgang, der auch aktuell zu konstatieren ist – zeigt jedoch auch auf, dass ein solches System einer liberal-konservativen Bürgerdemokratie aus sich selbst heraus anfällig ist, wenn es seine Aufgaben als parlamentarisches Kontroll-und Gesetzgebungsorgan nicht wahrnimmt.
Die Gefahren für die Bürgerdemokratie
Weiterhin unterliegt die bürgerliche Demokratie als Ordnungssystem unter weitestgehender, individueller Freiheit des Bürgers bei gleichzeitigem Wirken im Sinne des Erhalts jener staatlichen Organisationsinstrumente, welche diese Freiheit gewährleisten, der ständigen Gefahr, durch seine Feinde im Inneren zerstört zu werden. Karl Popper zeigte dieses auf über das Paradoxon der Toleranz, wonach die Toleranz des Toleranten gegenüber dem Intoleranten dazu führen muss, die Toleranz zu vernichten. Anders formuliert: Die im gegenseitigen Wechselspiel aus liberal beanspruchter Bürgerfreiheit und konservativer Systemtreue entstehende, freiheitliche Bürgergesellschaft ist dann zum Scheitern verursacht, wenn sie die Freiheitlichkeit auch jenen zugesteht, die eben diese freie Bürgergesellschaft vernichten wollen.
Karl Mannheim entwickelte auf der Grundlage dieser ständigen Gefahr die Vorstellung einer „geplanten Demokratie“ als „Planung zur Freiheit“. Hierdurch seien demokratisches Gesellschaftssystem und individuelle Freiheit gemeinsam dauerhaft zu gewährleisten. Jedoch schuf Mannheim damit selbst nun das Paradoxon der Freiheit, denn eine Freiheit, die geplant und folglich gelenkt wird, ist ein Oxymoron, welches sich selbst durch den inneren Widerspruch vernichtet. Das allerdings hindert beispielsweise Politiker wie Wladimir Putin nicht, sich an den Grundzügen solcher Vorstellungen zu orientieren, wenn er von einer „gelenkten Demokratie“ spricht. Auch Ungarns Victor Orban bewegt sich, wenn er den Gegensatz zwischen einer „liberalen Internationale“ und einer „illiberalen Demokratie“ beschreibt, letztlich auf den Grundzügen Mannheims deshalb, weil er damit den antiliberalen Liberalitätsbegriff der sogenannten „Progressiven“ übernimmt und ihn als Charakteristikum des gegenwärtig Europa strapazierenden Konfliktes zwischen nationalen und internationalen Demokraten heranzuziehen sucht.
Naheliegend, dass bereits Denker wie Friedrich August von Hayek massiv in Widerspruch zu Mannheim gingen. Der vom Sozialisten zum Liberalen gewandelte Philosoph stellte zutreffend fest, dass jegliche staatliche Planung, die unmittelbar in das individuelle Selbstentfaltungsrecht einwirkt, den Weg zu totalitären Systemen ebnet und damit das bürgerlich-liberale Gesellschaftsmodell zerstört. Die „geplante Demokratie“ bleibt ein Oxymoron dann, wenn Demokratie tatsächlich Volksherrschaft und nicht Räte- oder Elitenherrschaft meint.
Die societas civilis
An dieser Stelle macht es Sinn, noch einen kurzen Blick auf Panajotis Kondylis zu werfen, der den sogenannten Konservatismus als Träger der klassischen societas civilis betrachtet. Diese societas civilis wird heute durch ihre Gegner als “Zivilgesellschaft“ behauptet – und die Gegnerschaft besteht darin, dass der Zivilgesellschaftsbegriff inhaltlich zur Pseudoelitenherrschaft verkehrt wird. Ich beschrieb dieses bei TE unter dem Titel „Zivilgesellschaft – ein Leitbild?“. Tatsächlich liegt Kondylis dann richtig, wenn wir die societas civilis in der von mir dargelegten Weise als Gemeinwesen freier, selbstbestimmter Bürger – und somit im Sinne der Reichsverfassung von 1871 – verstehen.
Der Konservative als Träger des Gemeinwesens freier Bürger
So nähern wir uns nunmehr dem Begriff des „Konservativen“ an, indem dieser als Träger eben jenes Gemeinwesens freier, selbstbestimmter Bürger auftritt. Der Konservative ist – ich wiederhole dieses – nicht reaktionär, insofern er die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Gesellschaft erkennt und trägt, dieses jedoch nur in einem Maße, wie die Grundprämissen der natürlichen Allianz von konservativen und liberalen Vorstellungen im Bürgertum erhalten bleiben. Hier wiederum greift der beiden gemeinsame Ansatz, „den Staat“ ausschließlich als ausführendes Organ einer optimalen Organisation und daraus resultierend Verwaltung des Gemeinwesens zu verstehen, das die Aufgabe hat, die positiven Errungenschaften der Gesellschaft zu sichern und zu befördern, ohne dabei einerseits in bürokratische Starre zu verfallen oder andererseits als Träger der Fremdbestimmung des Bürgers zu agieren, welches beides jeglichen gesellschaftlichen Fortschritt verhindert.
Gleichzeitig ist der konservative Ansatz auf dieser Grundlage nicht zwangsläufig auf ein einziges Regierungsmodell fixiert, weshalb beispielweise im Deutschen Reich sehr wohl Anhänger einer parlamentarischen Monarchie ebenso wie Anhänger einer parlamentarischen Republik als Konservative verstanden werden können. Nicht konservativ hingegen waren jene, die das bestehende Staatsmodell eines demokratisch-repräsentativ aufgebauten Parlamentarismus entweder rückwärtsgewandt in der Konsequenz eines antilaizistischen Weltbildes durch die Rückkehr zum monarchischen Gottesgnadentum oder vorgeblich vorwärtsgewandt durch eine den Parlamentarismus überwindende „Räterepublik“ ersetzen wollten, wie Letzteres gegenwärtig in der Umwandlung der bürgerlichen und parlamentarisch-repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes von 1949 in eine NGO-kratie zu konstatieren ist.
Die Grundlagen des Konservativen
Wollen wir nun für die westeuropäische Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts in der Konsequenz der Philosophien der Aufklärung den Begriff „konservativ“ beschreiben, so stehen hierfür auf Grundlage der vorangegangenen Ausführungen folgende Kerninhalte:
- Bewahrung und Sicherung eines demokratischen Regierungssystems, zumeist auf der Grundlage einer geschriebenen Verfassung und unter Berücksichtigung der parlamentarischen Repräsentation.
- Reduzierung und Minimierung des staatlichen Einflusses auf ein absolutes Mindestmaß unverzichtbarer, exekutiver Aufgaben.
- Verhinderung systemzerstörender oder –überwindender Maßnahmen wie staatlicher „Gemeinwohlvorgaben“ als Definition sogenannter Staatsziele, die im Sinne Mannheims als „planende“ Eingriffe in die Gesellschaft zu verstehen sind.
- Manifestation bewährter Prozesse und Verzicht auf staatliche oder gesellschaftliche Experimente, deren Ausgang nicht auf Grundlage sachlicher Beurteilung im Sinne des Kant’schen Vernunfttheorems nachvollziehbar und erkennbar sind.
- Ablehnung jeglicher Überwindung bewährter gesellschaftlicher Normen und Prozesse durch Zielvorstellungen irrealer Weltanschauungskonzeptionen.
Der Nicht-Konservatismus der Kramp-Karrenbauer
Werfen wir nun den Blick auf Kramp-Karrenbauers Eigendefinition, so wird jenseits ihres bereits dargelegten, irrigen „Rechts“verständnisses unverkennbar, dass mindestens zwei ihrer Selbstdefinitionen kaum etwas mit konservativen Vorstellungen zu tun haben:
- Konservativ bedeutet nicht, dass jemand, der hart arbeitet, einen „Mindestlohn braucht“. Denn eine solche Vorgabe ist bereits ein Schritt in die geplante Demokratie, die den Weg in die totalitäre Gesellschaft ebnet. Die staatliche Vorgabe eine Mindestlohns ist nicht nur ein illiberaler Eingriff in die Autonomie der Selbstbestimmung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer – sie produziert auch zwangsläufig jene Instrumente der Gängelung, welche unverzichtbar sind, um die gesellschaftliche Umsetzung des geplanten Demokratieeingriffs zu kontrollieren und damit zu gewährleisten.
- Konservativ bedeutet nicht, durch staatliche Maßnahmen „eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu machen, damit Familien noch Zeit haben für ihre Kinder“. Konservativ bedeutet vielmehr, die Freiräume zu schaffen, die ein solches ermöglichen – dieses also nicht zu behindern. Spätestens in dem Moment, wo aus einem Angebot freier Träger ein staatliches wird, welches zwecks Funktionalität zur staatlich präferierten Regel und darüber möglicherweise zum staatlich durchgesetzten Zwang beispielsweise einer von der Familie abgekoppelten Kindeserziehung wird, ist dieses alles andere als konservativ.
Die planenden Eingriffe der Politik
Beide Ziele sind als staatlich verordnete Ziele oder Aufgaben planende Eingriffe in die Demokratie. Sie werden notwendig zur Überwindung derselben führen und stehen damit sowohl als auch im Widerspruch zu einer konservativen Einstellung. Dass dieses auch auf zahlreiche andere Maßnahmen zutrifft, mit denen der Staat aktuell seine Wirkungshoheit über das Individualrecht des Bürgers stellt, sei hier nur als Randnotiz bemerkt. Hier geht es um die Definition seitens Kramp-Karrenbauer als Vorsitzende einer einstmals konservativen Partei, nicht um eine Generalkritik.
Wo Kramp-Karrenbauer noch konservativ ist
Zuzustimmen ist der CDU-Vorsitzenden bei ihrer Definition, die Gewährleistung von Sicherheit und Recht sei durch den Staat zu schützen. Hierbei handelt es tatsächlich um ein urkonservatives Anliegen, da ohne dieses der Bestand des Staatswesens nicht zu gewährleisten wäre. Gleichzeitig jedoch darf jener Hinweis darauf, dass „der Staat“ sich nicht „auf der Nase herumtanzen lässt“, nicht bedeuten, hieraus den Anspruch einer restriktiven, in die grundgesetzlich verankerten Individualrechte der Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit eingreifenden Planung von Demokratie ableiten. Konkret bedeutet dieses, das jegliche Strafgesetzgebung ebenso wie jeglicher Einsatz staatlicher Instrumentarien unter dem Aspekt der Vermeidung der „planenden Demokratie“ zu erfolgen hat. Jegliche Gesetzgebung, die den Bürger zu einem bestimmten Handeln auf der Grundlage staatlicher Vorgabe zwingen will, widerspricht dem konservativen Grundansatz.
Zuzustimmen ist Kramp-Karrenbauer auch, wenn sie den Bestand einer „einsatzfähigen Bundeswehr“ als konservatives Anliegen fordert. Fraglich jedoch kann dieses werden, wenn der als konservativ beschriebene Einsatz für einen „Weltfrieden“ als Passion missverstanden werden sollte. Der Konservative sollte spätestens nach den Erfahrungen der vergangenen rund 100 Jahre unter dem Aspekt seiner systemerhaltenden Prämisse durchaus ein Interesse an einer friedlichen Welt haben. Gleichwohl bleibt dennoch sein Hauptaugenmerk auf die eigene Gesellschaft gerichtet in der Erkenntnis, dass der eigene Einfluss nicht in der Lage sein wird, eben einen solchen Weltfrieden zu erreichen. Hier also hat Kramp-Karrenbauer mit dem Wort „einsetzen“ tatsächlich den zutreffenden Begriff gefunden. Alles darüber hinaus mag Anliegen systemüberwindender Kräfte sein – konservatives Anliegen ist es nicht.
AKK ist keine Konservative
Fassen wir die Darlegungen zusammen, so bleibt die Erkenntnis unvermeidbar, dass Annegret Kramp-Karrenbauer keine Konservative ist. Vielmehr basiert ihr Weltbild und Gesellschaftmodell unabweisbar auf jenen sozialistischen Bestrebungen, die seit geraumer Zeit unter dem Dach der Union als christliche Soziallehre ihren Raum hatten. Hieraus schöpft sie das vermeintliche Recht, eine im Sinne Mannheims „planende Demokratie“ zu entwickeln, welche den liberalen Aspekt des Bürgerlichen unter der Prämisse der Individualität durch den sozialen Aspekt des Kollektiven ersetzt.
Innerhalb der Union steht sie damit nicht allein – vielmehr hat ihre Wahl zum Unionsvorsitz vor knapp einem Jahr verdeutlicht, dass die CDU insgesamt diesen Weg in die planende Demokratie präferiert. Damit aber setzt sie tatsächlich jene Konservativen frei, welche ursprünglich unter ihrem Dach beheimatet waren und welche an ihren liberalbürgerlichen Prämissen festhalten und den Einfluss letztlich transzendenter Gesellschaftserwartungen in der Politik ablehnen. Gleichzeitig erklärt diese als „Linksverschiebung“ der Union beschriebene Entwicklung den Niedergang der SPD. Sie wird zerrieben zwischen der nicht mehr zu treffenden Entscheidung zwischen einem sozialen Konservatismus, den beispielsweise ein Helmut Schmidt als Sozialdemokratie verstanden hat, und einem sozialistischen Kollektivismus, wie ihn Ralf Stegner und andere führende Sozialdemokraten der Gegenwart anstreben.
Die Umwandlung der Gesellschaft
Die tatsächliche Trennschärfe liegt in der Frage, ob die bürgerliche, also konservativ-liberale Demokratie durch eine planende überwunden werden soll. Kramp-Karrenbauer hat sich als Vertreterin der katholischen Soziallehre für Letzteres entschieden. Die SPD, folgt man ihrem demokratieplanerischen Aktionismus, ebenso. Von den Grünen müssen wir in diesem Zusammenhang nicht sprechen – ihr Politikmodell basiert ausschließlich auf den Vorstellungen einer geplanten Demokratie. Und die als Linkspartei getarnten Kommunisten hatten niemals etwas anderes im Sinn als ein geplantes Gesellschaftsmodell. Demokratie wird in diesem Gesellschaftsansatz dafür nicht mehr benötigt.
Stellen wir als Fazit fest: Es wird einsam um Konservative und Liberale. Ihr freiheitliches, vor staatlicher Bevormundung geschütztes Gesellschaftsmodell eines sich zurückhaltenden Staates ist nicht mehr en vogue. Und vielleicht ist es tatsächlich so, dass die Vorstellung eines freien, selbstbestimmten Individuums in einem sich auf seine Kernaufgaben beschränkenden Staat nur ein kurzer Lichtblitz der menschlichen Entwicklungsgeschichte gewesen ist – irgendwann im 18. Jahrhundert aufgeflammt und bereits im 20. Jahrhundert wieder erloschen.